Auszug aus: Klaus
Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 161 ff.
(Zurück zum vorangehenden Unterkapitel: Erlösung durch Diskurs)
Die
Diskurstheorie scheitert aber nicht nur theoretisch an inneren Widersprüchen,
sie scheitert auch praktisch daran, daß Menschen die Kommunikationsmacht
gnadenlos funktionalisieren wie jedes Herrschaftsinstrument. Gerade
die allgegenwärtige Mediengesellschaft mit ihren technisch fast
perfekten Kommunikationsmöglichkeiten zeigt die systemischen Grenzen
kommunikativen Verhaltens und die jedem kommunikativen Verhalten
eigenen Herrschaftsmechanismen auf: Wer kommuniziert und die Verfügungsmacht
über die Kommunikationsmittel besitzt, hat gewöhnlich kein Interesse
mehr daran, unbeschränkt viele andere an dieser Verfügungsmacht
über die Kommunikationsmittel und damit am Diskurs teilhaben
zu lassen. Der bekannte Topos der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel
wich der modernen Verfügungsgewalt über die Kommunikationsmittel.
Heute ist die Medienwelt mit ihrer perfekten Technizität und Fähigkeit
umfassender Kommunikation vor allem eine Einbahnstraße: Die Verfügungsgewaltigen
über die Kommunikation entscheiden darüber, wer aktiv mit kommunizieren
darf und wer der Kommunikation nur passiv als Zuschauer, Zuhörer
oder Leser unterworfen ist.
Die
Zunft der Kommunikatoren sitzt an den Hebeln der Medienmacht und
entscheidet im wesentlichen schrankenlos über die Inhalte der nur
angeblich totalen Kommunikation. Von Kommunikation kann aber
hier tatsächlich nicht die Rede sein, weil der Begriff Wechselseitigkeit
voraussetzt. Je umfassender die technischen Kommunikationsmöglichkeiten
werden, um so einseitiger wird die Kommunikation tatsächlich:
Der Diskurs zwischen dem Podium und den Zuschauern in der ersten
Reihe ist eine Einbahnstraße. Resonanz und Diskurs sind nicht gefragt
und unerwünscht. Die totale Kommunikationsgesellschaft trägt
heute eher die Züge des Orwell'schen großen Bruders als die eines
universitären Kolloquiums. Lassen wir uns nicht von einer Scheinpluralität
täuschen, wenn in endlosen Talkschauen oder Studiodiskussionen
Nurliberale mit Linksliberalen gegen Altliberale für libertäre Liberale
streiten. Über die weltanschaulichen Grundfragen ist man sich allemal
einig. Wann immer solche Diskurskomödien aufgeführt werden,
bleibt man unter sich. Wer auftreten darf, ist eine hinter den Kulissen
vorentschiedene Machtfrage.
Nach
Robert Dahl
besteht die Hauptgefahr aber "in der technokratischen
Variante eines durch Wissensmonopole begründeten Paternalismus.
Der privilegierte Zugang zu den Quellen des relevanten Steuerungswissens
ermögliche eine unauffällige Herrschaft über das mediatisierte,
von diesen Quellen abgeschnittene, mit symbolischer Politik abgespeiste
Publikum."
[1]
Wie in Orwells
Roman 1984 entscheidet über die vom Zuschauer gebildete Meinung, wer
ihm über Jahre und Jahrzehnte hinweg immer dieselbe Sorte von Informationshäppchen
serviert. Volkspädagogisch Unerwünschtes wie die Nationalität
von Straftätern wird am liebsten ausgeblendet. Ein diffuser Brei
von Teilinformation und Moralpredigt hilft vorsichtshalber nach,
wo begriffsstutzige Zuschauer die Moral von der Geschicht' vielleicht
nicht von allein begreifen. Wie sich das Bild auf der Mattscheibe
aus Tausenden von Bildpunkten zusammensetzt, so fügen unsere
Fernsehsender ein Weltbild zusammen aus unzähligen sorgfältig
ausgewählten Meldungen. Abgerundet wird es durch ein politisch
korrektes Medien-Neudeutsch: Es blendet Störendes aus, indem es
Worte tabuisiert und neue Euphemismen bildet. Wer das Böse schließlich nicht mehr sprechen darf, soll es am Ende auch nicht
mehr denken können.
Die
Kaste der Kommunikationsmächtigen bildet bereits ein innergesellschaftliches
Subsystem, das selbstreferentiell ist und nur noch seinen eigenen
Gesetzen gehorcht. Man kommuniziert untereinander und reagiert:
Wenn heute ein Artikel in der taz steht, folgt morgen ein Kurzbeitrag in der Frankfurter Rundschau;
ein heutiger Artikel im Spiegel wird morgen ausgewalzt in Monitor. Epizentrisch verbreiten sich Skandale und Stories nach medieneigenen
Gesetzen, die von der Realität weitgehend abgekoppelt sind und
in ihrer medialen Scheinbedeutung nichts mehr mit dem wirklichen
Geschehen zu tun haben müssen. Wenn, mit den Worten Schrenck-Notzings,
für den Medienzuschauer die Ikone Fernsehen die Realität ersetzt
- wer vor dem Kanzleramt auffährt, ist wirklich, wer nicht auffährt,
den gibt es einfach nicht
[2]
- dann ist dies das Gegenteil von
Diskurs. Es gibt die Diskurstheorie, jedenfalls wenn man sie als
Beschreibung der Realität verstanden wissen wollte, der Lächerlichkeit
preis. Nichts, aber auch gar nichts, deutet darauf hin, daß das irreale
und letztlich utopische Moment der Kommunikationstheorie jemals
von der Wirklichkeit eingeholt werden könnte. Technik, Kommunikation
und Diskurs sind heute Mittel der Herrschaftssicherung, und solche
Mittel haben sich die Herrschenden nach aller Erfahrung noch nie
freiwillig aus der Hand nehmen lassen.
