Warum massakrieren Menschen so gern?

Am 2015 wurden im Pariser Bataclan 130 Menschen ermordet. Um 2800 v.Chr. starben 15 Männer, Frauen und Kindern einer Familie bei Krakau durch Schläge auf den Kopf, wie das Wissenschaftsmagazin PNAS am 6.5.2019 veröffentlichte. Verbindet ein Erklärungsmuster solche Massaker? Der US-Biologe Mark W. Moffett hält in seinem neuen Grundlagenwerk über den Zusammenhalt menschlicher und tierischer Gesellschaften einen Schlüssel zum Verständnis bereit.

Die in Koszyce bei Krakau Ermordeten gehörten zur Kugelamphoren-Kultur (um 3200-2700 v.Chr.). Sie bestanden genetisch zu 30% aus ursprünglicher Jäger-Sammler-Bevölkerung, zu 70% aber aus Nachkommen von Kleinasien eingewanderter Bauern (kulturell Linienbandkeramiker). Diese hatten sich in Mitteleuropa lange stark ausgebreitet, sind aber inzwischen fast völlig aus unserem Genpool verschwunden.

Aus dem Steppengebiet nördlich des Schwarzen Meeres waren nämlich im 3. Jahrtausend Stämme westwärts bis zu den britischen Inseln vorgedrungen, die von Sprachwissenschaftlern übergreifend als Indogermanen bezeichnet werden. Am Beispiel der ausgelöschten Sippe von Kugelamphoren-Leuten können wir erkennen, warum wir hauptsächlich von Indogermanen abstammen und nicht von Kugelamphoren-Leuten und deren kleinasiatischen Ahnen.

Massaker wie im heutigen Koszyce durch die Grabung dokumentiert, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben und sind auch für das steinzeitliche Kenia (10000 v.Chr.) und Deutschland (Talheim um 5100 v.Chr.) nachgewiesen. Neigen Menschen biologisch zum Brudermord? Moffett reduziert das Menschsein nicht aufs Biologische, sondern entfaltet ein Spektrum an Argumenten von der Ethnografie über die Geschichtsschreibung bis hin zur Psychologie.

Mark W. Moffett, Was uns zusammenhält, Eine Naturgeschichte der Gesellschaft, 1. Auflage 2019. Buch. 688 S. ISBN 978-3-10-002385-8.

Der Fremde wird erkannt

Daß Tiergesellschaften Konkurrenz der eigenen Art bekämpfen und vollständig auslöschen können, kennt er als Spezialist für Ameisenvölker bis hin zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen. Diese führen regelrechte Vernichtungskriege gegen konkurrierende Horden. Doch woran erkennen sie, wer zur eigenen Gruppe zählt und wer fremd ist? Ameisenvölker erkennen sich am Geruch, und Säugetiere wie Affen kennen einander persönlich. Schimpansen-Gesellschaften werden nie größer als etwa 200, weil sie sich nicht mehr Mitglieder merken können. Menschliche Gesellschaften sind dagegen potentiell unbegrenzt groß. Unser evolutionärer Fortschritt besteht darin, in anonymen Gesellschaften an kulturellen “Markern” zu erkennen, wer “Wir” und wer die anderen sind. Solche Kennzeichen können eine Sprache sein, eine Bemalung, die Bekleidung oder Haartracht, ein Abzeichen, ein Ritus oder vieles andere.

Die Nutzung gemeinsamer Marker ermöglicht uns, auch mit persönlich Unbekannten unserer eigenen Gesellschaft angstfrei umgehen, gehören sie doch zu “uns”. Sie birgt aber auch eine Gefahr, weil sie alle ausschließt, die aus dem Raster fallen. Anhand unzähliger ethnologischer und historischer Beispiele weist Moffett nach, daß diese jeweils “Anderen” psychologisch aus dem “Wir” und damit häufig geradezu aus dem Menschsein ausgeschlossen werden. Es scheint menschlich zu sein, andere als “unmenschlich” auszugrenzen. Schon Konrad Lorenz 1973 und Eibl-Eibesfeldt 1994 hatten von Pseudo-Artbildung gesprochen, wenn die benutzten Marker erheblich voneinander abweichen. Unsere Biologie hindert uns nicht daran, solche “Anderen” bis zur Ausrottung zu bekämpfen.

