Eine von den Westmächten gern gehegte Legende besagt, die „Demokratien des Westens“ bildeten eine Wertegemeinschaft. Zu ihren höchsten Werten zählten sie den Frieden, die Menschenrechte und die Völkerverständigung.
In Deutschland nimmt man Proklamationen guter Absichten traditionell ernst. Wir waren schon immer ein gutmütiges und unpolitisches Volk. Was jemand tatsächlich tut, nehmen wir nicht so ernst wie seine angeblichen Absichten. Unsere politische Klasse scheint tatsächlich an jene heile Welt zu glauben, in der das Böse durch multilaterale Verträge gebannt ist und Frieden und individuelle Freiheit durch Menschenrechte garantiert sind. Wozu sich noch militärisch rüsten, wenn wir doch rechtsverbindliche Abkommen haben?
Sie wähnen, die großen Fragen der Weltgeschichte würden nicht durch Blut uns Eisen entschieden, sondern durch Reden und Parlamentsbeschlüsse, durch Verträge und moralische Proklamationen.
Von diesem Traum vermochte sie bisher keine historische Kenntnis abzuhalten. Kein Donald Trump weckte sie, als er das Atomabkommen mit dem Iran nicht einhielt, und selbst vor Rußland glaubten sie sich sicher. Aufgrund ökonomischer Berechnungen meinten sie vor der östlichen Macht geschützt zu sein, denn „ein Krieg lohne“ sich nicht und kenne am Ende „nur Verlierer“. Ihre gutmenschlichen Platitüden zerplatzen in der Realität wie Seifenblasen, die sie auch sind.
Angelsächsischer Realismus
Die Angelsachsen sind da realistischer. Daß man das Gute predigen, gleichwohl aber „Böses“ tun kann, wissen sie genau. Ronald Reagan hatte als US-Präsident (1981-1989) einmal kurz den Schleier gelüftet. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion äußerte er unverblümt:
„Wir werden sie an die Wand rüsten, bis sie quietschen.“ (Reagan zitiert nach: Fricke 1999: 158). Der US-Präsident Reagan läßt in einer seiner Ausführungen deutlich werden, daß er gegenüber der UdSSR eine forcierte Bedrohung durch militärische Überlegenheit erzeugen wollte.
Thomas Bäcker, Die Wiedervereinigung. Die Außenpolitik der BRD in der Legislaturperiode 1986-1990 und die Folgen,
Weil sich Machtgier und Dominanzstreben aber medial schlecht ausnehmen, rückte „der Westen“ stets seine „Werte“ in den Vordergrund.
Ohne den Machtfaktor außer Acht zu lassen, betonen demgegenüber liberale Positionen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Attraktivität der westlichen Gesellschaften. Der Ost-West-Konflikt sei weniger ein Macht- als ein Wertekonflikt gewesen, in dem am Ende Selbstbestimmung, Demokratie und (kapitalistische) Marktwirtschaft den Sieg über Diktatur und staatliche Gängelung der Wirtschaft davon getragen hätten.
Peter Schlotter. Review of Saal, Yuliya von, KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion: Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. January, 2016
Der Wertekonflikt ist aber nur vordergründig. Die „Werte“ sind nur die hübschen, bunten Seifenblasen. Sie nützen uns nichts, wenn der Feind nicht an sie glaubt. Es ringen niemals Werte miteinander, sondern Menschen. Zu ihrer Rechtfertigung berufen sie sich nach außen auf das, was sie als für sich nützlich bewerten. Hinter angeblichen Konflikten idealer Werte stehen immer reale Interessenkonflikte.
Die Interessenten eines globalen Marktes
Die angelsächsischen Staaten haben ihre Prosperität und Macht traditionell auf den Handel gestützt. Mit der Parole von der „Freiheit der Meere“ eigneten sich die Briten zeitweise ein Fünftel der Landfläche dieses Planeten an. Sie verstanden unter dieser Freiheit ihr Recht, sich unter für sie vorteilhaften Bedingungen überseeische Ressourcen zu sichern.