So
ist es ein gezieltes Politikum, wer mit wem redet - reden darf! Anders
als nach den Voraussetzungen der Kommunikationstheorie ist der umfassende
Diskurs jedes mit jedem keineswegs selbstverständlich. Die Verfügungsmacht
über die Massenmedien wird instrumentiert, um mißliebige Meinungen
auszuschließen und die Schlagkraft der eigenen dadurch zu erhöhen,
daß der Zuschauer keine grundsätzlich abweichende Ansicht erfährt.
Man redet zwar über prinzipielle Dissidenten, aber nicht mit ihnen.
Das gilt für alle politischen Lager: Daß autonome Antifaschisten
in ihren Broschüren die Losung ausgeben, mit "Faschisten"
nicht zu reden, ist noch allgemein bekannt. Aber auch staatlich bestallte
Hüter der Demokratie und Toleranz wie Jesse empfehlen ungeniert,
sogenannte Extremisten "notfalls von der Diskussion auszuschließen."
[3]
Nach
weitgehender Auflösung oder Denaturierung aller staatlichen Institutionen,
in denen ein gesamtgesellschaftlicher Willensbildungsprozeß durch
Diskussion wirklich stattfindet, fehlt es auch praktisch an einem
Ort, an dem gesamtgesellschaftlicher Diskurs sich fokussieren, bündeln
und zu einer von allen tatsächlich getragenen Entscheidung verdichten
kann. Empirische Evidenzen drängen den Systemtheoretiker "Teubner
zu Annahmen, welche die Theoriearchitektonik, um die es ihm geht,
zerstören. In einer vollständig dezentrierten Gesellschaft bleibt
ja für eine gesamtgesellschaftliche Kommunikation, für die Selbstthematisierung
und Selbsteinwirkung der Gesellschaft im ganzen, kein Ort übrig,
weil sie zentrifugal in Teilsysteme auseinandergefallen ist,
die nur noch in ihrer eigenen Sprache mit sich selbst kommunizieren
können."
[4]
Damit muß Habermas
sich zwangsläufig auseinandersetzen, weil die Richtigkeit der kommunikativen
Theorie die Grundannahme Habermas' zu Fall bringt, nach der es
so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Kommunikation und daraus
folgend eine Legitimierung auf demokratisch-kommunikativer Grundbasis
gibt. Habermas' Behauptung ist eine Chimäre
, es gebe einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, aus dem Vernunft,
Wahrheit oder Recht hervorgehen.
In
den ausweislich aller Meinungsumfragen die Öffentlichkeit bewegenden
Fragen findet tatsächlich ein offener, das heißt allen potentiellen
Diskutanten zugänglicher Diskurs nicht statt. Die etablierten Kräfte
des Parteienstaates und der Mediengesellschaft haben nicht im
geringsten die Absicht, ihre gesellschaftlichen und staatspolitischen
Grundentscheidungen von irgend jemandem in diskursiven Zweifel
ziehen zu lassen. Unbequeme Ansichten werden systematisch unterdrückt,
stigmatisiert und wo möglich mit Strafe bedroht. Dies gilt beispielsweise
für an sich nachprüfungsfähige Fakten der jüngeren Zeitgeschichte.
Eine Diskussion über den Vertrag von Maastricht mit dem Ziel einer
Entscheidung über das Ob der Ratifizierung hat ebenso wenig stattgefunden,
wie keine Diskussion über die Frage der Aufenthaltsberechtigung
für Millionen Ausländer in Deutschland mit dem Ziel stattfindet,
über das Ob dieses Aufenthaltes auch nur ein Wort zu verlieren.
Die Entscheidungen sind alle längst getroffen, und es gibt allenfalls
noch eine Diskussion über das Wie innerhalb der selbstreferentiellen
Entscheidungsgremien des Innenlebens des Parteienstaates: Das
ewige Selbstgespräch ersetzt das ewige Gespräch - immer dasselbe
gespenstische Murmeln und Raunen der unendlich sich drehenden
staatlichen und medialen Gebetsmühlen.
Tatsächlich
nehmen große Bevölkerungsgruppen an Habermas'
gesamtgesellschaftlicher Kommunikation nicht teil. Sie können
sich daher in die gesamtgesellschaftlich entstehende Vernunft
nicht einbringen. Im Endeffekt erzeugt auch der Liberalismus
mit seinem immerwährenden Gespräch in der totalen Kommunikationsgesellschaft
eine Art von Ordnung. Es handelt sich dabei um keine Ordnung der
Ausgewogenheit, sondern um eine Ordnung, in der - wie in jeder
Ordnung - die einen oben sind und die anderen unten; und die dritten
sind am Ende überhaupt nicht vorhanden. Kein ungeborenes Kind kann
sein Leben in die Waagschale der totalen Kommunikationsgesellschaft
werfen, kein altes Mütterchen, keine alten Kranken und Schwachen,
nicht die vielen Sprachlosen und Dummen, die weder die Fähigkeit
noch Lust haben, überhaupt mit einem anderen zu kommunizieren.
Alle sie sind ausgegrenzt und kommen mit ihrem Bedürfnissen in
der Kommunikationstheorie überhaupt nicht vor.