Francis Bacon und die Schwurbler

Wie sich das eherne Gesetz der Oligarchie bestätigt

Als Staatsmann und englischer Parlamentarier hat Francis Bacon (1561-1626) Schwurbler verabscheut.

Englisch nüchtern mochte er auch mittelalterliche, scholastischen Argumentationsketten nicht und war Gegner „spitzfindiger Diskussionen, die keine neuen Erkenntnisse bringen.” Er setzte auf eingehende Naturbeobachtung und das Experiment. Die Empirie trat anstelle der Deduktion von Oberbegriffen, die man nur glauben, aber nicht beobachten konnte.

Innerhalb eines Staates beobachtete Bacon keine Menschengleichheit, sondern den gebildeten Adel hier  – und dort “Pöbel”. Als Zeitgenosse des absolutistischen Staatsdenkers Jean Bodin (1529-1596) war er überzeugt, daß eine stabile Regierung zum Besten aller sei, die Schwurbelei des Pöbels aber zu Aufruhr und verderben führe.

Aus seinen Essays SERMONES FIDELES SIVE INTERIORA RERUM steht in der ältesten mir bekannten deutschen Übersetzung[1] das Kapitel XV. DE SEDITIONIBUS ET TURBIS [2] unter der Überschrift

Jüngere Übersetzungen von DE SEDITIONIBUS ET TURBIS bevorzugen statt Schwurbeln (für lateinisch turbis) Begriffe wie Unruhen, was auch nicht falsch ist. Lateinisch turba bedeutet Unruhe, Verwirrung, Getümmel. Das Wort schwurbeln fand ich in keinem meiner modernen Deutsch-Lexika, aber bei Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, Sammlung von Wörtern und Ausdrücken, von 1836:[3]

Danach wäre Schwurbeln also ein körperliches, unkontrolliertes Durcheinanderwirbeln.

Die staatsabsolutistische Sicht

Bezeichnend für Bacons staatsabsolutistische Sicht ist bereits das Sprachbild, mit dem er das Verhältnis zwischen Regierung und Untertanen malt: Hirten hier, also offenbar dort nur Herde. Dem damaligen Lordkanzler seiner machtbewußten Königin stand diese Perspektive gut an: Der Hirte denkt und lenkt, die dumme Herde muß folgen. Der Monarch weiß, was für seine Untertanen gut und richtig ist. Wenn diese murren und schwurbeln, bringen sie nur das fein gewobene Geflecht der Regierungspolitik durcheinander.

Aus dieser Perspektive blickt auch unser medial-politischer Machtkomplex angeekelt auf seine schwurbelnden Untertanen. Das Verb schwurbeln war in Deutschland bis kurz vor der letzten Jahrhundertwende im Schriftdeutsch ungebräuchlich. Linksdrallige Intellektuelle suchten dann ihre eigene Überzeugungskraft zu unterstreichen, indem sie landläufige Vernunft und „populistische“ Forderungen des einfachen Mannes als Schwurbelei verhöhnten.

Spätestens seit den heftigen Auseinandersetzungen um die COVID-Verbotsmaßnahmen und die Impfpolitik wurde schwurbeln zur geläufigen Kampfvokabel und Killerphrase unserer gouvernementalen Politikerkaste und ihrer Medienmeute: Wer schwurbelt, dem muß man gar nicht zuhören. Man darf ihn von der Diskussion ausschließen, wenn man nicht gleich seine Polizei auf ihn hetzt. Er wird zum Paria, zum Delegitimierer, weil er die Weisheit der Regierungsparteien und ihrer Behörden bezweifelt.

Francis Bacon hat die heute noch aktuellen Anlässe für schwurbelnde Unzufriedenheit ausdrücklich aufgezählt:

Die Ursachen der Aufrühre seyn diese / Neuerung in Glaubenssachen/ Auflagen/, Steuren/ Änderung der Gesetze und Landsbräuche/ brechung der alten Freiheiten und Rechtsbegnadigungen/ allgemeine Unterdruckung/ beförderung zu hohen Ehren und Aemtern unwürdiger Personen oder Ausländer / Teurung der Lebensnohtdurften/ unfleissigabgedanckte Kriegsvölcker/ verzweiffelt gemachte Rotten. Und alles was letztlich das Volck erzörnt/ vereinigt selbiges auch in gemeiner Sache/ und macht zusammenrottierungen unter selbigem.