Die USA übernahmen dieses Konzept. Aus der Freiheit der Meere machten sie die Idee allgemeiner Menschenfreiheit. Mit der Parole „Make the world safe for democracy“ erklärten sie zu einem grundlegenden Recht jedes Menschen, vor allem mit den finanziell dominanten USA in friedliche Handelsbeziehungen zu treten. Als Schurkenstaaten gelten potentiell alle, die sich nicht im globalen Netzwerk des Kapitals verfangen wollten. Nach außen benutzten sie den Colt, für ihre Propaganda die Bibel.
Inzwischen übertrifft die Finanzwirtschaft des „Westens“ bei weitem die Realwirtschaft und ist auf ständiges weiteres Wachstum hin angelegt. Wie bereits 2008 droht jederzeit wieder ein Platzen der Finanzblase, weil die Realwirtschaft in den Ländern „des Westens“ die Zinsen und Steigerungsraten nicht mehr bedienen kann, die von der Finanzblase benötigt werden. Es drohen ein Zusammenbruch der Finanzwirtschaft und die Entwertung unermeßlicher Geldvermögen.
Um den Kapitalmarkt vor dem Kollaps zu bewahren, sucht „der Westen“ immer wieder nach neuen „Märkten“. Seine liberale Ideologie sucht tendenziell alle Beziehungen in marktförmige umzuwandeln: Aus Feinden macht sie Kunden, aus Personen Humankapital und aus Konkurrenten Handelspartner. Staaten und Staatsgrenzen sucht sie zu beseitigen, weil jede staatliche Regulierung der globalen Macht des Kapitals Grenzen setzt. Ihr ideales Rußland wäre keine staatliche Gemeinschaft mehr, sondern eine Gesellschaft kapitalabhängiger Kunden. Neukunden gilt es durch passende Verträge dauerhaft so einzubinden, daß sie nie wieder aussteigen können. Ihr Zweck besteht darin, aller anderen Macht als der des Kapitals abzuschwören, die Waffen zu strecken und feierlich Gewaltverzicht zu erklären und zu beteuern, niemandem den „freien“ Zugang zum „Markt“ und seinen Segnungen zu verwehren.
Das russische Interesse
Vertreter der „westlichen Wertegemeinschaft“ erklären es für ganz schrecklich, daß Russen ihre Interessen völlig anders definieren. Reich ist das Land nur an Bodenschätzen. Um sich nicht vom globalen Finanzmarkt kolonisieren zu lassen, greifen sie auf völlig andere Werte zurück als „der Westen“. Sie beharren auf einem starken Nationalstaat. Dieser soll die Finanzströme kontrollieren und nicht umgekehrt.
Um den Staat möglichst stark zu halten, unterdrückt Putin die Gesellschaft. Niemand soll aus der Reihe tanzen. Die religiösen Werte des orthodoxen Christentums werden beschworen und die westlichen Werte des absoluten Individualismus zum Teufel gewünscht. Man hält sie für dekadent. Die inneren Bindungskräfte sollen gestärkt werden durch eine nationale Ideologie: ein Volk, ein Reich, ein Putin, und zu diesem Volk zählt er offenbar auch die Weißrussen und Ukrainer.
Der Westen ist im Ideal friedfertig und unmilitärisch, real allerdings bis an die Zähne bewaffnet und den Russen konventionell überlegen. Er dehnte seinen Einflußbereich seit 1989 immer weiter nach Osten aus, bis die Russen „quietschten“. Rußland dagegen idealisiert „den Frieden“ keineswegs. Wo sich ohne zu großes Risiko ein territoriales Schnäppchen machen läßt, greift Putin gern zu. Wie alle Machtmenschen der Epoche des Imperialismus nimmt er sich am liebsten ohne Krieg, was immer er kriegen kann. Bisher hat er noch keinen Schuß abgeben lassen. Im 19. Jahrhundert nannte man das Kanonenbootpolitik: Die Drohung bewirkt vorbeugenden Gehorsam.
