Wer die Angstwellen zum Rollen bringt

Es gehört zu den bewährten Methoden der Machtgewinnung und ihres Erhalts, eine apokalyptische Gefahr heraufzubeschwören und sich zum Verteidiger höchster Menschheitswerte aufzuschwingen: „Alles hört jetzt auf mein Kommando!“ Solche Gefahren mögen real sein oder nur Popanze der Propaganda. Die Masche zieht in beiden Fällen. Manche Angstwellen beruhen wirklich auf unterirdischen Erdbeben. Machmal klopfen ihre Erzeuger aber nur heimlich unter die Tischplatten und warnen die Verängstigten vor dem Donner.

Und immer schart sich die Masse der Ängstlichen um die selbsternannten Retter vor dem Bösen und Anführer der irdischen Heerscharen. Massenpsychologisch gilt, was immer gilt. In Zeiten der Massenmedien gilt es sogar doppelt und dreifach.

Sie jagten uns Ängste ein, schröcklich an Corona zu verenden, und siehe da, mehrheitlich scharten die Deutschen sich so gläubig und willig unter Merkel & Co wie ihre Urgroßväter sich einst gläubig um ihren Führer scharten, wenn der vor dem „Weltjudentum“ warnte und sich als Retter pries. Jetzt haben die USA uns Europäer durch ihre Strategie in die Rolle von Frontstaaten manövriert. Putin übernahm nolens volens die des Erzteufels. Am geeignetsten ist ein Feind, den man nicht erst erfinden und an die Wand malen muß. Der Gottseibeiuns ist tatsächlich da! Europa schlotterte. König Biden rief, und alle, alle kamen. Die hirntote NATO erwachte aus ihrem Dornröschenschlaf. Alles schart sich gläubig und willig um die „westliche Führungsmacht“. Im Reichstag kennt man mal wieder keine Parteien mehr, man kennt nur noch deutsche Demokraten, zum letzten entschlossene Gutmenschen. Gold geben sie für Eisen.

Welcher Teufel ist der nächste?

Sobald der letzte Schurkenstaat vor unserer Haustür liberalisiert sein wird, wird man sich nach neuen Gefahren umschauen müssen. Ohne einen sichtbaren Erzteufel wird die liberale Gesellschaft wieder in einander hassende Fraktionen auseinanderfallen. Nur kurz herrscht Burgfrieden und ist die Spaltung der Gesellschaft suspendiert. China böte sich an, weist aber nicht die passende Größe auf. Vielleicht geht es ja eine Nummer kleiner.

Niccolo Machiavelli wußte:

Wenn er außerhalb seiner Grenzen keinen Feind hätte, so würde er ihn im Innern finden. Dies scheint das unvermeidliche Schicksal aller größeren Freistaaten zu sein.

Niccolò Machiavelli, Discorsi, II. Buch, 19. Kapitel, Kröner-Ausgabe, S.226.

Der Feind im Innern wird leicht zu finden sein. Er trägt die Züge von Adolf und Wladimir zugleich, vielleicht auch ein wenig von Vlad dem Pfähler. Nach der Pazifizierung Rußlands wird es auf historische Feinheiten und Differenzierungen nicht mehr ankommen. Der Erzfeind des Liberalismus ist der ewige Nazi, welches Gesicht auch immer er gerade annimmt. Notfalls hilft ein wenig Schminke. Er kann sich schließlich nicht wehren. Schließlich ist er keine reale Gestalt, sondern eine virtuelle.

Und weil wir so liberal sind, fangen wir gleich damit an, alles nicht Liberale als nazistisch zu entlarven. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Die erkennen wir daran, daß sie partout nicht liberal sein wollen. Und an unserer Schminke in ihrem Gesicht, versteht sich.

Als linientreue Liberale werden wir die Fakten checken und das Schrifttum von illiberalen Lügen und Geschichtsfälschungen reinigen. Für unsere Bürger ist nur die Wahrheit gut genug. Unsere Wahrheit. Zensur gibt es natürlich bei uns nicht. Wir sind ja liberal und haben die Pressefreiheit erfunden. Aber wir haben ja auch einen Schutzauftrag: unsere Bürger vor dem Bösen und seinen Lügen zu bewahren. Verbotene Bücher gibt es zwar nicht. Wenn wir aber welche finden, beschlagnahmen wir sie, stecken sie in den Ofen und den Besitzer ins Gefängnis.

