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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S. 213 ff.
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  Von der Ueberzeugung, daß Deutschland untergehen werde, niedergedrückt, gebe ich hier nur einige Ideen an, wie vielleicht noch

Von der Ueberzeugung, daß Deutschland untergehen werde, nieder­gedrückt, gebe ich hier nur einige Ideen an, wie vielleicht noch einem edeln Volk gehol­fen werden könne. ... Die Geschichte der künftigen Jahrhunderte wird keine Germanier mehr nennen. - Unglückliches deutsches Vaterland!

Potsdam, im November 1795

Christian von Massenbach [1]

 

Die Vaterlandsliebe

Es ist, "soviel mir bekannt, noch immer erlaubt, in deutscher Spra­che miteinander vom Vaterlande zu reden, wenigstens zu seufzen." Je­denfalls war es das 1808 noch, als Fichte es in seiner achten Rede an die deutsche Nation so formu­lierte. Heute kommen wir als Volk in der ego­zen­­trischen li­beralen Ethik nicht mehr vor. Wenn wir davon aus­­ge­hen, daß sich jeder seine Ethik nach sei­nen angenomme­nen In­ter­essen bi­l­det, können wir die denkba­ren Ethiken wie auf einer Skala ein­­­tei­len einerseits in solche von Menschen, die sich schutzbedürftig füh­len und daher ei­ner Gemeinschafts­ideologie zunei­gen, wobei die Ge­­mein­schaft und ihr Staat die Aufgabe ha­ben, den einzelnen zu schüt­­zen. Men­schen wie Hobbes , die sich schutz­be­dürf­tig füh­len, schätzen eher die Gemein­schaft als ge­borene Hechte im Kar­pfen­teich. Ihre Moral steht am an­deren Ende der vorgestellten Skala. Men­schen wie Stirner fühlen sich so stark, daß sie sich als auto­nome Individuen jeder Ge­fährdung gewachsen fühlen oder gar in ei­nem Staat und in Ge­mein­schaftsregeln nur Hemm­nisse in ihrem Ta­tendrang sehen, sich ge­gen­über ih­ren Mitmenschen Vor­teile zu verschaffen. Der Li­be­ra­lis­mus ist die Reli­gion des Fuch­ses, der die Gans zur Tafel lädt - bei frei­er Menüwahl! Weil jeder alles dür­fen soll, braucht er einen Unpar­tei­­ischen nicht. Staat­liche Ver­bots­tafeln sind unerwünscht.

Wer soziale Ordnung vertritt, braucht eine Ethik mit auf menschli­che Ge­mein­schaften ge­richteten Tugenden. Wer in der Nation die be­ste Organi­sationsform sieht, seine Interessen geltend zu machen, be­nötigt Tugenden wie die der Vater­landslie­be und der Fami­lien­bin­dung. An eine me­taphysi­sche Reali­tät solcher ge­mein­schaftsbil­denden Wer­te muß nie­mand glau­ben. Wer Gott nur vom Thron stürzt, um sich selbst - in­dividuell oder kol­lektiv - dar­aufzuset­zen und anzube­ten, hat nicht be­griffen, was Aufklä­rung tatsäch­lich bedeu­tet. Daß es solche Werte aber bei allen Völ­kern und in al­len Kul­tu­ren gibt, läßt den Schluß zu, daß es of­fenbar ei­nen Nut­zen hat, wenn die Mit­­glie­der einer Gruppe ein die Ge­mein­schaft ­­sta­bi­lisie­ren­des Sy­stem von Nor­men an­wen­den. Wir Men­schen verfü­gen nach Konrad Lorenz über ein hoch­diffe­ren­zier­tes Sy­stem von Ver­hal­tens­weisen, das in durch­aus ana­lo­ger Weise wie das Sy­stem der An­ti­kör­perbil­dung im Zel­len­staat der Aus­mer­zung gemein­schaftsge­fähr­den­der Pa­rasi­ten dient. [2]

