Der
Gedanke, auch nur ein einziger Mensch könne der Möglichkeit
beraubt werden, seine Meinung zu äußern, versetzt den
Liberalen in eine Art "unerklärlicher Unruhe, weil
er sich sagt, daß dieser womöglich der Wahrheit am nächsten
gekommen wäre."
[1]
Das Bedürfnis nach Pluralität
der Meinungen und Lebensentwürfe ist für den philosophischen
Liberalismus geradezu konstitutiv. Er läßt die verschiedenen
Ansichten nicht nur zu, seine Liberalität ist nicht Selbstzweck,
sondern Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer
als immerwährender Prozeß verstandenen Wahrheitsfindung.
Ganz im Sinne dieser auf das 18.Jahrhundert zurückgehenden
vernunftgläubigen Denktradition fordert Habermas:
Die politischen Verfahrensbedingungen müßten idealerweise
sicherstellen, "daß alle zur Zeit themenspezifisch
verfügbaren relevanten Gründe und Informationen vollständig
zum Zuge kommen."
[2]
"Redefreiheit, Preßfreiheit,
Versammlungsfreiheit, Diskussionsfreiheit sind also
nicht nur nützliche und zweckmäßige Dinge, sondern
eigentlich Lebensfragen des Liberalismus."
[3]
Auch
Habermas kann nicht auf diese Wertsetzungen verzichten, wenn er die
Verfahrensbedingungen für den Diskurs sichern will. Er kaschiert
sie aber noch verschämt als "intuitive Einsichten": als
einen "Datenkranz, der dem Problematisierungssog der Verständigungsprozesse
entzogen bleibt." Seine liberalen Glaubensbrüder in Amerika
treten schon weit forscher auf. Habermas ist sich der Aporie der
Wertsetzung "unter nachmetaphysischen Bedingungen"
noch bewußt. Dagegen haben amerikanische Liberale keine Schamschwelle.
Sie propagieren offen den intoleranten, den "inklusiven Liberalismus."
Weil ein Liberalismus, der sich inhaltlich ernst nimmt, die pluralistische
Vielfalt der Glaubens- und Lebensentwürfe konstitutiv benötigt,
will der amerikanische Liberale John Rawls
[4]
die antagonistischen Geister daher
notfalls herbeibeschwören. Wenn die Pluralität der Meinungen,
Lebensentwürfe und Denktraditionen sich nicht von selbst einstellt,
muß sie notfalls durch Einwanderung erzeugt werden. Wer das hierzulande
praktisch durchführt, dem geht es aber bald wie Goethes Zauberlehrling:
Die nach Deutschland gerufenen Geister beispielsweise tragen nämlich
Kopftücher und beten - und sie glauben nicht an die pluralistische
Harmonielehre.
Reden
wir nicht von Christen, die nicht zur Kirche gehen, biertrinkenden
Moslems oder Liberalen, die ihre politischen Gegner nicht zu Wort
kommen lassen. Die echten Christen, Moslems und Liberalen glauben
an ihre Götter, die Ordnung ex
nihilo schufen. Wie Donoso
idealtypisch formulierte, hielt diese durch den Katholizismus
im Menschen Einzug und durch den Menschen in die Gesellschaften.
Religion und Politik sind eins. Ebenso der indische Muslim Abul
Ala al-Maududi:
"Selbst in Bagatellangelegenheiten kann es keine Übereinstimmung
von Islam und Demokratie geben, weil sie sich einander diametral
widersprechen."
[5]
Menschen könnten aus eigener Vollkommenheit
über sich selbst herrschen, gilt dort als reinste Gotteslästerung.
Bassam Tibi
wird nicht müde, hervorzuheben, daß der sogenannte Fundamentalist
ein homo politicus und
nicht homo religiosus ist.
[6]
Das
wurde selbst dem Bundestagsvizepräsidenten Klose
unheimlich, und nach einer Meldung vom 3.2.1995 sorgte er sich über
die Gefahr, "die unserer Zivilisation und der durch die Aufklärung
geprägten Kultur von seiten der Fundamentalisten droht."
