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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 182 ff.
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Entideologisierung und Reideologisierung

Wie Wertbegriffe innerhalb einer Gesellschaft dem Machtan­spruch des Indivi­duums gegenüber seiner unmittelbaren Umwelt dienen, so dienen sie konkreten Kollektiven, Völkern, Staaten und Staaten­bünd­nis­sen also, gegen kon­kurrierende Kollekti­ve zur Abstützung von Gel­tungsansprüchen. Ideolo­ge­me wie Frei­handel, Frei­heit der Meere, Sou­veränität, Selbstbe­stimmungs­recht, gerechter Krieg oder Men­schen­­rechte haben im Völkerverkehr immer ei­nen be­stimm­ten po­le­mi­schen Sinn und die Funktion, konkrete Machtan­sprü­che zu be­gründen und eigenes Verhal­ten von Personengruppen zu legi­timie­ren. Über­in­di­­viduell gesehen sind Normen mit den Worten Kondylis' Ver­­klei­dun­­gen der mit dem kollektiven Selbsterhaltungstrieb zu­sam­men­hän­gen­den Fak­toren. "My­then, Religionen und Ideologien sind im Grun­­de kol­lektive welt­­an­schauliche Entscheidungen. Solche sind mög­­­lich, weil be­stimmte kon­kre­te Lagen dazu geeignet sind, mehrere In­­di­vi­duen gleichzeitig in eine mehr oder weniger einheitliche Per­spek­­tive gleich­sam hinein­zuzwin­gen." [1] Selbst Habermas bemerkt ganz rich­tig, daß wir aus solchen kol­lek­tiven Perspektiven "für uns ab­­­so­­lu­te Ziele einer authentischen Le­bensfüh­rung" sehen. Das Be­wußt­­­sein kol­lek­­tiver Identität, "in de­nen die Angehöri­gen emphatisch »Wir« sa­­gen kön­nen" [2] , kann auf dem ausgesprochenen Bewußtsein ei­­­ner ge­mein­­sa­men Wert­ent­schei­dung beruhen. Ohne Mythos kann kein Volk ge­­deihen, weil sei­ne Mas­sen keine volunta­ristischen Ro­man­­­­­tiker der Ent­scheidung sind, son­dern normale Menschen mit Sehn­­­­­sucht nach Ge­borgenheit im Glau­ben, nach ge­schenkter Sinn­stif­tung und ge­lie­he­nen Ideen.

In der Vergangenheit wechselten Phasen kollektiver Ideologi­sie­rung mit Phasen der Aufklärung. Arnold Gehlen hat für die Epochen des klassischen Athen und des nachfolgenden Hellenismus exem­pla­risch herausgearbeitet, wie sich jeweils vor dem Hintergrund kon­kre­ter Lagen bestimmte Ideologe­me entwickelten. [3] Die Epo­che der au­­tonomen Stadtstaaten und Inselreiche hatte ihren Ausdruck in einem poly­theistischen, republikanischen und indi­vidualistischen Weltbild ge­­funden. Dieses wurde nach Abräumung der vielgliedrigen Staa­ten­welt durch Alexander im darauf folgenden Hellenismus durch ein mo­notheistisches, monarchisches und uni­ver­sali­stisches Welt­bild er­setzt: ein Gott, ein Weltbild, ein König. Die men­schen­ähnlichen Göt­ter der Klassik waren zahlreich wie die grie­chischen Kleinstaaten, und wie die Menschen standen sie für unter­schiedliche Lebensentwür­fe und Ideen. Der Partiku­larismus der klassischen Epoche und die Idee der Polis endeten mit Alexander und den Diadochenreichen. Entwur­zelte Menschen fanden sich in postnationalen Rei­chen wieder und entwic­kelten kosmopolitische Ideen. Solche Ansichten traten nicht als Ursa­chen auf, sondern verarbeiteten und bewältigten die schon einge­trete­ne Ka­tastrophe, machten sie bewußt und endgültig und idealisier­ten ihre Konsequen­zen. [4]