Gegenüber unserer einheimischen politischen Klasse wirkt das. Durch eine Freundschaftserklärung an alle Welt glaubt sie, die Feindschaft abgeschafft zu haben. Sie werden an den Wert zwischenstaatlicher Verträge noch glauben, wenn die Panzerketten schon rollen, und sie werden uns vorrechnen, die Spritkosten für Panzerfahrten von der Wolga bis an die Spree würden sich „nicht rechnen“, wenn die Panzer schon vor dem Bundeskanzleramt stehen. Putin weiß das. Aus seiner Sicht ist Deutschland mental sturmreif.
Was tun?
Zum russischen Sturm auf Deutschland wird es nicht kommen. Putins Bemühungen um ein Roll Back der NATO-Ausdehnung ist tendenziell defensiv. Unser Big Brother jenseits des großen Teichs ist Putins Gegner, nicht wir. Wir sind nur potentielle Beute. Ein Angriff auf uns käme einem Selbstmord des russischen Großmachtstrebens gleich. Er läge eher im Interesse des amerikanischen Finanzkapitals als im russischen, ließe Putin sich zu einem Angriff auf NATO-Gebiet provozieren.
Was nun läge im deutschen Interesse? Bei dieser Frage dürfen wir uns nicht von Zu- oder Abneigungen leiten lassen. Völker haben keine Freunde, sie haben nur Interessen. Ich habe persönlich keinen Amerikaner kennengelernt, der nicht so nett gewesen wäre, daß ich ihn gern meinen Freund nennen wollte. Ich sympathisiere stark mit dem ukrainischen Freiheitsstreben. Es erinnert mich an die Ungarn, in deren Land 1956 auch Russenpanzer rollten. Fragen sich mich bitte nicht, was ich von Russen und ihrer Autokratie halte. Mein historisches Gedächtnis reicht bis 1945 zurück. Je weiter Rußland und die USA entfernt sind, desto besser.
Die Antwort auf die Frage nach unserem nationalen Interesse besteht als erstes darin, daß wir überhaupt eins haben. Es deckt sich nicht mit dem unserer lieben westlichen und östlichen „Befreier“ von 1945 und erst recht nicht mit deren heutigen Weltmachtambitionen. Es deckt sich auch keineswegs mit Sympathien oder Antipathien. Dieser Einsicht in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen, ist das erste, was getan werden muß.
Wir haben ein elementares Interesse daran, in Frieden zu leben, weil Deutschland 2022 überhaupt ncht kriegsfähig ist. Das ist unsere Bundeswehr nicht und die gesamte deutsche Gesellschaft, gelenkt von einer pazifistischen politmedialen Elite, schon gar nicht. Als Kanonenfutter an eine Ostfront geschickt zu werden, to make the world safe for democracy, ist das letzte, was wir brauchen oder leisten könnten. Das ist die zweite Einsicht, die sich durchsetzen muß.
Und daß die Weltpolitik weder von moralschillernden Seifenblasen gelenkt wird noch auf Kosten-Nutzen-Kalküle reduziert werden kann, bildet die dritte und vierte Konsequenz, die wir aus der realen Welt unserer Tage ziehen müssen. Sterben für die Freiheit der Krim? Einen Handelskrieg entfesseln für die Demokratie in Hongkong? Mit dem Säbel rasseln, wenn man nur ein Holzschwert in der Hand hält? Weder mit moralischer Großmannssucht noch mit Handelskriegertum werden wir unsere Sicherheit gewährleisten.
Lesen Sie hier weiter:
Guten Morgen, Frau Baerbock, endlich wach?
Wir stehen blank da – was zu tun ist
Thomas Engelhardt
Ausgezeichneter Beitrag!
