Die
Humanitätsideologie ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was
unseren heutigen Liberalismus ausmacht. An ihr entzündet sich all'
sein Pathos, sie ist sein Rammbock und seine Monstranz zugleich.
Gehlen
bezeichnete als Humanitarismus die zur ethischen Verpflichtung
gemachte unterschiedslose Menschenliebe und wies ihre Herkunft
aus pietistisch-christlichen Quellen nach: Im Zuge der Aufklärung
habe sich bei den meisten Menschen an der Stelle, die früher ein
transzendenter Glaube eingenommen habe, ein "emotionaler
Hohlraum" entwickelt.
[1]
Die Religion, vor allem die protestantische,
tendiert seitdem nach Beobachtung Russell Kirks
[2]
zum Pelagianismus. "Der irische
Mönch Pelagius
verwarf im 5. Jahrhundert die Erbsünde und lehrte die Freiheit
der menschlichen Natur zum Guten. So denkt der Pelagianer, nach
Kirk, daß Glück durch Freundlichkeit, durch Anpassung an die Gemeinschaft
und materielle Verbesserungen erreicht werde, und in nationalen
wie internationalen Angelegenheiten werde alles gut gehen, wenn
die Menschen ihre Interessen im Geist guten Willens erörtern und
ausgleichen wollten."
[3]
Wir erkennen leicht, wie bruchlos
sich schon damals die Versatzstücke des Glaubens an den guten
Menschen und die Überzeugung, harmonische Eintracht könne in
jedem Fall durch gutwillige Gespräche erreicht werden, zu dem Komplex
einer Ersatzreligion zusammenbacken ließen. Die liberale ging
bruchlos aus aufklärerisch-schwärmerischen Theologenkreisen
des 18. Jahrhunderts hervor, denen wie Pelagius
"das Bild einer konstanten und berechenbaren menschlichen
Natur" vorschwebte, "die sich ohne weiteres mit den ebenso
unveränderlichen Vernunftprinzipien verbinden ließ."
[4]
Während
die Theologen ein
dualistisches Weltbild hatten und das Göttliche außerhalb des Menschen
im Jenseits suchten, verlegten es monistische Metaphysiker in
den Menschen: Sie schrieben der Natur des Menschen bisher Gott vorbehaltene
Prädikate zu wie die Sittlichkeit, die Freiheit und die Humanität
und erhoben statt Gott eine bestimmte Idee vom Menschen in den
Rang religiöser Verehrung. Jedem erlegten sie mit den Worten Stirners
die moralische Pflicht auf: "Du sollst ein ganzer, ein freier
Mensch sein." So proklamierten sie eine neue Religion, ein neues
Absolutes, ein Ideal, nämlich die Freiheit. Wie die Christen Missionare
ausgesandt hatten, weil die Menschen Christen werden sollten, so
erstanden jetzt Missionare der Freiheit. Diese könnte dereinst, sah
Stirner
1844 voraus, "wie bisher der Glaube als Kirche, die Sittlichkeit
als Staat, so als eine neue Gemeinde sich konstituieren und von
ihr aus eine gleiche 'Propaganda' betreiben." Könne man das
neue Ideal finden, gäbe es eine neue Religion, "ein neues Sehnen,
ein neues Abquälen, eine neue Andacht, eine neue Gottheit, eine neue
Zerknirschung. Mit dem Ideal der 'absoluten Freiheit' wird dasselbe
Unwesen getrieben, wie mit allem Absoluten, und nach [Moses] Heß
z.B. soll sie »in der absoluten menschlichen Gesellschaft realisierbar
sein.«"
[5]
Die
neue Religion ist für ihre Priester so nutzbringend wie jede Religion.
Eine freihändlerisch inspirierte Menschenrechtsmoral kann einen potentiellen
Angreifer friedlich und harmlos machen - fett und impotent, wie
Churchill
über seine Wunschdeutschen zu sagen beliebte. Sie taugt auch, je
nach dem, wer sie benutzt und wie er sie wendet, hervorragend zur
Begründung moralisierender Kreuzzüge. So steht der polemisch funktionalisierte
Begriff der Menschenrechte in einem Spannungsverhältnis zu ebenso
polemisch benutzten Begriffen derjenigen Menschengruppen, die
nicht unter Berufung auf Menschenrechte militärische Interventionen
dulden möchten. Sie setzen der ideologischen Berufung auf die
Menschenrechte die ebenso ideologische Berufung zum Beispiel
auf das Selbstbestimmungsrecht oder das Recht auf Nichteinmischung
in die inneren Angelegenheiten entgegen. Soweit sich die Menschenrechte
als Legitimation militärischen oder ökonomischen Druckes international
durchsetzen, "stufen sie damit notwendigerweise Ideologeme
wie Souveränität zu lokalen Phänomenen herab und begrenzen
sie auf Submilieus."
[6]
Wie
der Einzelmensch ist auch ein Volk unfrei, wenn es nicht an seine
eigenen Götter glaubt, an seine eigene Moral, an sein eigenes Recht.
"Rom stürzte", bemerkte Donoso
1851, "weil seine Götter stürzten; seine Herrschaft endete,
weil seine Theologie ein Ende nahm."
[7]
Das hatte schon Heraklit
gewußt: Ein Volk solle um seinen Nomos kämpfen wie um seine Mauern.
Die geistige Integrität einer Gruppe ist so wichtig wie seine physische.
Dieser "Begriff umfaßt natürlich die Traditionen und Überlieferungen
eines Verbandes ebenso wie seine Ehre, und ein Volk gewaltsam von
seiner Geschichte abzutrennen oder zu entehren bedeutet dasselbe,
wie es zu töten."
