Wie
Wertbegriffe innerhalb einer Gesellschaft dem Machtanspruch des Individuums
gegenüber seiner unmittelbaren Umwelt dienen, so dienen sie konkreten
Kollektiven, Völkern, Staaten und Staatenbündnissen also, gegen
konkurrierende Kollektive zur Abstützung von Geltungsansprüchen.
Ideologeme wie Freihandel, Freiheit der Meere, Souveränität,
Selbstbestimmungsrecht, gerechter Krieg oder Menschenrechte haben
im Völkerverkehr immer einen bestimmten polemischen Sinn und
die Funktion, konkrete Machtansprüche zu begründen und eigenes
Verhalten von Personengruppen zu legitimieren. Überindividuell
gesehen sind Normen mit den Worten Kondylis' Verkleidungen der
mit dem kollektiven Selbsterhaltungstrieb zusammenhängenden Faktoren.
"Mythen, Religionen und Ideologien sind im Grunde kollektive
weltanschauliche Entscheidungen. Solche sind möglich, weil bestimmte
konkrete Lagen dazu geeignet sind, mehrere Individuen gleichzeitig
in eine mehr oder weniger einheitliche Perspektive gleichsam hineinzuzwingen."
[1]
Selbst Habermas
bemerkt ganz richtig, daß wir aus solchen kollektiven Perspektiven
"für uns absolute Ziele einer authentischen Lebensführung"
sehen. Das Bewußtsein kollektiver Identität, "in denen
die Angehörigen emphatisch »Wir« sagen können"
[2]
, kann auf dem ausgesprochenen Bewußtsein
einer gemeinsamen Wertentscheidung beruhen. Ohne Mythos
kann kein Volk gedeihen, weil seine Massen keine voluntaristischen
Romantiker der Entscheidung sind, sondern normale Menschen
mit Sehnsucht nach Geborgenheit im Glauben, nach geschenkter
Sinnstiftung und geliehenen Ideen.
In
der Vergangenheit wechselten Phasen kollektiver Ideologisierung
mit Phasen der Aufklärung. Arnold Gehlen
hat für die Epochen des klassischen Athen und des nachfolgenden Hellenismus
exemplarisch herausgearbeitet, wie sich jeweils vor dem Hintergrund
konkreter Lagen bestimmte Ideologeme entwickelten.
[3]
Die Epoche der autonomen Stadtstaaten
und Inselreiche hatte ihren Ausdruck in einem polytheistischen, republikanischen
und individualistischen Weltbild gefunden. Dieses wurde nach Abräumung
der vielgliedrigen Staatenwelt durch Alexander
im darauf folgenden Hellenismus durch ein monotheistisches, monarchisches
und universalistisches Weltbild ersetzt: ein Gott, ein Weltbild,
ein König. Die menschenähnlichen Götter der Klassik waren zahlreich
wie die griechischen Kleinstaaten, und wie die Menschen standen sie
für unterschiedliche Lebensentwürfe und Ideen. Der Partikularismus
der klassischen Epoche und die Idee der Polis endeten mit Alexander
und den Diadochenreichen. Entwurzelte Menschen fanden sich in postnationalen
Reichen wieder und entwickelten kosmopolitische Ideen. Solche Ansichten
traten nicht als Ursachen auf, sondern verarbeiteten und bewältigten
die schon eingetretene Katastrophe, machten sie bewußt und endgültig
und idealisierten ihre Konsequenzen.
[4]
Der
nach Athen verschlagene Phönizier Zenon,
ein Entwurzelter - heute würden wir Intellektueller sagen - , vertrat
die Ansicht, daß alle Verwandtschaftsbindungen und Stammespflichten
vor der Tugend zurückzutreten
hätten. Nach Gehlen
kann dies "als eine zukunftsträchtige Erfindung angesprochen
werden, man verlieh so etwas wie ein gesinnungsethisches Bürgerrecht
in einem noch utopischen Überstaat." Das neue universalistische
Weltbild ergab sich aus einer "Addierung von Zweckmäßigkeiten.
Der neuartigen Wirklichkeit einer aus allen Richtungen durcheinander
gewürfelten Bevölkerung, wie sie das Alexanderreich hervorbrachte,
konnte diese Kosmos-Bürgerschaft eine Formel bieten:" - "Die Welt", formulierte der
Stoiker Chrysippos
, "ist ein großer Staat mit einer Verfassung und einem Gesetz."
Der gemeinsame ideologische Nenner dieser gedanklichen Kosmopolis
war ein moralisierendes Vernunft- und Naturrecht, unter dessen Geltung
der Philosoph als authentischer Interpret unentbehrlich wurde.