Unsere heutigen „Neuerungen in Glaubenssachen“ bestehen in einer völligen Umstülpung aller bürgerlicher Wertmaßstäbe und die befohlene  Transformierung Deutschlands in ein protosozialistisches, multikulturelles Klima-Nirwana unter der neuen Priesterherrschaft rotgrüner Ideologen.

An Auflagen fehlt es nicht, vom Heizungsgesetz bis hin zu unzähligen anderen grünideologischen Verboten bis hin zu verordneten Sprachregelungen.

Steuererhöhungen zur Finanzierung ihrer spleenigen Ideen ist das Hobby unserer Regierung.

Francis Bacon 1617 (Wikipedia, gemeinfrei)

Gesetze und Landesbräuche werden im Stakkato geändert. Jeden Morgen will man keinen Fehler machen und fragt vorsichtig, wie viele Geschlechter es denn heute geben soll.

Man nimmt uns nach der Salamitaktik eine Scheibe unserer alten Rechte und Freiheiten nach der anderen, indem die Strafrechtsschraube gegen freie Meinungsäußerungen fester und fester angezogen wird, und indem vom Autofahren bis zum Silvesterböller verboten wird, was das Zeug nur hält.

Unwürdige Küchenhilfen und Ausländer werden in hohe Staatsämter berufen. Haben die GRÜNEN ihre Agenda bei Bacon abgeschrieben?

Die Inflation („Teuerung der Lebensnotdurft“) nimmt breiten Schichten ihren erarbeiteten Wohlstand. Wir leben von der Substanz, wenn nicht von Schulden.

Immerhin schafft gegen verzweifelt gemachte Rotten wie “Querdenker” noch die Polizei Abhilfe, besonders wenn diese Deutsche sind.

Deutsche und
lateinische Ausgabe

Aus der Geschichte lernen

Aus der Geschichte lernen nur die nicht, die sie nicht kennen. Francis Bacon kannte nicht nur seine Zeit. Als Renaissance-Gelehrter verfügte er über einen damals selbstverständlichen Wissensfundus der Antike. Er zitiert Vergil und Tacitus. Erst Geschichtswissen schafft Vergleichsmöglichkeiten.

Robert Michels (Wikipedia)

Der Kölner Soziologieprofessor Robert Michels formulierte in seinem 1911 erschienen Werk zur Soziologie des Parteienwesens[4] den Begriff des „ehernen Gesetzes der Oligarchie“. Es besagt: In jedwedem politischen System herrschen – vor oder hinter den Kulissen, nur ein paar hundert Leute, eine „Funktionselite“. In Umwälzungen oder Revolutionen gelangt eine neue, andere Elite an die Macht. Diese wird in der Art und Weise ihrer Machtausübung aber in kürzester Zeit genau so, wie die von ihr verhaßte alte Elite vorher auch aufgetreten war.

Im Besitze der Macht geht in dem Re­vo­lutionär eine Umwand­lung vor, an deren End­punkt er, wenn nicht der welt­an­schau­lichen Legitimation, so doch der Sub­stanz nach, den Ent­thronten so ähn­lich wird wie ein Haar dem an­de­ren.[5]

Robert Michels, 1911, S.196.

Es ist ganz gleichgültig, ob ein Land eine monarchische Verfassung hat oder eine parlamentarische: Nach einer gewissen Zeit versteht sich die jeweilige Funktionselite als unfehlbar, identifiziert sich mit ihrem Staat und sieht jede Krtik als Angriff auf den Staat an. Die Parteiendemokratie neigt dazu, anstelle der nominellen Herrschaft des Volkes eine eigene Herrschaft der herrschenden Parteien zu errichten. Wer diese anzweifelt, der schwurbelt, der delegitimiert.