Auf der Blutspur

Von dem Massaker in Polen vor 4800 Jahren führt eine Blutspur über die Ausrottung von Indianerstämmen bis ins Bataclan. Aus Perspektive der Täter unterscheiden sich die Merkmale Pariser Metal-Fans so tiefgreifend von islamischen, daß Ermordung geradezu als gottgefällige Tat erscheint. „Fremde Marker“ führen zwar nicht zwangsläufig zu Konflikten oder gar Massakern. Bei passendem Anlaß markieren sie aber aus Tätersicht die passenden Opfer.

Um den Menschen als des Menschen Wolf zu bändigen und inneren Frieden zu stiften, schuf der Staat der beginnenden Moderne verbindende verbindenden gemeinsamen Riten, Hymnen, Fahnen und Abzeichen, also verbindliche „Marker“ im Sinne Moffetts. In zerfallenden Staaten bilden sich heute konkurrierende Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft. So wurden Tutzis von Hutus und Moslems von Serben massakriert. Wir können das Auseinanderbrechen auch vormals homogener Gesellschaften in feindselige Teile täglich beobachten. Nur mit massiver staatlicher Gewalt lassen sich manche Subkulturen auseinanderhalten, die sich bis zum Exzeß eigener Marker bedienen. Unter speziellen Symbolen, besonderer Bekleidung oder gleichförmigen Parolen werden Außenstehende so erbarmungslos attackiert, wie eine Ameisen- oder Schimpansengesellschaft die andere bekämpft. „Die anderen“: Das kann die Staatsmacht sein, wenn ein “Schwarzer Block” haßerfüllt auf Polizei losgeht, „die Ungläubigen“, die Hooligans des „feindlichen Vereins“ oder irgendwelche verdächtigen Fremden.

Echokammer und Kommunikationszusammenbruch

Für Moffett zerfallen gesetzmäßig alle Gesellschaften irgendwann. Es entspreche „harter Realität, daß Gesellschaften nur ein bestimmte Menge von Veränderungen verkraften. Irgendwann läßt sich das soziale Gewebe nicht mehr flicken.“ Das Zugehörigkeitsgefühl werde auf eine Untergruppe übertragen. Erst breche die Kommunikation zusammen. Man bildet Echokammern und verhängt Sprechverbote. „Wenn wir die mentalen und emotionalen Fähigkeiten anderer Menschen als unterentwickelt beurteilen und ihnen eine fehlende Ethik unterstellen,“, klagt Moffett, „halten wir uns selbst davon ab, mit ihnen in normalen Austausch zu treten.“

Je mehr Veränderungen sich bei den Markern einer Gesellschaft ansammeln, desto zersplitterter werde sie. Am Ende erreiche jede Gesellschaft ihre Belastungsgrenze. Dann betrachte jede Fraktion die andere als feindselig „mit einer unerträglichen Identität und Handlungsweisen, die außerhalb der Grenzen der Gesellschaft liegen.“ Wie Schimpansen hätten auch Menschen die „Fähigkeit, die Wahrnehmung zu »unseresgleichen« abzuschalten. Wenn später eine Gräueltat begangen sei, „beurteilen wir diejenigen, denen Unrecht geschehen ist, als nicht menschlich, und dies verwandelt sich in einen Schutzmechanismus, der die Schuldgefühle lindert und uns das Weitermachen ermöglicht.“ Gerade Bürgerkriege zeigten: „Eine veränderte Reaktion der Menschen auf andere Mitglieder ihrer eigenen Gesellschaft kann im Handumdrehen den ganzen Weg zu empörender Entmenschlichung und regelrechter Brutalität zurücklegen.“