"Je großartiger das Naturrecht durch ihn erhöht wird, um so
gewaltiger wird die eigene Rolle."
[5]
Nach
Carl Schmitt
ist die Vorstellung eines absolutistischen Monarchen einem Zeitalter
unmittelbar evident, das auch an einen absolut den Kosmos regierenden
Gott glaubt. Die Aufklärung hat diese Idee und mit ihr die Vorstellung
einer den Kosmos regierenden Ordnung verworfen und mündete in
den politischen Liberalismus, bei dem auch die Gesellschaft sich
ohne Ordnungszentrum gewissermaßen selbst regieren soll. Wer nicht
an einen Gott und eine vorgegebene Weltordnung glaubt, wohl aber:
Es entstehe eine Art von Ordnung aus dem Nichts, wenn jeder Mensch
unbeeinträchtigt von Herrschaft tun darf, was er möchte, für den
ist der politische Liberalismus mit seinen spezifischen verfassungsrechtlichen
Vorstellungen evident.
Geistiges
Merkmal des Mittelalters war ein geschlossenes religiöses Weltbild:
Der Kosmos - Diesseits und Jenseits - war von Gott geschaffen und
von einer göttlichen Ordnung erfüllt, deren Abbild die menschliche
Gesellschaft zu sein hatte. Die Ideologen dieses christlichen Weltbildes
nannten sich Theologen - Verkünder der Worte Gottes. Unter dem Eindruck
der Wiederentdeckung antiken Gedankengutes in der Zeit des Humanismus
und der Renaissance bekam dieses Weltbild einerseits Risse, radikalisierte
sich aber in seinen Hauptströmungen bis zum dreißigjährigen religiösen
Bürgerkrieg. Die offenkundige Sinnlosigkeit, sich konfessioneller
Spitzfindigkeiten zuliebe bis zur Ausrottung ganzer Landstriche selbst
zu zerfleischen, war das bestimmende Motiv des Thomas Hobbes: Er wollte
die religiöse Fanatisierung durch ein friedenstiftendes staatliches
Machtwort beenden. Der Verfallsprozeß religiöser Glaubensgewißheiten
fand seinen konsequenten Abschluß in der Aufklärung.
Die
Reideologisierung ließ nicht lange auf sich warten: Kaum hatten die
französischen Hauptvertreter aufklärerischen Denkens Gott von seinem
Thron gestoßen, setzten sie die Göttin Vernunft
darauf und sich selbst daneben. In Deutschland nahm die Reideologisierung
angesichts anderer polemischer Bedürfnisse einen anderen Weg: Unter
dem Eindruck der nationalen Niederlage durch Napoleons Armeen setzten
schon vor 1800 die Anfänge einer deutschen Nationalideologie ein,
die sich auf deutsches Wesen besann und aus bedingungslosem Gemeinschaftspathos
die Kraft für einen Befreiungskrieg schöpfte. Nach dem Ende der
französischen Besetzung wirkte diese zwar noch Jahrzehnte untergründig
fort, vermochte aber nicht mehr die Massen zu mobilisieren und versandete
schließlich in einem aufgeklärten, technizistisch-bürokratischen
Wilhelminismus und dem aufgeklärt-nihilistischen Lebensgefühl
der Jahrhundertwende.
Auch
in unserem Jahrhundert haben sich die Deutschen wechselnder Ideologien
bedient, weil sie sich in unterschiedlichen konkreten Lagen befunden
haben. Der Druck der Niederlage und des Versailler Diktats verlangte
nach Tröstung, und die wirtschaftliche Verelendung und Demütigung
Deutschlands ließen die schon vor dem Weltkrieg latent vorhandenen
Ideologien aufblühen wie Pilze nach einem Regen. "Jean Paul
hatte gespottet, sei ein Krieg zu Ende gegangen, dann gebe es zu
jeder Buchmesse ein neues System des Naturrechts. Dieser Spott läßt
sich verallgemeinern: Ist ein Krieg zu Ende gegangen, gibt es
eine Auferstehung der Metaphysik."
[6]
Der militärische Ausgang des Ringens
der ideologischen feindlichen Schwestern: dem marxistischen
und dem nationalen Sozialismus, ist bekannt.
Das
Jahr 1945 begründete eine völlig neue Situation für die Deutschen,
und sie reagierten ihr entsprechend. Die Lage erzwang einen erneuten
ideologischen Paradigmenwechsel: Unter den konkreten Bedingungen
der Nachkriegszeit flüchtete sich das Bürgertum in eine Gesinnungsethik
mit extrem moralisierendem Pathos. "Widerlegte Völker, die
sich einer übermächtig-fremdbestimmten Zukunft gegenübersehen,
versuchen doch in weiten Verkehrs- und Mitteilungsräumen zu
missionieren, um eine Atmosphäre der Schonung zu verbreiten."
