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Auszug aus: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.219 ff. (Schlußkapitel)
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  DIE REPUBLIKANISCHE TUGEND

Die republikanische Tugend

Ohne spezifisches, auf das politische Funktionieren des Ge­mein­wesens gerichtetes Ethos läßt sich ein Staat nur unter den Be­din­­gun­gen einer Dikta­tur auf­recht erhalten. Inhalt des re­pu­bli­ka­ni­schen Ethos ist es, das Volk als politisches Gemeinwesen zu kon­sti­tu­ie­ren. Es ist der einzige Wert, den wir bewußt setzen, not­falls ge­ra­de­zu er­fin­den müssen. Der Eigen­wille und der Trieb zur Gemeinschaft sind phy­logenetisch vorfindbare und nicht dispo­nierbare Größen. Der als gren­zenlos gedachte Eigen­wille und ein ebenso grenzenlos ge­dach­tes Ei­genrecht der Gemein­schaft können nicht unversöhnt ne­ben­ein­ander be­stehen. Nach einem gene­tisch er­erbten, politischen Ver­ant­wor­tungs­­be­­wußt­sein, für ein Ethos des Staates, haben Ver­hal­tensfor­scher bisher aber ver­geb­lich ge­sucht. Diese Tugend entspringt offen­bar rein kul­tu­reller Über­lieferung und ist darum besonders stö­rungs­an­fällig.

Was geschieht, wenn der Gedanke indi­vi­du­el­ler Autonomie sich durch­setzt und die Gemeinschaft verdrängt, er­le­ben wir in Deutsch­land heute tagtäglich. Was ge­schehen konnte, als die Gemeinschaft al­les und der ein­zelne nichts galt, haben wir nicht vergessen. Eine frei­heitliche Gemeinschaft ohne einen Wert, der zwi­schen beiden Ex­tre­men vermittelt und sie verbindet, kann nicht auf Dauer aufrecht er­hal­ten werden. Gustav Radbruch hatte als dritten Wert die Kultur einführen wol­len, und wenn man das poli­tische Ge­mein­we­sen richtigerweise als kul­turelle Leistung be­greift, hatte er damit recht. Wir sind von Natur aus Kulturwesen, und als Kulturwesen sind wir auch von Natur aus Ge­meinschaftswesen - aber: frei­heits­lie­ben­de! Es ist einfach un­be­greif­lich, wie der evidente Zu­sam­menhang die­ser Werte immer wieder be­strit­ten und mit intellektualistisch halbierter Ver­nunft immer nur der eine oder der ande­re Wert verabsolutiert werden konnte.

Wir nähern uns mit dieser Überlegung nicht nur dem Ideenkreis der grie­chischen Polis, der römischen res publica und neuzeitlichen Den­kern seit der Renaissance an, sondern auch der Rezeption dieser alten Ideen durch eine neuere amerikanische Strömung, den so­ge­nann­­ten Kommunitarismus. Die klassische Staatsphilosophie hatte an­ge­­nommen, der Mensch finde erst als Bürger unter Bürgern seine sitt­li­che Bestimmung. Zugrunde liegt die ge­meinsame Einsicht, daß ein Ge­­­mein­wesen nur dauernd bestehen kann, wenn es seinen Bürgern die Freiheit er­­mög­licht, in aktiver Mitverantwortung den Staat zu ge­stalten und in Permanenz aufrecht zu erhalten. Seine spezifische Tu­gend be­ruht auf dem Gefühl unserer individuellen und kollekti­ven Ver­ant­wort­lichkeit für die Freiheit jedes einzelnen und den Bestand des Gan­zen, das uns diese Freiheit sichern soll. Die republikanische Tu­gend ist eine frei­heitliche und eine gemein­schafts­bindende Tugend zu­gleich. Sie läßt jeden einzelnen fühlen, daß die Polis in ihm lebe. [1]