Das Auseinanderbrechen der Gesellschaft

In Gesellschaften herrscht ein reges Kommen und Gehen. Jeder darf kommen, und niemand muß bleiben. Darum sind Gesellschaften instabil. Wenn sie sehr heterogen sind, kann man sie manchmal mit einer verbindenden Ideologie zusammenhalten. das kann ein gemeinsames Zeichensymbol als Marker sein wie das Christenkreuz oder etwas beliebiges Anderes.

Eine wirkliche Gemeinschaft ist auf äußere Zeichen oder eine Ideologie nicht angewiesen. Ihre Mitglieder kennen und erkennen sich ohnehin, zum Beispiel, weil sie verwandt sind.

Ab dem Alter von drei Jahren sehen Kinder bereits „in ihrer Gesellschaft, aber auch in ihrer race oder ethnischen Gruppe wesentliche unveränderliche Aspekte ihrer Identität, die ebenso durch eine Wesensform dauerhaft festgelegt sind wie die biologische Art.[1] Mehr als viele Eheversprechen bleibt uns eine nationale oder ethnische Identität treu, bis der Tod uns scheidet.“[2] Es mag enttäuschend für Konstruktivisten und manche Politologen sein:

„Wir können versuchen, unseren Stammbaum zu verbergen, indem wir in die Lebensweise einer anderen Gruppe eintauchen, aber so raffiniert wir uns auch tarnen: Jemand, der Bescheid weiß, wird spüren, daß unsere Wesensform noch vorhanden ist. […] Selbst Menschen, die im Laufe mehrerer Generationen aus Mischehen hervorgegangen sind, fügen sich nicht vollständig ein[3].“[4]

Mark Moffett

Für Moffett kommt es bei Rassenfragen gar nicht darauf an, ob es Rassen genetisch gibt. Entscheidend ist, ob Gesellschaften fremdartiges Aussehen als Marker nutzen.

Viele Soziologen und andere behaupten, race sei ein soziales Konstrukt – willkürliches Produkt unserer Phantasie. Das ist sinnvoll angesichts der Tatsache, daß die von uns als races bezeichneten Gruppen in der Evolution durch die allmähliche Verschiebung körperlicher Merkmale über kontinentweite Entfernungen entstanden sind, wobei es dazwischen alle möglichen Zwischenstufen gibt. Wenn man aber von Gesellschaften spricht, die aus Menschen unterschiedlicher Abstammungslinien bestehen, die meist aufgrund von Wanderungsbewegungen ganzer Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichem Aussehen in Kontakt gekommen sind, dann kann race auch eine solide Bedeutung haben. Gesellschaften anderer biologischer Arten wandern nicht so weit, daß auf die gleiche Weise hinsichtlich race Unterscheidungen zwischen Nachbarn entstehen könnten.[5]

Mark Moffett

Kulturelle Marker wie zum Beispiel die Sprache verfestigen das Band weiter: Sie „verleihen Menschen die Zähigkeit, mit der sie anderen Mitgliedern treu bleiben.“[6]. Die an solchen Markern ablesbare Zugehörigkeit zur Gemeinschaft läßt uns auch Unbekannte so behandeln, als zählten sie zur Familie.

Eingrenzung und Ausgrenzung

Man kann aber auch Personen oder sich selbst aus dem Familienkreis ausgrenzen, indem man sich durch besondere Marker von ihnen absetzt. Die pubertierende Punkerin mit lila Irokesenschnitt und Ketten an der Hüfte demonstriert bei Kaffeekränzchen mit Onkeln und Tanten auf der Familienfeier: Aus ihrer Sicht gehören die alten Tussen gewissermaßen bereits einer anderen Spezies an.

Nancy Faesers “Marker” auf der Tribüne bei der Fußball-Weltmeisterschaft ist ein hochaggressives Symbol.