[7]
Das deutsche Volk war nach dem Zusammenbruch
verängstigt und verunsichert. In der realen Interessenwelt und
im militärisch-wirtschaftlichen Machtkampf unterlegen, flüchtete
es sich in die Scheinwelt des Moralischen und hoffte, die in der
realen Außenwelt durch Interessenwettstreit nicht zu erzielende
Ruhe und Sicherheit dort zu erlangen, verschanzt hinter Moralforderungen
und ethischen Rigorismen. Vor 1945 hatte sich dasselbe Bürgertum
gedacht: "Hier sind unsere Reichsgrenzen, die wir militärisch
hinausschieben, und hinter diesen Reichsgrenzen können wir ruhig
und in Frieden leben." Nach dem Krieg fühlte es: "Wir stecken
hier der Mitwelt gegenüber moralische Grenzen ab. Diese moralischen
Grenzen darf niemand übertreten. Bei ihrer Einhaltung darf uns
niemand etwas tun, denn das wäre ja unmoralisch." So erwiesen
sich moralische Forderungen als situationsbedingte Waffen im
Interessenwettstreit konkreter Menschen.
Vor
dem Krieg hatte man zur Interessenverfolgung in Deutschland,
weil keine anderen Mittel mehr zu fruchten schienen, auf das Militärische
und eine betont kriegerische Moral gebaut. Diese Moral hatte keine
Einwendungen gegen die militärische Unterwerfung anderer erhoben.
Nach dem Krieg setzte man, auf militärischem Felde geschlagen und
in eine kosmopolitische neue Weltordnung geworfen, auf das Ökonomische.
Das ideologische Gewissen der Deutschen war anpassungsfähig.
Seine moralische Wesensänderung war aus der Not geboren, und so war
sie eine freiwillige und unfreiwillige zugleich. Unfreiwillig war
sie, weil wir gar keine Wahl hatten. Massiver noch als nach dem 1.
Weltkrieg wußten die Sieger schon vor ihrer Invasion, "daß
es nicht genügt »zur Umklammerung und Knechtung eines Volkes, ihm
seine Angriffs- und Verteidigungswaffen wegzunehmen und es friedlich-ökonomisch
auszubeuten, wenn man nicht gleichzeitig seine ideologische
Widerstandskraft zerstört und ihm sozusagen das Gehirn durch
die Nasenlöcher abpumpt.«"
[8]
Freiwillig war die Entscheidung für den westlich-liberaleren Weg,
weil man aus der gegebenen Verliererlage das beste machen wollte.
Man wollte wieder wer sein, und als Spielplatz ließen die Sieger
nur das Feld der Ökonomie zu. Zur eigenen Verteidigung blieb nichts
als ein moralisierender Universalismus mit dem Hintersinn:
"Damit uns niemand unsere Fabriken wegnimmt oder am Verkaufen
hindert, mögen doch bitte alle Menschen sich der Logik der reinen
Ökonomie unterwerfen." Diese neue universal verkündete Händlermoral
führt weltweit unmittelbar zu einer politischen und wirtschaftlichen
Ordnung, bei deren Einhaltung die wirtschaftlichen Interessen
Deutschlands bestens geschützt zu sein schienen, ohne daß wir auch
nur einen Schuß Pulver verbrauchen müssen, was die Deutschen seit
1945 auch erst nicht durften, später nicht konnten und heute nicht
wollen dürfen.
Unter
der Fahne eines sich zunehmend radikalisierenden Humanitarismus
kehrte aber der Weltanschauungsstaat wieder. Seinen Sprachregelungen
zufolge ist Ideologie das
falsche Bewußtsein seiner weltanschaulichen Gegner, während der
ach so freieste Staat auf deutschem Boden selbst keine Ideologie
habe. Doch das vielfach proklamierte Ende der Ideologien ist
bloßer Bestandteil ihres eigenen ideologischen Selbstverständnisses.
[9]
Tatsächlich ist die sogenannte Wertordnung
des Grundgesetzes eine vollwertige Ideologie: ein in sich geschlossenes
System metaphysischer Wertsetzungen. Ihr Gelten "impliziert"
einen "Drang zur Verwirklichung.
...
Der Wert lechzt geradezu nach Aktualisierung. Er ist nicht wirklich,
wohl aber wirklichkeitsbezogen und lauert auf Vollzug und Vollstreckung."
[10]
In seinem Namen herrschen seine Priester
und Vollstrecker.