Der amerikanische Kommunitarismus ist so bescheiden, die Tu­gen­den der eigenen Republik nicht universalieren zu wollen. Maß­stä­be für eine ob­jektive Beur­teilung von Wertfragen lassen sich nicht vom Zusammenhang der eigenen kulturel­len und politischen Über­lie­fe­rung trennen. Während sich der demokratische Prozeß "nach li­be­ra­ler Auffassung ausschließlich in der Form von In­ter­essen­kom­pro­mis­sen vollzieht", ist das "nach republikanischer Auffassung in der Form ethisch-politischer Selbstverständigung" [2] vor dem Hintergrund ge­mein­samer Überlieferung der Fall. Richtig sehen die Kom­munitaristen das Ende der Fahnenstange des Liberalismus: In seiner einseiti­gen Be­tonung des Eigennutzes hebt er die Voraussetzungen für das Ge­mein­same und damit wieder die Voraussetzung für nachhaltigen Schutz des Ei­gennutzes auf. In einem kommunitaristischen Manifest, das maßgeblich von Etzioni formuliert wurde, heißt es darum, es könne nicht "irgendeine Gemeinschaft auf lange Sicht überleben, wenn ihre Mitglieder nicht einen Teil ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Kraft und ih­rer Mittel gemeinsamen Vorhaben widmen. Die aus­schließliche Ver­folgung privater Interessen löst das Netz gesellschaft­licher Strukturen auf, von dem wir alle abhängen." [3] Das Communi­tarian Movement möchte die Verantwor­tung für eine gemein­schaftsorientierte Per­spek­tive betonen in einer "Gesellschaft, die im­mer stärker vom Ver­lust al­ler moralischen Normen bedroht ist, zur Selbst­sucht neigt und von Raffgier, egoistischen Interessen und einem ungebrochenen Macht­streben gekennzeichnet ist." Angestrebt wird darum ein Gleichge­wicht zwi­schen Individuen und Gruppen.

Damit haben die Amerikaner aber das Rad nicht erfunden, son­dern al­len­falls wieder gefunden. Ein Staatsethos, das alle Bürger zum Ge­mein­­­sinn verpflichtete, war einmal untrennbar mit dem Namen Preu­ßens ver­bunden. Es wurde in Deutsch­land schon gelebt, als sich die Vor­fahren der Amerika­ner noch mit Vorliebe gegen­seitig umgebracht ha­ben. Das letzte gilt jeden­falls, wenn wir der Selbstdarstellung ihrer ei­genen Ge­schichte in ihren "Western" Glauben schenken dürfen. Ei­ne geistige Traditionslinie führte da­gegen in Deutschland von der Ro­mantik über die konserva­tive Revolution bis in unsere Tage und be­tont: Zusammengehalten werde die Nation nicht nur durch die staat­li­chen Institutionen, sondern, mit Worten Moeller van den Brucks, durch "eine lebendige Klammer der Anteilnahme." Diese spe­zi­fisch politi­sche Anteilnahme ist die republikanische Tugend, sie ist mehr als Liebe zu Volk und Vaterland, sie ist die tätige Verant­wort­lich­keit für das politisch konstituierte Gemeinwesen. "Politik," so sieht das auch Jung, "ist das auf die Gestaltung des Ge­meinschafts­le­bens gerichtete Streben des Menschen, eines Volkes. Und dieses Stre­ben gehört zur Gesittung," [4] also in den Bereich der ethischen Tu­genden.

Wie schon der preußische Staat - entgegen anderslautenden Le­genden - nicht auf Zwang und Kadavergehorsam ruhte, möchte jetzt auch der Ameri­ka­ner Taylor gern "die freiwillige Identifikation der Bürger mit der Po­lis" durch die "Überzeugung, daß die politischen Institutionen, unter denen sie leben, Ausdruck ihrer selbst sind." Ge­rade durch die Teilhabe am politischen Leben verwirkliche sich der Mensch selbst als Zoon politikón. Weil Opfer­be­reit­schaft für ein Gemeinwesen wild­frem­der Leute auch in Amerika als weltfremd gilt, "setzte Taylor demonstrativ auf Ein­heit. Verfassungs­patrio­tismus, ein schö­ner Luxus für Intel­lektuelle, ist den Kom­muni­taristen nicht ge­nug. Statt des­sen sprechen sie umstandslos von Patriotismus, einer unbe­dingten, den gan­zen Menschen ergreifenden Empfindung, wie sie zur Zeit der fran­zö­si­schen Revolution zum ersten Male wirk­sam ge­worden ist. Das Be­kenntnis zu Prin­zipien und Parolen zählt nur so weit, als sich daraus konkrete Pflichten er­geben, die jeder einzelne auch unter Op­fern zu erfüllen be­reit ist." [5]