Ein erprobtes Mittel der Eingrenzung und zugleich Ausgrenzung bilden Armbinden wie einst bei der SA und heute der Innenministerin Faeser. Wer sie nicht trägt, gehört nicht zu den Guten. Steigern läßt sich die Ausgrenzung, wenn sie mit Zwang zum Tragen eines stigmatisierenden Markers verbunden wird. Diese Methode wurde in Deutschland nach 1933 angewandt. 2022 konnten sich die politischen Stimmen nicht durchsetzen, die entsprechende Marker für Ungeimpfte gefordert hatten.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) präsentierten am Mittwoch den Entwurf des neuen Infektionsschutzgesetzes.Oder besser: Sie legten klammheimlich die Pflicht zur vierten Corona-Impfung vor. Denn geht es nach den beiden Ministern, soll ab Oktober am gesellschaftlichen Leben nur noch teilhaben, wer einen Genesenen-, Test- oder Impfnachweis vorlegen kann, der nicht älter als drei Monate ist. Das sei ein gutes Zeitfenster dafür, «wahrscheinlich gut geschützt» zu sein. Wer also in Bars, Restaurants, Stadien, Kinos oder Clubs gehen möchte, für den gilt «3 G». Bizarr ist die Ausnahme davon: Wer kein Zertifikat hat, soll eine Maske tragen müssen.Kurz: Dann gilt Maskenpflicht. Damit diese Abweichler in der geimpften Masse nicht einfach ohne Mund-Nasen-Schutz untertauchen können, sollen sie sichtbar gemacht werden. Der Justizminister empfiehlt sogar, die Personen mit «Aufklebern» zu kennzeichnen. Warum nicht gleich eine Armbinde? Oder einen Aufnäher an der Kleidung?

Roman Zeller, Die Weltwoche 4.8.2022

Moffett stellt ganz nüchtern fest, die Herabwürdigung Außenstehender bis hin zu Greueltaten stelle “unter rein evolutionären Gesichtspunkten einen beträchtlichen Gewinn dar”[7]: Die anderen gibt es dann künftig einfach nicht mehr – Koszyce und Thalheim lassen grüßen.

Wenn die Tat geschehen ist, beurteilen wir diejenigen, denen Unrecht geschehen ist, als nicht menschlich, und dies verwandelt sich in einen Schutzmechanismus, der die Schuldgefühle lindert und uns das Weitermachen ermöglicht.[8]

Mark Moffett

“Marker”, schreibt Moffett lapidar, “sind letztlich Eigenschaften, die wir öffentlich machen, um uns als echte Menschen zu präsentieren.” Wer sie nicht aufweist, gehört nicht dazu. Politiker wie Nancy Faeser benutzen solche Marker intuitiv. Ihre politischen Gegner sind dann anscheinend keine Menschen, jedenfalls keine echten, keine Gutmenschen, und sollten entsprechend behandelt werden. Sie erklimmt damit die erste Stufe auf jener bekannten Treppe abwärts, die über Dachau und Buchenwald, das Bataclan, Ausrottungen im Zeichen des christlichen Kreuzes bis in die Steinzeit der Massenmorde von Koszyce und Thalheim führt.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Licht betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.

Erich Kästner

[1] Fußnote von Moffett: C.L.Martin und S.Parker, Folk theories about sex and race differences, 1995, PersSocPsychol B.21:45-57.

[2] Moffett (2019) S.256.

[3] Fußnote von Moffett: M.F.Hammer et allii, , Jewish and Middle Eastern non-Jewish populations, Proc Nat Acad Sci 97:6769-6774.

[4] Moffett (2019) S.257.

[5] Moffett (2019), S.162 f.

[6] Moffett (2019) S.378)

[7] Moffett (2019), S.293.

[8] Moffett (2019), S.293 mit Hinweis auf Castano und Giner-Sorolla (2006).

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