So verstanden schweben die Werte für eine Ge­­mein­­schaftsord­nung nicht in über­sinn­li­chen Sphären. Sie beein­flus­sen höchst real das mensch­liche Zu­sammenleben, weil viele Men­schen gefühlsmäßig zu ihnen neigen. Es herrscht, wer den Inhalt des Glaubens be­stimmt, auf des­sen Grund­la­ge die in der Staats­­ver­fas­sung kon­kre­ti­sier­te Wert­ord­nung ruht. Wenn wir eine Durch­­set­zungs­­chance für ein Sy­­stem von Ver­­hal­tens­wei­sen suchen, einer Ethik oder einem Recht also, das kon­­kreten Men­schen und Men­­schen­grup­pen nüt­zen soll, dür­fen wir uns letzt­lich nicht posi­ti­vi­sti­sch mit der Geltung des je­wei­li­gen Rechts auf Grund­lage der je­wei­ligen Mo­ral zufrie­dengeben. Nur wenn die Mehr­­heit an die ge­mein­schafts­bil­­denden nor­ma­ti­ven Tu­gen­den glaubt, als seien diese im metaphysi­schen Sinne real, kann sozial or­­ga­ni­sier­tes Le­ben sich ernst neh­men und auf Dauer erhalten. [3] Es gilt da­her ei­n Sy­­stem von Tu­genden durch­­zu­­­set­zen, das unsere in­­di­­vi­­duel­­le Frei­heit mit dem Be­stand der Ge­­mein­schaft ver­knüpft, der wir alle an­ge­hören und die uns die in­divi­du­elle Freiheit nach innen und au­ßen ga­ran­tieren soll. Diese Nor­­men gibt es in Deutschland tra­di­­tio­nell. Es ist sinnlos, Hirn­ge­spinste aus der in­tellektuellen Retorte zu ziehen. Ra­tio­na­li­stisch aus­ge­­klü­gelte Werte erwär­men niemandem das Herz. Sie kön­nen we­der die nötige soziale Bindungs­kraft ent­fal­ten noch Fol­ge­be­reit­­schaft er­zeu­gen. Wer wäre schon bereit, aus Lie­be zur Staats­ver­fas­­sung sein Le­ben aufs Spiel zu setzen oder ma­te­riel­­le Op­fer zu brin­gen? Nur die in den Gefühlen der Menschen wirk­lich vor­han­denen, überlieferten Werte, Tugenden und Ge­mein­schafts­ideen können ihnen normativ heilig sein und sozial funktionieren: die Fa­­mi­lie, das Volk und alle auf sie bezogenen Sekundärtugenden.

Anders als Herder formulierte, sind Völker keine Gedanken Got­tes. Der Glaube an das trans­zendente Sein einer Wesenheit namens Volk ist die zen­trale Wertsetzung einer aus konkreten pole­mi­schen Be­­dürf­nis­sen geborenen kollektiven Ideologie. Sie hatte in ei­ner ge­ge­benen hi­sto­rischen Situation der Zeit des Befreiungs­krie­ges ihre nütz­liche Funk­tion: In Zeiten fremder Ge­waltherrschaft läßt sich aufopfernder Wi­derstandsgeist nur wecken, wo das Wohl des ein­zel­nen im Zwei­fel dem Wohl des Gesamten unter­ordnet ist.

Wenn man den Begriff des Volkes nicht als bloße Sam­mel­bezeich­nung für viele einzelne Men­­schen be­trach­tet, kann man aber un­ter nomina­li­­sti­schen Prä­missen nur zu dem Schluß kom­men, daß es Völ­ker nur in unserer Vorstellung gibt: "In mente", hätte Ock­ham ge­sagt: im Gei­­ste. Real vor­han­den sind aller­dings die Ver­wandt­schafts­be­ziehun­gen, die ge­mein­same Spra­che und die gemein­sa­me Ge­schich­te der An­­gehörigen eines Vol­kes. Alle diese Um­stände be­wahren das Phä­­no­­men "Volk" aber nicht, wenn es als Volk nicht mehr "in mente" ist: im Bewußtsein sei­ner An­ge­­hörigen also. Das "Deutsch­land, wel­ches wir lie­ben und zu sehen be­gehren, hat nie exi­stiert und wird viel­leicht nie exi­stieren. Das Ideal ist eben etwas, das zu­gleich ist und nicht ist. Es ist die im tiefsten Her­­zen der Men­schen leuch­tende Son­ne, um wel­che un­sere Ge­danken" [4] sich dre­hen. Das reale Deutsch­­­land: das kön­nen nur kon­krete Menschen sein, die Ge­samt­­heit aller Deut­­schen. Wer sich für sie verantwort­lich fühlt und sie zu seiner Her­­zenssache macht, rech­net zu ih­nen die Ge­samt­heit der Le­­ben­den, der Toten und der Ungeborenen. Das ideale heim­liche Deutschland da­gegen trägt je­der nur in sich allein.