Diese von Taylor auf Aristoteles zurückgeführ­ten Auskünfte hätte er auch in Deutschland einholen kön­nen. So etwa bei E.J.Jung, der das Pro­blem 1930 for­mu­liert hatte: "Dem all­ge­wal­ti­gen Staate steht heute eine un­geordnete, im Kamp­fe aller gegen alle lie­gende Masse gegenüber. Ihre einzi­gen Gesetze emp­­fängt sie von ihm, meist mit dem Vorsatze, sie zu umgehen. Die­se Summe gleich­­be­rechtigter Ein­zel­menschen bil­det die moderne Ge­sell­schaft. Ohne den Geist wahrer Gemeinschaft, ohne innere Ver­bun­denheit le­ben sie in stum­mer Ge­­hässigkeit ne­ben­ein­ander her." Der "Geist wah­rer Ge­mein­schaft", die "in­ne­re Verbundenheit" ist das staats­bür­ger­liche Ethos, die repu­bli­kanische Tu­gend. Fehlt diese, wer­de De­mo­­kratie zum "me­cha­nischen Mehrheitssystem" oh­ne innere Teil­nah­me ihrer Bür­ger. Jung trifft sich mit den Kom­mu­ni­ta­ri­sten dar­in, daß "De­mo­kra­tie ohne gesellschaftli­ches Eigen­le­ben eine Un­mög­lich­keit ist." [6]

Der Staat muß institutioneller Bezugspunkt und Schützer des Ge­mein­­schaftsethos sein: der republikanischen Tugend. Jeder Kom­muni­ta­rist könnte die Klage Sanders unterschreiben: "Es ist eine der we­sent­lichen Ursachen für den politi­schen Nie­dergang, daß man sich an­gewöhnt hatte, Individuum und Staat als etwas entgegengesetztes zu be­trachten." Das Individuum habe sich seit der Renaissance überhaupt erst mit der po­li­tischen Organisations­form des Staates her­aus­ge­bil­det. [7] Hier tren­nen sich die Wege allerdings wieder von Sander, wenn dieser den Staat in deutscher Tra­di­tion nach Lo­renz von Stein und Hegel ge­gen­über der Zivil­ge­sell­schaft und ihren Verbän­den ge­ra­de­zu als Befreier von den sozialen Ab­hängigkeiten und großen Neu­tra­lisa­tor benötigt. Da­gegen halten alle Spielarten prozeduraler Ge­rech­tig­keits­theorien "die Idee, daß sich die Staatsge­walt als pauvoir neutre über die ge­sell­schaftli­chen Kräfte er­heben könne," für eine "ins­be­son­dere in der Schule Carl Schmitts ver­brei­tete Ideologie." [8] Auch die Kom­mu­ni­ta­ri­sten denken eher an eine basisdemokratische Ge­­sell­schaft mit so­wenig Staat wie nötig. Ihr Gemeinschafts­bewußt­sein ist ide­ell und meint, es brauche mög­lichst wenig Institutionen, in de­nen die Ge­mein­schaft sich verkörpert. Die­ser Streit führt letztlich zu Ver­fas­sungs­­fra­gen, denen wir hier nicht nachzugehen brauchen, weil im Er­geb­nis alle in der Wertefrage übereinstimmen: Der Staat, die Po­lis, ist nichts ohne Bürgertugenden, die ihn erhal­ten.