Über die Demokratie bemerkte Theo­phrast (371-287 v.Chr.), der größ­te Ehr­geiz der die höchsten Stellen im Volks­staate ein­neh­men­den Männer bestehe nicht so sehr in der Sucht nach Ge­winn und Berei­cherung, als viel­mehr darin, auf Kosten der Sou­ve­ränität des Vol­kes all­mäh­lich eine eigene zu gründen.[6] Jede einmal in den Besitz der Macht ge­lang­te Gruppe neigt dazu, diese festhalten zu wollen. Unsere Neosozialisten nennen das heute “Transformation”: die “systemüberwindenden Reformen”, von denen sie seit den 1968er-Unruhen (Schwurbeleien?) ja träumen.

Im Zeitalter der De­mo­kratie spre­chen und kämpfen alle Fak­toren des öf­fentlichen Le­bens nominell im Na­men der Gesamt­heit. Alle Grup­pen, welche die Macht fest­zu­halten su­chen, be­rufen sich zu ih­rer Eigen­legi­timation auf deren an­gebliches Wohl.[7] Je­de Par­tei sucht sich des Staates zu be­mächti­gen und sich für das Allge­mei­ne aus­zuge­ben.[8] Vor allem, wenn sie als Abgeordnete in einer demokratischen Legislative sitzen, bilden sie sich manch­mal ein, sie selbst seien das Volk.[9] Be­griff­lich bedeutet diese Iden­tifi­zierung von Re­gie­rung und Partei den rei­nen, nach dem BVerfG[10] verfassungs­wid­rigen Par­teienstaat.

Schwurbel ist wie Aufruhr

Auch die Fake News hatte Francis Bacon schon im Auge:

Wann Schmähschriften und vermessen-spitzige Reden herumgehen und überhand nehmen, ingleichen verlogene Zeitungsmähren zu der Regierung Verschimpfung hier und dar ausgesprengt werden, das seyn gewisse Vordeutungen der Empörung oder Aufruhr.

Francis Bacon, SERMONES FIDELES SIVE INTERIORA RERUM, deutsche Ausgabe Getreue Reden der Sitten=, Regiments= und Haußlehre betreffend, Nürnberg 1654, XV., S.97.

Es sei beobachtet worden, daß „zwischen aufrührerischem Schwurbel“ und einem allgemeinen Rufe zum Aufruhr kein „andrer Unterschied bestehe, als zwischen einem Bruder und einer Schwester, zwischen einem Mann und Weibsbilde“ (ebenda S.97/98).

Als sicherstes Mittel, Aufruhr zu vermeiden, sieht Bacon, seinen Anlaß aus dem Weg zu räumen. Wo nämlich eine Flamme einen Zunder an der Hand habe, wisse niemand, wo der Funken entspringen werde. Der Stoff der Aufrührer bestehe immer ein großer Mangel und ein Überdruß an den gegenwärtigen Verhältnissen. Je mehr verdorbene Existenzen und verarmte Leute es gebe, desto mehr Zulauf bekämen die Aufrührer. Sei erst das Hab und Gut der Mächtigen und Vornehmen erschöpft und komme Armut des Pöbels hinzu, „so steht die größte Gefahr bevor“ (S.103).

Letztlich sollen die Fürsten auf allen Nothfall gewisse in Kriegswesen und in der Dapferkeit berühmte Leute um sich haben, die Aufrührer bei erster Regung zu unterdrücken.

Francis Bacon, SERMONES FIDELES SIVE INTERIORA RERUM, deutsche Ausgabe Getreue Reden der Sitten=, Regiments= und Haußlehre betreffend, Nürnberg 1654, XV., S.115.

Die ersten Regungen heutiger “Aufrührer” erkennt man daran, daß sie quer denken, was verdächtig ist. Queer denken hingegen dürften sie, entsprechend er eingeleiteten “Transformation”. Man bekämpft sie, dem Rat Bacons folgend, amtlich durch Ausgrenzung, Stigmatisierung, Kriminalisierung. Es ist leicht, jemandem den Stecker zu ziehen, wenn er sich nur durch Medien wie das Internet massenwirksam äußern kann. Für den äußersten Notfall, zum Beispiel einem drohenden Rollatorputsch aufrührerischer Rentner, gibt es dann immer noch die gute, alte Polizei.