Alle Gruppen und Kollektive existieren nur insoweit und auch nur so­lange, wie sie von den handelnden Gruppenmitgliedern als Kollekti­ve tat­sächlich wahrgenom­men werden. Wenn die Einzelmitglieder der Gruppe aufhören, gruppenbezogen zu handeln, wenn der Wille, die Grup­pe zu bilden und die Gruppe bestehen zu lassen, erlischt, dann erlischt die Gruppe über­haupt. Eine Familie kann sich durch Schei­dung auflösen. Eine politische Partei kann durch Verbot aufge­löst werden. Auch die Mitglieder eines Vol­kes können sich zerstreuen. Nachdem die Athener die meli­schen Männer getötet und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft hatten, gab es für den Rest der Weltgeschichte keine Melier mehr. Völker sind eben nicht Gedanken Gottes, sondern handelnde Kollektive von Einzelmenschen, die im Kol­lektiv handeln wollen und das tatsächlich tun. Wenn der Wille zu ge­meinsamem Handeln und damit zur gemeinschaftlichen Existenz er­lischt, endet das Volk über­haupt. Völker sind nicht Gedanken Got­tes, sondern kol­lektive Gedanken vieler Menschen. Das zum Be­wußt­sein seiner selbst ge­kommene Volk bezeichnet die ro­manische Tra­dition als Nation: Nation sei ein tägliches Plebiszit. Die Nation als Wil­lens­ein­heit zusammen­gehörender Menschen erfordert es, die Ent­schei­dung für das Zusammengehören und das gemein­schaft­liche Han­deln täg­lich neu zu treffen.

Nationen sind daher vergängliche Gebilde und in ihrer Existenz verletz­lich. Ihre Existenz hängt davon ab, den Willen zur Gemein­schaft tagtäglich aufrecht zu erhal­ten. Einer Nation die­sen Willen, die Über­zeugung von ihrer eigenen Identität also, zu nehmen, befördert sie von der präsenten Existenz "in mente" ins Reich der Schatten, in den Orkus des bloßen Erinnerns, in die reale Nichtexistenz. Finis Ger­­maniae? Das kann uns passieren, liegt aber allein an unserem Wollen. Ob eine "Nation als politische oder auch kulturel­le Einheit erhal­ten bleibt, hängt nicht von ir­gend­ei­ner unwandelbaren Sub­stanz ab, die ihr inne­woh­­nen soll, sondern von den langfristigen Erfor­der­nis­sen der pla­ne­ta­rischen Lage, ge­nau­er: von der Art und Weise, wie die Ak­teure diese Erfordernisse be­greifen und sich darauf ein­stel­len." [5] Es liegt ein irreführender, weil transzendenter Zungenschlag in der For­mu­lie­rung, man solle an sein Volk und dessen Zukunft glau­ben. Das Volk gibt es, oder es gibt es nicht. Richtig wäre die For­mu­lierung, man solle den Willen, in Gemeinschaft als Volk zu han­deln, nicht auf­ge­ben.

Ein so verstandener Wille zu gemeinschaftlichem und gemein­schafts­­­be­zo­ge­nem Handeln stünde nie in Gefahr ideologischer Verab­so­lutierung, kol­lek­ti­vistischer Totalitätsansprüche oder quasireligiöser Er­weckungs­hoffnun­gen. Als Begründung für das kollektive Phäno­men, das wir je nach Aspekt der Betrachtung als Volk, Na­tion oder Staat bezeichnen, genügt die Einsicht, daß der Gemeinschaftsbezug des Handelns letztlich die Daseinsbedingungen des einzelnen sichern muß. Am Anfang muß also die Einsicht stehen, daß je­der einzelne die Na­tion und einen handlungsfä­higen Staat für sein persönli­ches Wohl­er­gehen und das seiner Nachkommen unab­dingbar braucht. Auf der freien Entscheidung für die Nation mag dann eine "säkularisierte" Welt­anschauung aufbauen, die sich der Liebe zu ihren Nächsten nicht schämt und selbstverständliche Solidarität mit allen anderen Deut­schen ein­schließt.