Ein Nachsatz:
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama (US-Amerikaner japan. Abstammung) veröffentlichte im Sommer 1989 einen Beitrag unter dem Titel „The End of History and the Last Man“ und 1992 ein Buch unter dem gleichen Titel. Das Buch und sein Inhalt führten in der Folge zu kontroversen Diskussionen.
Im Wesentlichen postulierte Fukuyama die Alleingeltung der westlichen
sog. „Demokratie“. In den Jahrzehnten danach verinnerlichten westliche Politiker (und mit Ihnen die Angehörigen der politischen Klasse Bundesdeutschlands) diese Anschauung.
In ihrer Einfalt meinten sie, die westlich-atlantische Welt angelsächsischer Prägung, das kapitalistische Wirtschaftsprinzip und die dekadente Pop-(Un-)Kultur hätten sich durchgesetzt. Der Aufstieg Chinas strafte sie bereits Lügen.
Nein, die Geschichte geht weiter. Staaten werden auch weiterhin existieren und sie werden konkurrieren.
Bei genauerer Betrachtung war der Große Krieg 1939-1945 der Versuch Deutschlands, eine Neuaufteilung der Rohstoff- und Absatzmärkte zu erzwingen. 1945 wurde Deutschland exekutiert, seitdem dämmern die Deutschen, kollektiv traumatisiert, in einem bejammernswerten Zustand nationaler Knechtseligkeit
dahin und erscheinen unfähig, sich aus diesem rabenschwarzen Loch von Indoktrinierung, Ignoranz und ideologischer Verblendung zu befreien.
Sie täten aber gut daran, ihre westlichen sog. Freunde als das zu sehen, was sie waren, als Gegner nicht allein auf dem Gebiet der Wirtschaft und das Riesenland im Osten als den Feind, den es 1941 zu bezwingen galt, der aber nicht bezwungen werden konnte, weil sich das (vornehmlich jüdische) US-Kapital mit dem sowjetischen Stalinfaschismus verbündet hatte. Mit dem einzigen Ziel, den wirtschaftlichen und politischen Herausforderer in der Mitte Europas zu entmachten, zu neutralisieren, zu guillotinieren, nachhaltig und für immer auszuschalten.
Historisch betrachtet ist also der 24. Februar 2022 zumindest aus deutscher Sicht eine Spätfolge des Verlustes des Großes Krieges im Frühjahr 1945. Der Kollaps des sowjetischen Riesenreiches am 25. Dezember 1991 ist in diesem Sinne lediglich als zeitliche Versetzung zu interpretieren. Sein Scheitern war programmiert und wäre bereits Ende 1941 oder Anfang 1942 eingetreten, hätte Onkel Sam ihn nicht gestützt.
Rußland war in den vergangenen 300 Jahren stets eine expansive, auf Raub benachbarter Gebiete und
die Unterdrückung anderer Völker ausgerichteten Macht. Dass W. Putin bestrebt ist, den Großmachtanspruch Rußlands wieder herzustellen ist Politik. Dass dieses Streben mit militärischer Macht durchgesetzt wird ist nach Carl v. Clausewitz die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel“.
Die Geschichte geht also weiter. Mögen es die Bundesdeutschen begreifen oder nicht.
Thomas Wulff
Guten Tag,
Sowohl der Beitrag als auch der Kommentar von Engelhardt sind sehr gute Beschreibungen von Historie und gegenwärtiger Situation. Ich würde jetzt noch dazu schreiben, daß diese heraufbeschworene Kriegssituation ein Teil einer geplanten Endtransformation unserer Nationen darstellt. Zugleich aber auch die hektische Reaktion auf zunehmende Zerfallserscheinungen des „westlichen Blocks“ da die USA zumindest immer stärkere Erschütterungen im innern Gefüge bekommen, was auch in den Aussenbeziehungen zu Schwäche führt. Das Finanzsystem wackelt. Die Systemlinge schlagen wild um sich. Das ERWACHEN DER NATION muss unser Ziel sein – nach wie vor – seit 45.
-Steiner-