Zensur (hier 1847) findet im Liberalismus nicht statt – Verfolgung schon.

Zensur findet nicht statt

Wo ein echtes Problem steckt, erkennt man manchmal erst in der Überzeichnung. Sie ist keine Phantasie, keine Erfindung, sondern nur eine Extrapolation gegenwärtiger Ereignisse und ihre Projektion in eine mögliche Zukunft. Während die Augen der Zuschauer in der ersten Reihe verängstigt darauf schauen, wovor sie sich eben gerade ängstigen sollen, sind sie etwas abgelenkt. Da saß kein Reporter im Gerichtssaal, als das Amtsgericht Kassel just am Tag von Putins Einmarsch einen Fernfahrer freisprach (247 Cs 11622 Js 27422/21).

Die Staatsanwaltschaft hatte den Mann angeklagt, ein Buch in seinen Besitz gebracht zu haben. Ein böses Buch wahrscheinlich. Ich kenne es selbst nicht, wie auch, wenn der Besitz riskant ist?

Doch in Deutschland genügt heute bereits der bloße Besitz eines Buches, um von einer Staatsanwaltschaft angeklagt zu werden. Die Anklage warf dem Mann vor, am 20. Sepember 2017 eine Schrift bezogen zu haben, deren Inhalt gegen § 130 Abs.2 StGB in der damaligen Fassung verstoßen haben sollte, um sie anderen zugänglich zu machen, die sie „aus weltanschauungsbildenden Gründen“ hätten studieren sollen.“ Das Amtsgericht Kassel hat den Mann freigesprochen, weil keinen Anhaltspunkt für diesen, anscheinend frei erfundenen Vorwurf gab.

Im Rahmen eines Strafverfahrens der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen den Buchzwischenhändler Libri GmbH (7101 Js 1092/20) war bekannt geworden, daß 16 Einzelkunden das Buch „Der Auschwitz-Mythos“ von Wilhelm Stäglich als E-Book bestellt und über Buchhandlungen erhalten hatten. Dieser und weitere solche Titel waren Libri 2016 durch seinen Lieferanten, den US-Großhändler Lightning Source Inc. als erhältlich gemeldet worden und wurden auch in Deutschland für 5,99 € als frei erhältlich beworben. Unser Lastwagenfahrer griff zu, ohne von dem Autor oder dem Buch eine Vorstellung zu haben. Der Besitz genügte schließlich für einen unangenehmen Platz auf der Anklagebank.

Auch in Bundesbehörden wird jetzt tatkräftig gesäubert. Am 14. Februar 2022 verhandelte das Arbeitsgericht Wiesbaden (5 Ca 6/22) über die Kündigungsschutzklage einer dort seit über 30 Jahren angestellten Büroangestellten der dort ansässigen prominenten Behörde. Ihr wurde die Ungeheuerlichkeit vorgeworfen, auf dem Beistelltisch ihres Dienstzimmers hätten unter Küchenutensilien „rechte“ Schriften „ausgelegen“. Und eine karikierende Bildcollage Merkels in Zwangsjacke inmittel weißkitteliger Pfleger: unglaublich! Noch dazu mit aufgemaltem Oberlippenbärtchen!

Die Schriften entpuppten sich bei näherem Hinsehen als ein Werbeaufkleber des Magazins COMPACT von 2018 in der Größe von 7,3 cm x 10,5 cm, Vor- und Rückseite eines Werbezettels des PEGIDA Fördervereins auf den 21.10.2018 datiert, einen Zeitungsausschnitt mit einer Karikatur ”Polit-Beben Thüringen”, offenbar eine Annonce der AfD nebst Rückseite, und ein Stück Pappe von 14,8 cm x 5,6 cm mit den Worten Mut. Wahrheit. Deutschland.