Diese Einsicht gilt unter amerikanischen Kommunitaristen als linke Position. Auch in Deutschland hält die politische Linke das Ein­for­dern demo­kratischer Teil­habe für ihre Domäne. Wenn das Eintreten für Teilnahme möglichst vieler Bürger an der Wil­lens­bil­dung, wenn das Gefühl der Verantwortlichkeit für das politisch kon­sti­­tuierte Ge­mein­wesen, wenn die republikanische Tugend eine linke sein sollte: Dann will ich mich gerne zur Linken bekennen. Zugleich aber dar­an zu erinnern, daß alle Politik eines Subjekts bedarf, für das ge­han­delt wird, und daß diese Zurech­nungssubjekte nun einmal als Fa­mi­lien und Völ­ker vorfindbar sind, dürfte eine eher rechte Einsicht sein. Der Weg kann nicht vom Individuum unmittelbar zur Mensch­heit führen, denn einem Subjekt Menschheit würde jenes Gegenüber feh­­len, ohne welches Politik nicht denkbar ist. Wer sich auf eine ab­strak­­te Mensch­heit beruft, verwandelt nur die Politik in Innenpolitik und in letzter Konsequenz den Krieg in einen Bürgerkrieg.

Von der ge­­wohnten politischen Gesäßbackengeographie sollten wir uns eben­so lösen wie von jedem normativistisch inspirierten Freund-Feind-Den­ken. Alle jene von Normendienern verabsolutierten Ideen: die so­ziale, die liberale, die nationale und viele andere, ent­sprin­gen der Be­ob­achtung wirkli­cher menschlicher Verhal­tensweisen. Wir sollten uns nicht auf einen einzel­nen von ihnen verkürzen lassen. Ähn­lich unübersichtlich verlaufen die Bruch­linien, wenn wir die Gei­stes­freiheit ge­gen eine zur Totalität neigende Mora­lisierung mo­bi­li­sie­ren. Es wäre keine kluge Frage, ob das ein "rechter" oder ein "lin­ker" An­satz ist. Berechtigt wäre hingegen die Frage, ob nicht der Aus­gangs­punkt des eigennützigen Individuums, das die Ge­meinschaft braucht und sie deshalb schützen möchte, ein originär liberaler Ge­dan­­ke ist. Im Sinne des historischen Altliberalismus wäre diese Frage zu bejahen; nur hatte dieser die Idee des autonomen einzelnen mit sei­­­nem gegenüber der Gemeinschaft tendenziell unendlichen Wert noch nicht verabsolutiert. Gegen einen undogmati­schen Li­be­ra­len, der seine Liberalität als ein Kriterium un­ter vielen in die Waag­scha­le wirft, wäre nichts einzuwenden.

Sicherlich nicht könnte man unseren Standpunkt als einen konser­vativen beschreiben, ganz gleich, was man darunter versteht. Der hi­storische Kon­servati­vismus, das hat Kondylis aufgewiesen, war durch und durch norma­tivistisch. Wäh­rend der extreme Liberalismus will­kürliche Hand­lungs­freiheit des In­di­­vi­du­ums an­strebt, ging der histori­sche Konservativismus der mit­tel­alterlichen societas civilis bis in die Zeit der Gegenrevolution [9] davon aus, daß die Men­schen von Natur aus Glieder einer objek­tiven Ord­nun­g sind: der göttlichen ewigen Seinsordnung. Er ließ deshalb die in­di­vi­duel­le Selbst­be­stim­mung, das heißt die Entfaltung der Per­sönlich­keit, nur unter Ein­fü­gung in die ge­sell­schaftlichen und staatlichen In­sti­tu­tio­nen mit ih­ren Ei­gen­ge­setz­lich­kei­ten zu. Auch was sich an heterogenen Strömungen in der er­sten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Schlagwort von der kon­servativen Re­voluti­on tummelte, war ohne Glauben an eine vor­gefun­dene Seinsordnung nicht zu denken. Zumeist handelte es sich um Verabsolutierungen des Gemein­schaftsgedan­kens, die sich, je nach Geschmack, in etatistischen oder völkischen Modellen aus­drück­ten.