Der nach Athen verschlagene Phönizier Zenon, ein Entwurzelter - heute würden wir Intellektueller sagen - , vertrat die Ansicht, daß alle Verwandt­schaftsbindungen und Stammespflichten vor der Tugend zu­rückzutreten hätten. Nach Gehlen kann dies "als eine zukunfts­träch­ti­ge Er­fin­dung ange­sprochen werden, man verlieh so et­was wie ein ge­sin­­nungs­ethi­sches Bürger­recht in einem noch utopischen Über­staat." Das neue universalistische Weltbild ergab sich aus einer "Ad­die­­rung von Zweck­mäßigkeiten. Der neu­ar­tigen Wirklichkeit einer aus allen Rich­tungen durch­einander ge­wür­felten Bevölkerung, wie sie das Ale­xan­derreich hervorbrachte, konnte diese Kos­mos-Bür­ger­schaft eine For­mel bieten:" - "Die Welt", formulierte der Stoiker Chry­­sippos , "ist ein großer Staat mit einer Verfassung und einem Ge­setz." Der ge­mein­­same ideologische Nenner die­ser gedanklichen Kos­mo­polis war ein moralisie­rendes Vernunft- und Naturrecht, unter des­sen Geltung der Philosoph als authen­ti­scher Interpret un­ent­behr­lich wurde. "Je groß­artiger das Naturrecht durch ihn erhöht wird, um so ge­wal­ti­ger wird die eigene Rolle." [5]

Nach Carl Schmitt ist die Vorstellung eines ab­so­lutistischen Mon­ar­chen ei­nem Zeit­alter unmittelbar evident, das auch an einen absolut den Kos­mos regierenden Gott glaubt. Die Auf­klä­rung hat diese Idee und mit ihr die Vor­stellung einer den Kosmos re­gierenden Ordnung ver­­wor­fen und mündete in den politischen Libe­ralis­mus, bei dem auch die Ge­sell­schaft sich ohne Ord­nungszentrum gewissermaßen selbst re­­gie­ren soll. Wer nicht an einen Gott und eine vor­ge­ge­­bene Welt­ordnung glaubt, wohl aber: Es entstehe eine Art von Ordnung aus dem Nichts, wenn jeder Mensch unbeeinträchtigt von Herr­­­schaft tun darf, was er möchte, für den ist der politische Libe­ra­lis­­­mus mit seinen spezifischen verfas­sungsrechtlichen Vorstellun­gen evi­­dent.

Geistiges Merkmal des Mittelal­ters war ein geschlossenes reli­giö­ses Weltbild: Der Kosmos - Dies­seits und Jenseits - war von Gott ge­schaf­fen und von einer göttli­chen Ord­nung erfüllt, deren Abbild die mensch­liche Ge­sellschaft zu sein hatte. Die Ideologen dieses christ­li­chen Weltbildes nannten sich Theologen - Verkünder der Worte Got­tes. Unter dem Eindruck der Wiederent­deckung antiken Gedan­ken­gu­tes in der Zeit des Humanismus und der Renais­sance bekam dieses Welt­bild einerseits Risse, radikalisierte sich aber in seinen Hauptströ­mungen bis zum dreißigjährigen religiösen Bür­ger­krieg. Die offen­kundige Sinnlosigkeit, sich konfessioneller Spitz­findigkeiten zuliebe bis zur Ausrottung ganzer Landstriche selbst zu zerfleischen, war das bestimmende Motiv des Thomas Hobbes: Er wollte die religiöse Fa­nati­sie­rung durch ein friedenstiftendes staatliches Macht­wort be­en­den. Der Ver­falls­prozeß religiöser Glaubensge­wißheiten fand sei­nen kon­­sequenten Ab­schluß in der Aufklä­rung.

Die Reideologisierung ließ nicht lange auf sich warten: Kaum hat­ten die franzö­sischen Hauptvertreter aufklärerischen Denkens Gott von seinem Thron gestoßen, setzten sie die Göttin Vernunft darauf und sich selbst dane­ben. In Deutschland nahm die Reideologisierung angesichts anderer pole­mischer Bedürfnisse einen anderen Weg: Un­ter dem Eindruck der nationalen Niederlage durch Napoleons Armeen setzten schon vor 1800 die Anfänge einer deutschen Nationalideolo­gie ein, die sich auf deutsches Wesen besann und aus bedingungslo­sem Gemeinschaftspathos die Kraft für einen Befrei­ungskrieg schöpf­te. Nach dem Ende der französischen Beset­zung wirkte diese zwar noch Jahrzehnte untergründig fort, vermochte aber nicht mehr die Mas­sen zu mobilisieren und versandete schließlich in einem auf­ge­klär­ten, technizistisch-bürokratischen Wilhelminismus und dem auf­ge­klärt-ni­hilisti­schen Lebensgefühl der Jahrhundertwende.