Der von Bacon intellektuell aufgerüstete absolutistische Machtstaat seiner Zeit war im Kern ein Polizeistaat, wenngleich der einfache Bürger sich manches erlauben durfte, was unsere Obrigkeit heute sofort unterbinden kann. Wer die Macht bedrohte, war ein Schwurbler und durfte entsprechend behandel werden. Hat sich daran im Kern etwas geändert?

Der absolute Parteienstaat verteidigt seine Macht mit Zähnen und Klauen. “Wir”, predigen seine Funktionäre und Medienleute, “haben die Weisheit mit Löffeln gefressen, verkündigen die alleinige Wahrheit, und wer dagegen anschwurbelt, ist ein Staats- und Verfassungsfeind!”

Auch ein ideologisch gelenkter Parteienstaat kann absolutistisch auftreten. Dann unterliegt seine herrschende Funktionselite aber dem ehernen Gesetz der Oligarchie. Für unsere derzeitigen Politfunktionäre bedeutet das, sich von demokratischen Idealvorstellungen immer weiter zu entfernen, das Volk durch Phrasen wie “Schwurbler” zu verhöhnen und sich notfalls nur noch mit Verfassungsänderungstricks oder Polizeigewalt an der Macht halten zu können.


[1] https://books.google.de/books?id=ZF1lAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false

[2] Lateinisches Original: Text: https://www.thelatinlibrary.com/bacon/bacon.sermones.shtml. Faksimile: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10039769?page=7

[3] https://books.google.de/books?id=oZcPAAAAQAAJ&pg=PA548&dq=schwurbeln&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwils67y9bSDAxVCh_0HHZ7EDfgQ6AF6BAgIEAI#v=onepage&q=schwurbeln&f=false

[4] Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demo­kratie, 1911, 4.Aufl.Stuttgart 1989., S.13, 351 f., 354 beruft sich seinerseits auf Vorläufer wie Vilfredo Pareto und seine Théorie de la circulation des élites. Vgl. eingehend Klaus Kunze, der totale Parteienstaat, 1994.

[5] Michels, Soziologie,  S. 196.

[6] La Bruyère, Caractères, suivis des caractères de Théophraste, S.381.

[7] Robert Michels, Soziologie a.a.O., S.17.

[8] Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905, S.37.

[9] Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel, Politische Thorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter, 1994, ISBN 3-8252-1788-4, S.435.

[10] BVerfG E 20, 56 f., 101.

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  1. Bernhardt

    Droht die Unzufriedenheit des Wahlvolkes ein Erdbeben auszulösen?
    Die Grünen haben ihre Seele verkauft, sind eine ganz gewöhnliche bürgerliche, kleinbürgerliche Partei geworden.
    Was möchten die Grünen eigentlich beweisen: dass sie nicht nur salonfähig sind, nicht nur NATO-verträglich, sondern der Hauptpfeiler der inneren wie der äußeren Sicherheit? Durch all dieses Anpassen und Anbiedern haben die Grünen jedenfalls ihre Substanz verloren, sind blut- und geistesarm geworden und eigentlich politisch überflüssig.
    auf deren Kongressen nicht mehr mit Biowolle gestrickt und gehäkelt, sondern mit kriegerischen Parolen eingepeitscht wird, allen voran Baerbock und Hofreiter. Die Grünen haben sich verfärbt.

  2. Den Begriff Schwurbeln möchte ich nicht missen. Ich glaube, daß er ursprünglich unabhängig von politischen Zusammenhängen benutzt wurde. Durch das Internet hat Schwurbelei aller Konsorten natürlich kräftig an Widerhall gewonnen. Und das scheint von jenen, die öffentliche Meinung aus dem Hintergrund heraus lenken, doch durchaus gewollt zu sein. Alles wissenschaftsfernes, ideologie-geleitetes Gerede ist für mich Schwurbeln. Kein Politiker kriegt heute den Mund auf, ohne zu schwurbeln, von seltenen Ausnahmen abgesehen.

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