Neuerdings bemißt sich der Wert eines Menschen nach seiner Gesinnung. Nachdem just ein Bundestagsabgeordneter überraschend starb, pries Armin Laschet ihn als „engagierten Demokraten“ und SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich als „angesehenen Sozialdemokraten“. Die meisten seiner Politikerkollegen stellten seine Gesinnung an die Spitze ihrer Würdigung.

Wahrscheinlich hätte es viel Wichtigeres gegeben, mit dem eine Lebensleistung und eine Persönlichkeit gewürdigt werden könnten. Bezeichnend für die gesellschaftliche Dominanz einer Ideologie ist es aber, alle Menschen primär politisch zu bewerten. Wer hier durchs Raster fällt, kann noch so klug oder tüchtig sein, liebenswert oder fleißig, künstlerisch begnadet oder literarisch produktiv: Das zählt alles nicht, wenn man einen Menschen nur durch die getönten Brillengläser seiner Weltanschauung betrachtet.

Auf unserer Gesellschaft lastet ein allgegenwärtiger Konformitätsdruck. Wer Karriere machen will, benötigt eine Schere im Kopf. Sie warnt ihm jederzeit, wenn er vermintes Gelände betritt. Dann bringt sie die Zunge zum Schweigen oder läßt ihn die üblichen, karrierefördernden Phrasen dreschen. Man will ja auf dem Weg nach oben nirgends anecken.

Niccolò Machiavelli durchschaute schon um 1517 ein Phänomen, das immer gilt: Der Zeitgeist prägt das Bewußtsein und fordert sein Recht: Je nach Beschaf­fenheit des Volkes und der Ver­hältnisse ver­­spreche die eine oder eine andere Hand­lungsweise Er­folg.

“Der aber wird weni­ger Fehler machen und mehr Glück haben, der … sei­ne Handlungsweise mit den Zeitverhältnissen in Ein­klang bringt.”

Niccolò Machiavelli, Discorsi, III.Buch, 9. Kap., S.314, desgl.8.Kap.S.312.
Der echte Opportunist neigt sich wie ein Halm immer mit der Masse dahin, wohin ihn der Wind weht.

Wer sich durch schlechte Wahl seiner Mittel in Gegen­satz zu sei­ner Zeit stelle, werde meistens unglücklich, und seine Hand­lun­gen näh­­men ein schlechtes Ende. Ein gutes Ende hat dagegen der Karrierist, der immer weiß, welcher Zungenschlag auf dem Markt der Meinungen gerade gefragt ist. Er biegt sich wie ein Grashalm immer so, wie der Wind gerade weht. Der öffentliche Beifall ist ihm dann sicher. Seine wirklichen Ansichten behält der kluge Mensch dagegen für sich, merkte der Jesuit Baltasar Gracián 1647 an:

Den Weisen wird man nicht an dem erkennen, was er auf dem Marktplatz redet: denn dort spricht er nicht mit seiner Stimme, sondern mit der der allgemeinen Torheit, so sehr auch sein Inneres sie verleugnen mag.

Gracián, Baltasar, Hand-Orakel und Kunst der Weltklugkeit, 1647, übersetzt von Arthur Schopenhauer, 1871, S.27, Nr.43.

Darum hofiert ein echter Höfling in der Monarchie seinen Monarchen, lobpreist in einem Gottesstaat lauter als alle anderen seinen HERRN, und verneigt sich in einer Demokratie tiefer als alle anderen vor dieser Idee. Diese rituelle Verneigung läßt ihn in allen seinen Reden stets die Demokratie an die Spitze seiner Rhetorik rücken. Jedes Argument erscheint unangreifbar, sobald es sich in letzter Konsequenz auf den demokratischen Gedanken stützt.

Da genügt es dann nicht, daß ein Verstorbener ein anständiger Mensch war, vielleicht auch sonst ein hervorragender, liebenswerter Kerl: Nein, zuallererst muß er natürlich ein „aufrechter Demokrat“ gewesen sein. Die Konformität seiner Gesinnung bildet im Gesinnungsstaat das Maß aller Dinge und das ausschlaggebende Kriterium in Nachrufen.