Auch in unserem Jahrhundert haben sich die Deutschen wechseln­der Ideologien bedient, weil sie sich in unterschiedlichen konkreten Lagen be­funden haben. Der Druck der Niederlage und des Versailler Dik­­tats ver­langte nach Tröstung, und die wirtschaftliche Verelendung und Demütigung Deutsch­lands ließen die schon vor dem Weltkrieg la­tent vorhandenen Ideo­lo­gien aufblühen wie Pilze nach einem Re­gen. "Jean Paul hatte ge­spot­tet, sei ein Krieg zu Ende gegangen, dann gebe es zu jeder Buch­mes­se ein neues System des Naturrechts. Dieser Spott läßt sich ver­all­ge­mei­­nern: Ist ein Krieg zu Ende gegangen, gibt es eine Auferstehung der Metaphy­sik." [6] Der militärische Ausgang des Ringens der ideo­lo­gi­schen feindlichen Schwestern: dem mar­xi­sti­schen und dem nationalen So­­zia­li­smus, ist be­kannt.

Das Jahr 1945 begründete eine völlig neue Situation für die Deut­schen, und sie reagierten ihr entsprechend. Die Lage er­zwang einen er­neuten ideo­logischen Pa­ra­dig­menwech­sel: Un­ter den kon­kreten Be­din­­gungen der Nach­kriegs­zeit flüch­tete sich das Bür­ger­tum in eine Ge­sin­­nungs­ethik mit extrem mo­ra­lisieren­dem Pathos. "Wi­derlegte Völ­ker, die sich ei­ner über­mäch­­tig-fremd­be­stimm­ten Zu­­kunft ge­gen­über­sehen, ver­suchen doch in wei­ten Ver­kehrs- und Mit­­tei­lungs­räu­men zu mis­sio­nie­ren, um eine Atmo­­sphäre der Scho­nung zu ver­brei­ten." [7] Das deutsche Volk war nach dem Zusam­men­­bruch ver­äng­stig­t und ver­unsichert. In der realen Interessen­welt und im mi­li­tä­risch-wirt­­schaftli­chen Macht­kampf unter­le­gen, flüchtete es sich in die Schein­­welt des Mo­ralischen und hoffte, die in der realen Außenwelt durch Interes­sen­wettstreit nicht zu erzie­lende Ruhe und Si­cherheit dort zu erlan­gen, ver­schanzt hinter Moral­forderungen und ethi­schen Ri­goris­men. Vor 1945 hatte sich dasselbe Bür­gertum gedacht: "Hier sind un­se­­re Reichs­gren­zen, die wir militärisch hin­ausschieben, und hinter diesen Reichs­gren­­zen können wir ruhig und in Frieden le­ben." Nach dem Krieg fühlte es: "Wir stec­ken hier der Mitwelt gegen­über mo­­ra­li­sche Gren­zen ab. Diese morali­schen Grenzen darf niemand über­­tre­ten. Bei ihrer Ein­hal­­tung darf uns nie­mand et­was tun, denn das wäre ja unmora­lisch." So erwiesen sich mo­rali­sche For­de­run­gen als si­tua­tionsbedingte Waffen im Interessen­wett­streit kon­­kreter Men­schen.

