Was die heutige Jugend mit den Wandervögeln von einst gemeinsam hat
Klimajugend ist in der Schweiz das Wort des Jahres 2019. Zweifellos ist die grüne Bewegung eine Jugendbewegung. Angetrieben wird sie von einer idealistischen Gesinnung, die für alle Jugend eigentümlich ist. Die Grundmotive der Umwelt- und Klimabewegung unserer Zeit sind dieselben wie die der Jugendbewegung vor hundert Jahren. Das wissen viele Junge nicht, wenn sie höhnisch ihre Oma als Umweltsau beschimpfen. Das haben aber auch viele heute Alte vergessen. Selbst ihre Erinnerung erreicht noch nicht einmal mehr die Kriegszeit, geschweige denn das Jahr – 1925!
In den oft grauen Städten ballten sich die Massenmenschen in oft engen Wohnungen. Wer Arbeit hatte, konnte von früh bis spät schuften, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Die städtische Jugend knabberte hart an tristen Lebensverhältnissen und engen sozialen Verhältnissen. Als Ausweg erschien ihr die grünende und blühende Natur. Man sang:
Aus grauer Städte Mauern
ziehn wir durch Wald und Feld.Wer bleibt, der mag versauern,
wir fahren in die Welt
Völlig anders lagen die sozialen Verhältnisse in der Stadt. Jene Natur, nach der sich die Stadtjugend so sehnte und die sie verklärte, gab es dort damals noch im Überfluß. Sie eignete sich nicht als Wertbegriff, nicht als Ideal. Soziologisch und politisch scheidet bis heute das Land von der Stadt eine andere Sichtweise der Natur. Die Kerntruppen Anti-Atomkraft-Bewegung, die Aktivisten der Klimabewegung und die Masse der GRÜNEN-Wähler rekrutiert sich aus städtischem, gebildeten Bürgertum, nicht vom Lande.
So liest es sich bezeichnend, wenn ein Lehrer Heinrich Hoyer aus Kampen bei Harburg 1925 schrieb:
„Der Jugendbewegung gegenüber verhält sich das Land fast völlig teilnahmslos. Abgesehen von einigen ländlichen Reitvereinen und kleineren Orden und Bünden, die mehr politisch eingstellt sind, ist von einer eigentlichen Jugendbewegung auf dem Lande nichts zu merken. Die Dorfjugend, die in der Stille aufwächst fern vom Getriebe der Großstadt, inmitten einer unverfälschten, gesunden Gottesnatur, die nach ihrer Schulentlassung sofort von morgens früh bis abends spät in die harte Arbeit gespannt wird, die noch heute fast vollkommen unter der Autorität der Eltern oder des Dienstherrn steht, die so eng mit der heimatlichen Scholle verwachsen ist, und die das Heimatdorf als die einzige Gemeinschaft empfindet, diese Dorfjugend wird eine Jugendbewegung aus sich heraus gar nicht verstehen.“
Heinrich Hoyer, Jugendpflege auf dem Lande, in: Turnerjugend, Hrg. von der Deutschen Turnerschaft, 7. jahrgang, Leipzig 19.3.1925, S.78-80.
Für Jugend vom Land ist Natur nur wie eine nützliche Kuh, die man melken kann. Nach der normativ verstandenen Idylle einer „Gottesnatur“ sehnt sich nur die städtische Jugend. Sie bestand vor 100 Jahren in einer breiten Bewegung bündischer Gruppen, die alle nach einer „echten“, einer „wahren“ Natur suchten, die sie werthaft verstanden. Sie pflanzten ihre Ideale in ihre Vorstellung von einer Natur, die sie der „entfremdeten“ städtischen Lebensweise entgegensetzten. Typischerweise gehörten die zum Wandervogel gehörenden Gruppen dazu, aber auch Turner und viele andere.
Diese Bewegung glich der heutigen Klimabewegung auch in dem wesentlichen Punkt, daß sie vor allem emotionale Gefühle befriedigte. Ein bestimmtes Lebensgefühl einte sie damals und verbindet sie mit heutigen jungen Leuten, die mal gegen Atomkraft demonstrierten, mal für den Stopp eines Straßenbaues wegen Gelbbauchunken eintreten, mal vor Klimafurcht in Massenpanik ausbrechen.
Dieses Lebensgefühl sagte und sagt, daß hier zivilisatorisch irgend etwas mächtig schief läuft. Die in Hinterhöfe gepferchte Industriearbeiterschaft Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte täglich, wie menschlich Lebenswertes zerstört und ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnungen geopfert wurde. Für Landebahnen geopferte Wälder, von Abwässern verseuchte Flüsse, in Mietskasernen eingepferchte Nutzmenschen – das sollte es sein?