Vernunft und Einsicht allein können aber eine Ge­mein­schaft nicht zu­sammenhalten: Sinnstiftende Gefühlsbindungen, na­tio­nale Symbole und die ge­mein­same Erinnerung an kollektiv erlit­te­nes Schicksal ge­hö­ren zum eiser­nen Be­stand jeder Gemeinschaft. Nicht nur für uns Deut­sche gilt da­her Kondylis' Feststel­lung: "Die po­li­tisch brisante Frage lautet, ob kon­krete Kollektive bereit sind, not­falls un­ter Auf­bie­tung der dazu ge­eigneten Mytho­logeme, sich als Na­tion zu de­fi­nieren und im Na­men dieser Nation zu han­deln, also zu le­ben und zu ster­ben." Auch Rohr­moser betont, keine Gemein­schaft kön­ne ohne einen ge­­mein­sa­men normativen Glauben zu­sam­men­hal­ten: Wenn sich die gei­stigen, sitt­lichen, ethischen und reli­giösen Kräf­te auf­lösen, könne sich kein ge­meinsamer Wille bilden und nicht mehr ge­mein­schaftlich ge­handelt wer­den. Mit dem Beginn der Moderne ha­be die Nation die Funk­ti­on und die Rolle des ausschlaggebenden My­thos übernommen. Irra­tional erscheine das Nationale nur, wenn man meint, die Ge­sell­schaft vor­ausset­zungslos abstrakt-rationalistisch neu kon­struieren zu können. [6] Die­ser Machbarkeitsglaube ist aber höchst un­vernünftig. Er vergißt, daß die mei­sten Menschen ihre Identität ge­schicht­lich und nicht in­tel­lek­tualistisch bil­den. Die Nation steht in der Tra­dition der an­tiken res publica. Sie hat sich empirisch als die ein­zige dauerhafte Ver­ge­mein­schaf­tungsform erwiesen.

Als freiheitsliebende Individualisten und sozial verantwortungs­be­wußte Staatsbürger müssen wir ein ausgewogenes Verhältnis zwi­schen beiden Aspekten menschlicher Existenz immer aufs neue finden und herstellen. Die Forderung nach Ausgewogenheit hat nichts mit li­beralistischem Harmonie­glauben zu tun, sondern berücksichtigt ganz schlicht das Freiheitsbedürfnis des einzelnen und seine natürli­che So­zial­bezogenheit. Diese natürliche Sozialbezogenheit bedarf eines kon­kreten Bezugspunktes. Niemand kann sich wirklich mit einem Ab­strak­tum wie Menschheit konkret solidarisch fühlen. Die greif­baren Be­zugspunkte finden wir bereits vor, brauchen sie also in keinem uto­pi­schen Entwurf erst zu erfinden: Wir gehören kraft un­se­rer Geburt einer Familie an, einer Gemeinde, einem Stamm und einem Volk. Auf die­se bestehenden sozialen Verbände muß und kann allein sich so­zia­les Han­deln ausrichten.