[7]
In Frankreich habe es auch mit dem
Streit um Kopftücher von Schülerinnen angefangen. Doch auch Klose
kann es nicht ändern: Treiben wirs multikulturell, dann treiben uns
diejenigen Kultis das Multi schnell wieder aus, die an Multikulti
nicht glauben. Der inklusive, also konsequente Liberalismus erzeugt
selbst die Ursache seiner eigenen Aufhebung. Er will allen einander
widersprechenden Lebensentwürfen und Glaubensrichtungen und Ideologien
eine Heimstatt bieten, um die gewünschte Balance zu erzielen. Unter
ihnen sind die meisten überhaupt nicht liberal und pluralistisch
und erkennen nur eine Ordnung unter Ausschaltung der übrigen an.
Sobald die antipluralistischen Ideologien im Innern des liberalen
Gemeinwesens erst stark genug sind, werden sie ihn mitsamt seiner
ausbalancierten Pluralität beseitigen. Sollte der Liberalismus
sich dagegen aber wehren und die Vertreter einförmiger Ordnungen
an ihrer Machtergreifung hindern und sie somit ins pluralistische
System zwingen, hebt er seine eigenen Voraussetzungen auf. Eine
Ordnungsidee läßt sich nämlich nur unterdrücken, nicht aber zum
folkloristischen Zierat mißbrauchen. Pluralismus läßt sich nicht
dauernd durchsetzen, weil die Ausschaltung der antipluralistischen
Gegner den Pluralismus selbst aufhebt. Klose
hat recht: Allah oder Liberalismus - Es kann nur einen geben!
Der
inklusive Liberalismus ist ein dogmatischer Liberalismus, der vor
diesem Problem zum Bewußtsein seiner selbst gekommen ist. Er hat erkannt,
daß ein konsequent toleranter Liberalismus sich durch die bekannte
Paradoxie in seinen Konsequenzen aufhebt. Er verharrt nicht in der
defensiven Haltung des Toleranten, der sich beim Intolerantsein
ertappt fühlt. Offensiv verkündet er diejenigen Wertsetzungen
als Glaubenswahrheiten, deren er zu seiner Selbsterhaltung bedarf.
Zu diesen funktional benötigten Wertsetzungen zählen zu allererst
die Pluralität im allgemeinen und die garantierte Möglichkeit,
verschiedene Meinungen zu haben, verschiedenen Glauben zu praktizieren
und völlig unterschiedliche Lebensentwürfe zu praktizieren im besonderen.
Darum braucht der inklusive Liberalismus das Multikulturelle
als Strukturprinzip. Bisher hat er allerdings noch nicht plausibel
machen können, worin eigentlich unter seiner Geltung die Freiheit
für alle diejenigen Andersgläubigen besteht, die offenbar eine Art
folkloristische Staffage für multikulturelle Happenings bilden
dürfen, ihrem Glauben aber zwangsläufig abschwören müssen, wenn
es ernst wird. Was macht der Multikulturalist mit dem fundamentalistischen
Moslem, der Multikulti für Teufelszeug hält und daraus die ihm
von seinem Glauben befohlenen praktischen Konsequenzen zieht? Was
macht er mit dogmatischen Marxisten, was mit kreischenden Emanzen,
was mit den todeswütigen Lebensschützern, die jüngst in den USA
zum Schutz "des Lebens" Abtreibungsärzte erschossen?
Alle
diese Andersdenkenden sind nämlich auch Andershandelnde und nicht
nur harmlose Blümchen im liberalen Beet. Ihre Freiheit zur Gewalt
und die Freiheit des Liberalen zur Diskussion sind miteinander unvereinbar.
Erhebt der liberale Pluralismus den Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit,
negiert er die Freiheit aller Nichtpluralisten und erklärt allein
sich selbst für wahr.
[8]
Diese werden sich das nicht bis zum
Ende des ewigen Gesprächs gefallen lassen. "So lange, bis der
Mensch seine Natur verändert, muß sich die Gewalt stets gegen die
Diskussion auflehnen, wenn die Gewalt groß und die Rede klein ist.
Noch notwendiger muß dies geschehen, wenn die Diskussion das Chaos
gebiert, wie dies jederzeit ihr letztes Attribut ist."
[9]