Diese „Schriften“ brachten unser Amt ins Schwitzen und offenbar in Rage. Sie seien mit den „Werten“ des Amtes unvereinbar. Nun ergeben sich die „Werte“, an die unsere obersten Bundesbehörden gebunden sind, unmittelbar aus dem Grundgesetz. Sie sind mit seiner Wertordnung identisch. Das genügt dem Amt aber anscheinend nicht. Der WDR berichtete am 12. März 2021 im WDR:

Seit wenigen Wochen gibt es im BKA nun einen Wertebeauftragen, der Maßnahmen entwickeln soll, um die “Resilienz der BKA-Beschäftigten gegen Extremismus und Diskriminierung” zu stärken. Das Amt habe schließlich eine “besondere Verantwortung für die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung”, wie eine Sprecherin auf Anfrage mitteilte. Das Ziel solle daher sein, “gemeinsame Werte im Alltag des BKA zu manifestieren”. Eine Arbeitsgruppe (AG) “Werte” hat sich im vergangenen Jahren mit den Fragen beschäftigt, welches Selbstverständnis das BKA hat. Welche Werte sollen von den Mitarbeitern nach innen und nach außen vermittelt werden? Wo könnte falschverstandener Korpsgeist auftreten? Welche Bereiche der Behörde sind möglicherweise besonders anfällig für eine problematische “Cop Culture”, in der es oft an Kritik und Fehlerkultur mangelt?

Florian Flade, BKA setzt Wertebeauftragten ein, auf Tagesschau.de.

Und so „manifestieren“ sich denn jetzt die „Werte“ des Amtes in der fristlosen Kündigung einer, ordentlich unkündbaren, Büroangestellten wegen des bloßen Besitzes „rechter Schriften“. Seit deren Druck 2018, darauf pocht man amtlich gegenüber dem Arbeitsgericht, seien die Urheber der Schriften schließlich auch vom Verfassungsschutz als verdächtig oder extremistisch eingestuft worden. Das Arbeitsgericht hat noch nicht entschieden.

Der Feind im Innern

Vielfach scheitert die Verfolgung von Bürgern, nur weil sie eine Schrift besitzen, an einer Richterschaft, die an Recht und Gesetz gebunden ist und nicht an die „Werte“ staatlicher Ämter. Die Radikalisierung des Liberalismus schreitet indessen fort. Wer nicht die gewünschten westlichen Werte in der Auslegung unserer jeweils Regierenden vertritt, sondern eher östliche Werte, ist gefährdet.

Bücherverbrennungen hatte es im 19. Jahrhundert und nach 1933, aber auch nach 1945 gegeben. Sogleich nach dem Einmarsch der Alliierten besagte der Befehl Nr.4 des Kontrollrats, Literatur nationalsozialistischen und militaristischen Charakters einzuziehen. Über 27000 Titel wurden verboten und nach Möglichkeit eingesammelt und verbrannt, darunter Schriften von Ernst Jünger und Gottfried Benn, Ernst-Moritz Arndt, Moltke und Bismarck (Hans Joachim von Leesen, Ostpreußenblatt 22.5.1993). An den Bücherverbrennungen beteiligten sich nicht nur, wie zu erwarten war, die kommunistischen Machthaber im Osten, sondern auch die Westalliierten als Mutterländer der liberalen Ordnung.

Wir verteidigen heute durch Waffenlieferungen indirekt die Freiheit eines sympathischen Nachbarvolkes. Auch die Selbstbefreiung der Mitteldeutschen 1989 hatten wir indirekt mit bewirkt. Irgendwann werden wir Europäer alle in einem Boot sitzen, so wie heute West- und Mitteldeutsche in einem sitzen. Damit dieses Boot nicht einst DDR 2.0 heißen und uns im Innern die Freiheit nehmen wird, die wir meinen und nach der sich alle sehnen, müssen wir den Liberalismus in seiner historisch vorerst letzten Phase als Bedrohung erkennen. Sie besteht nicht darin, auch ein bißchen liberal zu sein, sondern in der extremistischen Variante jener einst gut gemeinten Idee.

Die Frage nach dem Feind im Innern stellt sich dann nämlich völlig anders.