Grundgebot sozialen Handelns ist die Tu­gend der Solidarität. Ihren phylogenetischer Antrieb haben wir oben schon kennengelernt: das als affiliati­ves Emp­finden bezeichnete Ge­fühl der Zuneigung, der Liebe, der Mitmensch­­lichkeit gegenüber un­se­ren Nächsten. Stam­mes­ge­schichtlich ist es jünger als der archai­sche Kom­plex der Aggression und bildete sich um den Brutpflege­trieb her­aus. Aggressiv waren schon die ersten Reptilien unterein­an­der; die lie­be­voll umsorgende Brut­pflege setzte sich in der Evolution erst viel spä­ter durch und steht darum in gewisser Weise höher in der Stu­fen­lei­ter. Solidarisch kann ich aber zunächst nur mit einem mir per­sön­lich be­kannten Men­schen sein, den ich schätze und liebe. Soli­da­rität ist buchstäb­lich Näch­sten­liebe und nicht Fernstenliebe. Im Zwei­felsfall er­fordert Soli­da­rität, mich nicht nur mit jemandem, son­dern auch ge­gen jemanden zu so­li­da­risie­ren. Wer jemandem universa­le Liebe zu al­len Menschen ab­ver­langt, stellt dieses natürliche Wert­emp­finden auf den Kopf. Die hu­ma­ni­taristische Fernstenliebe war schon Zielscheibe von Donosos Spott: Die­selben Leute, die uns die Liebe zur Mensch­heit abfordern, die Mensch­heit also für ein reales Ding halten, bestrei­ten, daß wir unserer Fa­milie und unserem Volke So­­lidarität schulden. Einen mir ganz Un­be­kannten soll ich brüderlich lie­ben müssen, mei­nen eigenen Bruder aber nicht brüderlich lieben dür­fen. [7] -

Haben wir erst einmal unsere Großväter befreit, indem wir den gordi­schen Knoten erster, zweiter und dritter Schuld für immer durch­gehauen ha­ben, sind wir frei für eine Ethik, die uns in unserer ei­­genen Identität erhält und auf de­ren Grund­lage wir uns die Reali­tät un­serer Zukunft bauen kön­nen. Wie diese aussehen soll? Da sind wir ganz be­scheiden: Geben soll es uns noch in 200 Jahren, und frei wol­len wir dann auch wieder sein. Wir? Ja, wir sagen näm­lich mit Fichte: Wel­­cher Edel­den­kende will nicht und wünscht nicht, "in sei­nen Kin­dern und wie­de­rum in den Kindern dieser sein eigenes Leben von neu­­em auf eine ver­besserte Weise zu wie­derholen und in dem Le­ben der­­sel­ben veredelt und vervoll­kommnet auch auf dieser Erde noch fort­­­zu­le­ben, nach­­­dem er längst gestorben ist?" Wer wollte nicht durch das be­ste Ver­­mächt­­nis seines Denkens in seinen Nach­kom­men "offen­bare Denk­ma­le hin­ter­lassen, daß auch er dagewesen sei?" Die Fort­dauer sei­ner Wirk­samkeit grün­det er auf die "Hoffnung der ewi­gen Fort­­­dau­er des Volkes, aus dem er selber sich entwickelt hat, und der Ei­gen­­­tüm­­lich­keit desselben." Diese ist "das Ewige, dem er die Ewig­keit sei­ner selbst und seines Fortwirkens anver­traut"; die "Ord­nung der Din­ge", die sich in ihm verkörpert und in der er sich selbst wie­der fin­det. Ihre Fort­dauer muß er wollen, denn sie allein ist ihm das Mit­tel, wo­durch "die kurze Spanne seines Lebens hienieden zu fort­­dau­ern­dem Leben aus­gedehnt wird." [8]

Tatsächlich überleben wir nur in unseren Nachkommen. [9] Die ge­ne­ti­schen Informationen und kul­tu­rellen Struk­turen sind das ein­zige, was nach un­se­rem Tode von uns bleibt. Jeder verkörpert eine physische und eine geistige Ordnung. Die Na­tion kann auf nichts anderem auf­bau­en als auf der Abstam­mungsge­meinschaft, denn es gibt keine na­tür­liche Ver­pflich­tung als die gegen unsere Vorfahren und unsere Nach­kommen. Je­der ist die buch­stäb­liche, wirkliche Verkörperung seiner Eltern, und in seinen Nachkommen ver­körpert er sich wie­der­um. Dazu bedarf es kei­nerlei Behauptung eines Jenseits. "Die erbliche Kontinuität beruht" zwar auf "einer mate­riellen Kontinuität", besteht aber eigentlich darin, "daß es eine bestimmte, materie­gebundene Struktur ist, die von Ge­ne­ration zu Generation weitergegeben wird." [10] Hinzu kommt die kul­tu­relle Tradition, die Denkstrukturen und -inhalte weitergibt.