[8]
In diesem Sinne bemerkte Gehlen
zum Zusammenhang zwischen dem Anspruch einer Nation auf ihre eigene
Moral und ihrer Selbstbehauptung: "Es ist die bedeutendste
geschichtliche Leistung einer Nation, sich überhaupt als eine so
verfaßte geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist
sie nicht geglückt. Die Selbsterhaltung schließt die geistige Behauptung
und das Bekenntnis einer Nation zu sich selbst vor aller Welt ebenso
ein, wie die Sicherheit im großpolitischen Sinne, und diese besteht
in der Macht eines Volkes, den physischen wie den moralischen Angriff
auf sich unmöglich zu machen."
[9]
Wenn wir diese Zusammenhänge erst
einmal durchschaut haben, erblicken wir in jedem Versuch, uns eine
fremde Ideologie aufzuzwingen, einen frechen Angriff auf unser
Interesse an kollektiver Selbsterhaltung. In "alter wie
in neuer Zeit" sind "die Künste der Verführung und der sittlichen
Herabwürdigung der Unterworfenen als ein Mittel der Herrschaft mit
Erfolg gebraucht worden. Man hat durch lügenhafte Erdichtungen
und durch künstliche Verwirrung der Begriffe und der Sprache die
Fürsten vor den Völkern und diese vor jenen verleumdet, um die
Entzweiten sicherer zu beherrschen. Man hat alle Antriebe der Eitelkeit
und des Eigennutzes listig aufgereizt."
[10]
So
hatten es die westlichen Besatzungsmächte nach 1945 erfolgreich
unternommen, den deutschen Volkscharakter durch ein Bündel von
Maßnahmen zu verändern, an deren Ende die Auswechselung unerwünschter
kollektiver Wertentscheidungen durch eine den Alliierten zuträglichere
Moral stand. Sie nahmen sich das Recht zur "gewaltsamen Auferlegung
ihrer eigenen politischen Ideologie."
[11]
Planung und Ausführung lagen bei
dem durch die Militärregierung eingesetzten ICD Screening
Center unter Leitung des New Yorker Psychiaters David Mardochai
Levy,
einem führenden Psychoanalytiker. Als gefährlich beseitigt werden
sollten "Disziplin, Ordnung, Sauberkeit und Männlichkeit"
als die "vier Prinzipien der deutschen Erziehung, auf denen
dann auch der deutsche Staat errichtet wurde."
[12]
Diese zunächst besatzungshoheitlichen
Maßnahmen wurden zum Selbstläufer: Die Agitation hatte so durchschlagenden
Erfolg, daß sie sich bis heute tagtäglich in den Medien und Schulen
fortsetzt.
"Ein
Volk ist er dann besiegt," formulierte Carl Schmitt
schon vor der alliierten Besetzung Deutschlands, "wenn es sich
dem fremden Vokabularium, der fremden Vorstellung von dem, was
Recht ist, unterwirft. Dann kommt zu der Ablieferung der Waffen
noch die Ablieferung des eigenen Rechts hinzu. In der heutigen
Lage Deutschlands hängt alles davon ab, den Schleier der Worte und
Begriffe, der Juridifizierungen und Moralisierungen zu durchschauen,
nicht in hämischer Kritik, aber auch nicht in dienstfertiger Unterwerfung
unter fremde Begriffe und Forderungen 'moralischer Abrüstung',
die nichts weiter sind als Instrumente fremder Macht."
[13]
Wenige haben den Zusammenhang zwischen
Macht und Moral so durchschaut. Der Besiegte soll an eine Änderung
der Siegermoral noch nicht einmal mehr denken dürfen. Die erfolgreich
Umerzogenen können es bereits nicht mehr. Umfragen zufolge hielten
sich 50 Jahre nach Kriegsende 70% der Deutschen für "befreit"
und nicht für besiegt. "Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung
in Deutschland trägt alle Züge einer kollektiven, ins Wahnhafte
gehenden Umdeutung." Diese setzt psychiatrischer Ansicht
nach "ein ungeheueres Aggressionspotential" frei, das
durch den "Prozeß von Sprachregelung, Verdrängung, 'Kreidefressen'
entsteht. Solche Emotionen drängen zum Ausbruch, und sie tun es
oft in roher Gewalt."
[14]
Überall
in Medien und im Bildungswesen herrscht heute dieselbe pseudohumanitaristische
Egalitätsideologie. Ihre Moral wird uns auf den konkreten Gebots-
und Verbotstafeln entgegengehalten, wo und wann immer wir uns auf
unsere eigenen Interessen besinnen möchten. Diese Ideologie ist
heute die ganz herrschende, und darum können wir sie nicht einfach
beseitigen, indem wir ihren Gläubigen unseren Glauben entgegenhalten.
In offenem Kräftemessen Fundamentalismus gegen Fundamentalismus
ist der moralisierende Lichterkettenliberalismus nicht zu
besiegen, solange er über alle Machtmittel der Kommunikationsgesellschaft
verfügt. Gegen die in moralisierender Form vorgetragene
Zumutung eines fremden Machtanspruchs hilft nur Mut zur geistigen
Freiheit. So hoffte auch Carl Schmitt
- "dem mundialen amerikanischen Interventionsanspruch antwortend
-
...
daß »die Erde immer größer bleiben wird als die Vereinigten Staaten
von Amerika und daß sie auch heute noch groß genug ist für mehrere
Großräume, in denen freiheitsliebende Menschen ihre geschichtliche,
wirtschaftliche und geistige Substanz und Eigenart zu wahren und
zu verteidigen wissen.«
[15]
Eine Hoffnung, das war Carl Schmitts
letzte Position."
[16]