Im Ideenkreis der "konservativen Revolution" hatte eine "jung­kon­servati­ve" Richtung "zentrale Motive des Neoliberalismus vor­weg­ge­nommen." [10] Für den star­ken Staat hatte der Schmitt-Schüler Forst­hoff [11] plädiert, um "die für den Libe­ra­lismus lebenswichtige Tren­­nung von Staat und Gesell­schaft aufrechtzuerhalten. In­dem sich der Staat vom bestimmenden Einfluß von Interessengruppen befreie, ... biete er der Massengesellschaft Einhalt," welche Staat und Ge­sell­schaft ver­schrän­ke, den Staat in der Gesellschaft aufgehen lasse und so die Freiheit unterminiere. [12] Der Wunsch nach indivi­dueller Frei­heit führt zur Forderung nach gesellschaftlicher Autonomie, der ge­wünsch­te Fortbestand des Ganzen aber zu einem Staat, der das Gan­ze zugun­sten des einzelnen erhält. Wer beide Werte anerkennt und er­hal­ten will, muß sie zwangsläufig als "Gesellschaft" und "Staat" von­ein­ander zu trennen suchen, um jedem sein institutionelles Eigen­recht ein­zu­räumen. Die hier vertretene Werte­trias führt also zu einem Ver­fas­­sungs­modell [13] das seiner­seits historisch auch libe­rale Vorstellungen enthält, ohne sie zu verab­so­lu­tieren. Nach­­­dem der metaphysische Kern eines sich selbst absolut set­zenden Li­be­­­ralis­mus bisher Objekt polemischer Aus­einandersetzung war, ist das eine ver­blüffend scheinende, aber letztlich nicht zu vermeidende Ein­sicht. Sie bestätigt sich bei Betrachtung eines der Hauptmo­tive de­zi­sioni­stischen Denkens. Dieses liegt nicht in der Beherr­schung ande­rer, sondern in der erstrebten Entlastung von geistigen, ideellen, reli­giö­sen und moralischen Herr­schaftsansprüchen. In diesem Zu­sam­men­hang betonte auch Schelsky "die Tatsache, daß die konsequente Tren­nung des Rechts von der subjektiven Moral und Gesin­nung jeden fast wider Wil­len zum Liberalen macht ..." [14]

Geistige Kämpfe haben ihre eigenen Gesetze. Ihr oberstes ist die Erkenntnis, daß Ideen Waffen sind. Nur ein engstirniger, dog­ma­ti­scher Denkstil läßt eine Idee unbe­nutzt, nur weil sie dereinst einmal von ei­nem Denker erfunden worden war, der ne­ben anderem auch po­li­tisch nicht Korrektes gedacht hatte. Heute dominieren in den Medien frei­lich jene, "die nicht einmal imstande sind, die gewaltigen Waf­fen auch nur vom Bo­den zu heben, mit denen jene heiligen Ge­lehr­ten in den katho­lischen Zeit­­altern mit Leichtigkeit fochten." [15] Die philo­so­phi­schen und politi­schen Grund­möglichkeiten sind be­grenzt. Die mei­­sten Gedanken wurden von Be­deutende­ren, als wir Heu­tigen es sind, schon gedacht. Es kann nur noch darum gehen, sie in pole­mi­scher Absicht neu zu kom­binieren und auf aktuelle Be­dürf­nis­se an­zu­wen­den. "Es ist ein typischer Vorgang der Geistes­ge­schich­te, daß wirksame Formeln und eindrucksvolle Worte im geistigen Kampf erobert und umge­deutet werden." Alle gro­ßen Religionen ha­ben ihren Gegnern mancherlei Götter und Hei­lige entrissen und ihrem eigenen Pantheon eingefügt." [16] Zu allen Zeiten, for­mu­lier­te Kon­dy­lis, wurden ein­zel­ne Ge­dan­ken als Bau­­ma­te­ri­alien in Denk­­ge­bäuden sehr ver­schie­de­ner Ar­chi­tektonik be­­nutzt. In der Geistes­ge­schichte setzt sich die­je­ni­ge Strö­­­mung in ei­ner bestimm­ten Zeit durch, "die im­stande ist, frem­des Ge­­­dan­­ken­gut gemäß den ei­ge­nen Zie­len um­zu­deu­ten bzw. um­zu­funk­­tio­­nie­ren, so daß dieses schließ­lich Ab­sich­ten dient, die mit denen sei­­ner Ur­­he­ber sogar im Gegen­satz ste­hen kön­nen." [17] Wir sollten da­rum ganz von dem krampf­­haf­ten Bemühen Ab­stand neh­men, uns und un­­­se­re gei­stigen Kon­tra­hen­ten in Denk­scha­blonen pres­sen zu wol­len. Es ge­­nügt vollauf, das Leben und die uns verbundenen Menschen oh­ne nor­ma­­ti­ven Haß und ideologische Scheu­klappen zu neh­men, wie sie sind. Was uns dann in politicis bleibt, ist der Wille zur Selbst­be­haup­tung, ohne den Gegner zu ver­dam­men, ist die Freu­de an einer Exi­stenz, die auch das antagonisti­sche Gegenüber exi­sten­tiell be­jaht. Denn was wä­re un­ser Leben ohne Kampf, der in der ge­nuin mensch­li­chen Welt der gei­­stigen Auseinan­dersetzung seine edelsten Blüten treibt?