Jeder ist in die­sem Sinne seine zwei El­tern, vier Großeltern, acht Ur­großeltern und so weiter. Was von jenen überhaupt blieb, steckt in ihm. Rückwärts geblickt bis zum dreißigjährigen Krieg stammt er ab von prak­tisch allen Ein­woh­nern seiner en­geren Heimat, außer denen, die ohne Nach­kommen star­ben. Gehen wir bis zum Mit­tel­alter zu­rück, stammt jeder von uns fast von allen Damaligen ab, wie­der außer de­nen, die kinderlos aus­star­ben. In die Zukunft ge­wen­det ergibt sich das­selbe Bild: Sofern nicht unsere Nachkommen es vor­zie­hen wer­den, aus­zu­sterben, wird jeder von uns Ahne eines beträchtlichen Teils der künf­­tigen Deutschen sein. Wenn wir uns gra­phisch die Vorfahren als aufwärts sich öffnenden Stammbaum vorstellen und die Nach­kom­­men darunter malen wie eine abwärts sich weitende Py­ramide, gewin­nen wir das Bild einer Sanduhr. Deren Engstelle bildet der einzelne. So verkörpert das deutsche Volk in Ver­gangenheit, Gegenwart und Zukunft die Wur­zel meines Seins und die Zukunft meines Selbst. Der Ab­­stam­mungs­­­ge­danke führt un­mit­tel­bar zum Volk als Ganzem und zur Ver­ant­­­wor­tung für das Ganze: "Das Prinzip der na­tionalen Iden­ti­tät be­sagt ent­we­der gar nichts, oder es besagt, daß eine Ge­mein­schaft be­steht von Verdienst und Schuld, von Ruhm und Unglück, von Ta­lent und Be­fä­higung zwischen den vergangenen und den ge­gen­wärti­gen Ge­­ne­ra­tio­nen und zwi­schen den ge­genwärtigen und den zu­künf­tigen; diese Gemeinschaft ist in jedem Punkte uner­klärlich, betrachte ich sie nicht als das Ergebnis der Vererbung." [11]

Als Gegenstand unserer Liebe und materieller Bezugspunkt un­se­rer Vorstellungen eines Gemeinwesens eignet sich nur die wirkliche Ab­­stam­mungsge­meinschaft. Nur sie ist langfristig in der Lage, die bin­­den­de Kraft zu entfalten, deren ein Gemeinwesen bedarf. Alle mul­ti­­eth­nischen Superstaa­ten haben sich noch immer irgendwann in ihre Be­­­standteile zerlegt. Sozial­bindung bedeutet immer vielfachen Ver­zicht: Verzicht auf Entscheidungs­willkür, Verzicht auf Geld zu­gun­sten der so­zialen Fürsorge und anderes mehr. Noch niemand hat mir die Frage beantworten können, warum eigent­lich ich einen solchen Ver­­zicht leisten soll zugunsten irgend­welcher wild­fremder Menschen, mit denen mich nichts verbindet, als daß sie kürz­lich in Frankfurt ge­lan­det sind und sich jetzt zufällig hier aufhalten. Das warnende Bei­spiel der USA zeigt überdies, daß die ethnisch zentrifugalen Kräf­te sich auf Dauer nur durch völlige Integration niederhalten las­sen, und das gelingt ab einer gewissen Menge von Unter­schiedlichkeiten nicht mehr.

Nächstes Kapitel:
Die republikanische Tugend

 

 



[1] Massenbach, Memoiren zur Geschichte des preußischen Staates, S.460.

[2] Lorenz, Die acht Todsünden, S.54.

[3] Kondylis, Macht und Entscheidung, S.124.

[4] De Lagarde, Deutsches Wesen, S.83.

[5] Kondylis, Die Zukunft der Nation, FAZ 26.10.1994.

[6] Rohrmoser, Der Ernstfall, S.223 ff.

[7] Donoso Cortés, Essay, S.169.

[8] Fichte, Reden an die deutsche Nation, S.132 ff.

[9] Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, S.143.

[10] Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S.34.

[11] Donoso Cortés, Essay, S.162.