Daß der gesellschaftliche Konformitätsdruck erkennbar steigt, ist ein Alarmsignal. Er steigt gesetzmäßig an, wenn eine neue Gesellschaft aus heterogenen Teile zu konstruieren ist oder eine alte in Fragmente zerbricht. Wo aus diversen Völkerschaften ein Großreich entstehen sollte, mußte ein einheitlicher Kultus durchgesetzt werden: der des göttlichen Pharao in Ägypten, der des vergöttlichten Imperators von Rom, des Christengottes im Reich Karls des Großen oder auch des Karl Marx in der Sowjetunion.

Indem das deutsche Volk sich selbst zerlegt und in eine multikulturelle Gesellschaft umwandelt, muß der Konformitätsdruck gesetzmäßig steigen, um die heterogenen Fragmente ideologisch zu verklammern. Je höher der gegenseitige Haßpegel der potenziellen Bürgerkriegsparteien von rechts, links und von oben, wo bekanntlich Allah wohnt, ansteigt, desto existenzieller ist das Ganze auf neue Konformität angewiesen.

Ob der Schwerpunkt der künftigen Zivilreligion beim herkömmlichen Glauben an „die Demokratie“ liegen und einen verbindenden „Verfassungspatriotismus erzeugen kann oder ob nicht ein Kultus „der Natur“, „des Klimas“ oder „der Diversität“ dominieren wird, wird eine Frage der Generationenfolge sein. „Fridays for Future“ und ihre Nachfolger könnten schwarze Freitage für die Gedankenfreiheit werden. Deren Wert muß anscheinend jede Generation aufs Neue bitter erlernen.

Immerhin ist das geistige Buffet der Geistesfreiheit üppig angerichtet, und noch sind unsere großen Denker frei zugänglich. Die ersten Bücher wanderten allerdings schon in verschlossene Giftschränke mit Triggerwarnungen: Jemand könnte einen Schock fürs Leben bekommen, bei Mark Twain das Wort Nigger zu lesen, vielleicht auch beim Erzpropheten des freien Geistes, der über manche heute unter Naturschutz stehende ethnische Gruppe gar Böses schrieb.

Er beschwor das ganze Pathos des unabhängigen Freidenkers und lachte über das „allgemeine grüne-Weide-Glück der Herde“ mit seiner „Sicherheit und Ungefährlichkeit“:

„In vielen Ländern des Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhaß, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit gegen die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren oder Geld, oder Ämtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar gegen Not und wechselnde Krankheit, weil sie uns immer von irgend einer Regel und ihrem »Vorurteil« losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfaßbares, mit Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk, das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagnis, Dank einem Überschusse von »freiem Willen«, mit Vorder- und Hinterseelen, denen keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuß zu Ende laufen dürfte, […] mitunter Nachteulen der Arbeit am hellen Tag; ja, wenn es not tut, selbst Vogelscheuchen – und heute tut es not: nämlich insofern wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten mittäglichsten Einsamkeit: – eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister!“

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, (1886), Nr.44, S.45 f.

Je mehr Wert jemand auf seine geistige Autonomie legt, deste stärker muß er sich darum um gesellschaftliche Autarkie bemühen und sich sozial unangreifbar machen. Es ist nämlich nicht Merkmal eines schwachen Charakters, wie Petrus im neuen Testament seinen Gott zu verleugnen, sondern eine Frage der wirklichen sozialen Abhängigkeit: Der Sozialpsychologe Harald Welzer und der Philosoph Michael Pauen kommen gemeinsam zu dem Ergebnis:

„Nicht Persönlichkeitsmerkmale seien also in erster Linie ausschlaggebend für selbstbestimmtes, widerständiges Handeln, sondern hindernde oder fördernde Bedingungen, wozu beispielsweise gehöre, keine Sanktionen erwarten zu müssen, sich in räumlicher oder emotionaler Distanz zu anders Urteilenden zu befinden oder um Unterstützung durch Gleichgesinnte zu wissen.“

Roedig NZZ 11,8,2015, Rezension von: Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung, 2015.

Nur die toten Fische schwimmen mit dem Strom. Hand aufs Herz: Leben Sie noch?