Auseinandersetzungen auch geistig führen zu können, zeichnet uns Men­schen vor unseren tierischen Anverwandten aus. Wir entsinnen uns der Worte Konrad Lorenz': Das geistige Leben ist ein Leben eige­ner, höherer Art. Dar­auf dürfen wir stolz sein. Die Welt der Ideen und Ideale, der Götter und Tugenden - es gibt sie wirklich: in uns! Wir schöpfen sie täglich neu aus uns selbst ad majorem hominem glo­riam. Daß wir dazu fähig sind, bleibt unsere stau­nenswerte Lei­stung, al­len nihi­listischen und ma­terialistischen Zweifeln zum Trotz. Wir ha­ben realistisch erkannt, daß das Denken meta­physischer Ide­ale un­trenn­­bar zum Men­schen gehört und ge­radezu eines sei­ner We­sens­merk­­­ma­le ist. Ver­abschieden müssen wir uns nur von der Hy­bris, das All sei um un­se­­retwillen geschaffen, wir seien das Abbild eines göttli­chen Gei­stes, und irgendwelche trans­zen­denten Kraftlinien des Uni­ver­sums wür­den sich aus­gerechnet auf un­serer lächerlich kleinen Erde in uns kreu­zen. In einem be­schei­denen Au­genblick intellektueller Ehr­lich­keit be­­ken­nen wir uns selbst zu al­lei­nigen Schöpfern unserer Welt­deu­­tun­gen. Wir ver­zichten damit ge­gen­über un­seren Gegnern nur auf die er­­schli­che­ne Au­torität unserer Ge­dan­­ken­ge­spen­ster. Gerade so öffnen wir uns und ihnen den Weg in einen inneren Kosmos der Ideen, in dem es kein Wahr und Unwahr mehr gibt.

 



[1] Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S.82.

[2] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S.359.

[3] Zitiert nach FAZ 8.3.1994, S.37.

[4] Edgar Julius Jung, Herrschaft, S.20.

[5] Konrad Adam, Was von den Richtungskämpfen blieb, FAZ 12.3.1994.

[6] E.J.Jung, Herrschaft, S.160, 225.

[7] Hans Dietrich Sander, Der nationale Imperativ, S.41.

[8] Habermas, Faktizität und Geltung, S.216.

[9] Panajotis Kondylis, Konservativismus, S.36, 63, 80, 161 ff., 168.

[10] Kondylis, Konservativismus, S.60 Fußnote 91.

[11] Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, S.26, 39 ff., 74 f.

[12] Kondylis, Konservativismus, S.60.

[14] Reinhard Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, S.185.

[15] Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus, 1851, S.60.

[16] Carl Schmitt, Was bedeutet der Streit um den "Rechtsstaat"? (1935), in: ders., Staat, Großraum, Nomos, S.121 (127).