Vor dem Krieg hatte man zur Inter­es­sen­ver­fol­gung in Deutsch­­land, weil keine anderen Mittel mehr zu fruchten schie­nen, auf das Mili­täri­sche und ei­ne betont krie­gerische Moral gebaut. Diese Moral hatte keine Ein­wendungen gegen die mili­täri­sche Unter­werfung an­de­rer erhoben. Nach dem Krieg setzte man, auf mili­täri­schem Felde ge­schlagen und in eine kosmopolitische neue Weltordnung geworfen, auf das Ökonomische. Das ideologische Ge­wissen der Deutschen war an­pas­sungs­fä­hig. Seine moralische Wesensände­rung war aus der Not geboren, und so war sie eine freiwillige und unfreiwil­lige zugleich. Un­freiwillig war sie, weil wir gar keine Wahl hatten. Massiver noch als nach dem 1. Welt­krieg wußten die Sieger schon vor ihrer In­va­si­on, "daß es nicht genügt »zur Umklammerung und Knechtung eines Vol­kes, ihm seine An­griffs- und Verteidigungswaffen wegzunehmen und es fried­lich-öko­no­misch auszu­beu­ten, wenn man nicht gleich­zei­tig seine ideo­­­lo­gische Wi­­der­stands­kraft zer­stört und ihm sozusagen das Gehirn durch die Na­senlöcher ab­pumpt.«" [8]    Freiwillig war die Ent­scheidung für den west­lich-liberaleren Weg, weil man aus der ge­ge­benen Ver­lie­rer­­lage das beste machen wollte. Man wollte wieder wer sein, und als Spiel­­platz ließen die Sieger nur das Feld der Öko­no­mie zu. Zur eigenen Verteidi­gung blieb nichts als ein mo­ra­li­sie­­ren­der Uni­ver­salismus mit dem Hinter­sinn: "Damit uns niemand un­sere Fa­briken weg­nimmt oder am Ver­kau­­fen hindert, mögen doch bitte alle Men­schen sich der Logik der reinen Ökonomie un­terwerfen." Diese neue uni­ver­sal ver­kün­dete Händ­­lermoral führt weltweit un­mit­tel­bar zu einer poli­ti­schen und wirt­­schaft­lichen Ordnung, bei deren Ein­­hal­tung die wirt­schaftlichen In­ter­­es­sen Deutschlands bestens geschützt zu sein schienen, ohne daß wir auch nur einen Schuß Pulver ver­brau­chen müssen, was die Deut­schen seit 1945 auch erst nicht durften, spä­ter nicht konnten und heute nicht wollen dürfen.

Unter der Fahne eines sich zunehmend radikalisierenden Huma­ni­ta­­ris­mus kehrte aber der Weltanschauungsstaat wieder. Seinen Sprach­re­ge­­lungen zufolge ist Ideologie das falsche Bewußtsein seiner welt­an­schau­­lichen Gegner, wäh­rend der ach so freie­ste Staat auf deutschem Bo­den selbst keine Ideologie habe. Doch das vielfach pro­klamierte En­de der Ideo­­­lo­gien ist blo­ßer Be­standteil ihres eige­nen ideologi­schen Selbst­­ver­­­ständ­nisses. [9] Tatsächlich ist die sogenannte Wert­ord­nung des Grundge­setzes eine vollwertige Ideologie: ein in sich ge­schlos­senes System metaphysischer Wertsetzungen. Ihr Gelten "im­­pli­ziert" einen "Drang zur Ver­wirk­li­chung. ... Der Wert lechzt geradezu nach Aktualisierung. Er ist nicht wirk­lich, wohl aber wirklichkeits­bezogen und lauert auf Vollzug und Voll­streckung." [10] In seinem Namen herrschen seine Priester und Vollstrecker.

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postideologische Zeitalter

 

 



[1] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.53, 43.

[2] Habermas, Faktizität und Geltung, S.198 f.

[3] Gehlen, Moral und Hypermoral, 1. und 2. Kapitel.

[4] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.15.

[5] Gehlen, Moral und Hypermoral, Zitate in diesem Absatz dort S.30,31,33.

[6] Kurt Flasch, Rezension v. Heideggers Gesamtausgabe, FAZ 5.12.1995, S.L19.

[7] Gehlen, Moral und Hypermoral, S.112.

[8] Maschke, St.Jürgen und der triumphierende Drache, S.134; Zitat in »...« Clemens Lang, Die Ideologie des Widerstandes, in: Deutsches Volkstum, Heft 1.12.1932, S.960.

[9] Kondylis, Ohne Wahrheitsanspruch keine Toleranz, FAZ 21.12.1994.

[10] Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S.52.