Die Jugendbewegung maß der Natur einen idealen Eigenwert zu. Nur in „echter“ Natur konnte man ein „wahrer“ Mensch sein, das heißt nach den Vorstellungen, die man sich in der grauen Stadt von wahrem Menschsein machte.
So machte man sich an Wochenenden massenhaft hinaus aufs Land. Doch nur die jugendbewegten Besucher wußten die Natur als Inbegriff ihrer Ideale zu schätzen. Wer diese nicht verinnerlicht hatte, benahm sich schnell daneben. Während der jugendbewegte Lehrer Hoyer in die Natur geht wie in einen Gottesdienst, benutzten viele Städter sie als Ramschladen:
„Wer einmal gesehen hat, was für riesige Scharen von Menschen sich besonders am Sonnabend und Sonntag von den Bahnhöfen aus über das Land ergießen, wer einmal beobachtet hat, mit welcher empörenden Dreistigkeit und Schamlosigkeit ein Teil dieser Menschen sich in völliger Verkennung der Begriffe Freiheit, Natur und Freud in Wald und Heide bewegt, wie man Baum, Strauch und Wiese und Feld im wahrsten Sinne des Wortes rupft, wie man die schöne Gottesnatur auf alle mögliche Art und Weise verunziert, der wird diese Scheu und Abneigung besser verstehen. Für den Landbewohner sind alle diese Menschen die Störer seines Dorffriedens und seiner Behaglichkeit, seiner Wiesen und Felder.“
Heinrich Hoyer in der “Turnjugend” 1925
Auch die wahre Kultur, weiß unser Zeitzeuge von 1925, wohnt nämlich nicht in der Großstadt:
„Die Quellen der Entsittlichung und Unkultur unserer heutigen Zeit sind, naturgemäß, in erster Linie die Großstädte mit ihren vielen Cafés, Bars, Dielen, Kabaretts, Kinos und sonstigen zweifelhaften Vergnügungsstätten. Von dort zieht die Unkultur immer weitere Kreise und sucht allmählich auch auf dem lande Raum zu gewinnen.“
Vom städtischen Hasten und Treiben, ihrer Not und ihrem Elend, weiß er, fliehen die Menschen,
„die sich aus der Enge der Unkultur hinaussehnen in die Natur, die hungern nach einem Stückchen blauen Himmel, nach einem Fleck reiner, unverfälschter Gotteswelt, nach einem Vogellied, nach Blumen, nach Wald und Heide, Dorffrieden und Einsamkeit.“
Natur und Kultur sind nicht objektiv vorhanden. Sie sind Kategorien unseres Denkens, repräsentieren komplementäre Gesichtspunkte unserer Lebenswelt. Beide sind unschätzbar wertvoll für viele Menschen. Sie täuschen sich leicht darüber, daß der Wert nur eine Vorstellung dessen ist, der einem Phänomen einen Wert beimißt. Der Wert ist keine Eigenschaft der Natur oder der Kultur. Wer ein Wertgefühl empfindet, legt Wert auf die so hoch bewertete Sache.
Die Generation der Jugendbewegten vor 100 Jahren suchte den Weg zurück zur Natur. Diese Werthaltung hat seit der Epoche der Romantik in Deutschland ungebrochene Kontinuität.
Heute muß man keinen Atomkern von einem Kirschkern unterscheiden können, um gegen Atomkraft zu sein, und man muß keine meteorologischen oder klimahistorischen Kenntnisse haben, um Klimafurcht zu schüren. Die Liebe zur Natur und die Angst vor ihrer Zerstörung ist nicht wissenschaftlich fundiert, sondern höchst emotional. Wenn es auch tatsächlich gute rationale Gründe gibt, die Artenvielfalt, das Klima und die Biodiversität zu schützen, sind alle diese Gründe nicht ausschlaggebend, die Begeisterung der Jugend für „die Natur“ und die Angst vor “dem Klima” zu erklären.
Und so marschieren sie heute wieder, soziologisch die Ururenkel der Jugendbewegten von einst. Sie sind auch jugendbewegt und wissen es doch nicht. Vielleicht schimpfen sie auf ihre Omas als Umweltsäue und sind doch emotional Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihrem Blute, Geschwister im Geiste und beseelt von derselben Liebe.
Und wieder wehen viele bunte Fahnen über ihren Köpfen. Die Fähnlein der Wandervögel von einst haben sie gegen andere Farben vertauscht, aber in ihren Herzen brennt dieselbe Flamme. Die alten Fahnen der Jugendbewegung stehen heute auf Burg Ludwigstein, wo sich die Wandervögel einst trafen. Diese sind längst ins Grab gesunken mitsamt ihrer Aufbruchstimmung, ihrer Freiheitssehnsucht und Lebensfreude. Ihr Geist lebt fort.
Warum sagt unserer Jugend das niemand?
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