Woher kommt nur das böse Chaos in die Welt?
Schlichte Gemüter erklären sich die lästigen Probleme unseres Daseins gern mit der Existenz unterschiedlicher Prinzipien: In ihren Köpfen kämpft stets das Gute gegen das Böse, die Ordnung gegen das Chaos, die Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit und so fort. Göttern gleich lenken sie unser Dasein.
„Die“ Ordnung steht dabei immer für ein konkretes Ordnungsprinzip, das demjenigen nützt, der sich auf darauf beruft, beileibe aber nicht für eine Ordnung, die seinen Widersachern nützt. Die, so glaubt er, stehen nur für nur Chaos.
Heil’ge Ordnung, segenreiche
Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke.
Himmelstochter, die das Gleiche
Frei und leicht und freudig bindet,
Die der Städte Bau gegründet….
„Das“ Chaos richten darum immer diejenigen an, die meine Ordnung zerstören und ihre eigene begründen wollen. Wer nicht an anthropomorphe Personifikationen wie die Justitia mit der Waage und den verbundenen Augen glaubt, benötigt unbedingt einen menschlichen Urheber „des Chaos“.
Solche Erzschlingel sind selten zu finden. Jeder steht allenfalls für ein kleines bißchen Chaos, kann aber nicht für das „Chaos an sich“ verantwortlich gemacht werden. Der dieses anrichtet, muß ein mächtiger Schelm sein, der sich perfekt verbirgt. Sonst könnten wir ihn ja erkennen – oder? Andreas Zick und Beate Küpper entlarven die Chaoten:
In jüngster Zeit gewinnen Verschwörungsmythen weltweit wieder mehr Anhänger:innen, befeuert von Akteur:innen, die Chaos stiften wollen, um Demokratien zu zerstören.
Beate Küpper · Elif Sandal-Önal · Andreas Zick, Die distanzierte Mitte, Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Hrg. Friedrich-Ebert-Stiftung 2023, Kap. 4: Demokratiegefährdende Radikalisierung in der Mitte, S.114.
So erklärt sich die Parteistiftung der SPD die Welt: Akteurinnen wollen Chaos stiften, um Demokratien zu verstören. Natürlich vermögen sie die „Akteurinnen“ nicht zu benennen. Das ist immer so bei Dunkelmännern. Sie verstecken sich im Dunkeln, im politischen Dark Room gewissermaßen. Könnte man an ihnen fühlen, wären vielleicht auch Dunkelfrauen darunter. Offenbar haben sie sich gegen demokratische Ordnungen verschworen, um sie in ein diktatorisches Chaos zu verwandeln.
Die linke Verschwörungstheorie
Diese linke Verschwörungstheorie tischen uns die Autoren ausgerechnet in einem Unterkapitel eines Buchs auf, dessen demoskopische Ergebnisse uns die Medien als „Studie“ verkauft haben: „Gefährdende Einstellungen zur Demokratie“. Namentlich der Verschwörungsglauben sei eine solche Einstellung, und solcher Glaube ist – der linken Studie zufolge – immer rechts. Es gibt viele solche linken Verschwörungstheorien.
Ich hatte in meiner Praxis den Fall eines niedergelassenen Psychiaters, der an paranoider Schizophrenie erkrankte und selbst nicht imstande war, die Symptome bei sich selbst zu erkennen. Auch wer eine gegnerische Verschwörungstheorie bekämpft, ist nicht davor gefeit, selbst eine eigene zu entwickeln.
Die gedankliche Struktur solcher Theorien hatten die SPD-Autoren zunächst durchaus zutreffend erfaßt:
„Nichts geschieht durch Zufall, nichts ist, wie es scheint, alles ist miteinander verbunden“ (Butter 2018) – so läßt sich die Grundannahme von Verschwörungserzählungen zusammenfassen. Sie sind Gedankengebäude, die hinter einem Ereignis die mutwillige Verschwörung einer Gruppe von Akteur:innen vermutet, die dieses Ereignis zielgerichtet und konspirativ geplant hat, im Geheimen steuert und dabei illegale oder illegitime Zwecke verfolgt, die »gegen das Volk« gerichtet sind.
Beate Küpper · Elif Sandal-Önal · Andreas Zick, Die distanzierte Mitte, Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Hrg. Friedrich-Ebert-Stiftung 2023, Kap. 4: Demokratiegefährdende Radikalisierung in der Mitte, S.113.
Alles sei durch eine lückenlose Kausalkette miteinander verbunden, gehört zu den Grundannahmen der abendländischen Philosopie und besonders der Naturwissenschaft. Es findet allenfalls im subatomaren Raum eine Grenze.
Kausalität ist aber nicht dasselbe wie Finalität. Final, also zielgerichet, können nur Personen handelt. Der Irrtum beginnt, wenn jeder bloß kausalen Wirkung ein personaler Urheber zugesprochen wird. Da alle Welt sich bewegt, müsse es eine Person eines „ersten Bewegers“ geben. Für das christliche Abendland war jahrhundertelang klar: Das konnte nur ihr Gott sein.
Von ihm wandten sich aber, hebräisch-biblischer Legende nach, einige Engel ab, an ihrer Spitze ein gewisser Luzifer. Sie verschworen sich gegen Gott und suchten seine guten Werke in böse zu verwandeln. Als „Diabolos“ suchte er alles hinter dem Rücken seines Schöpfers durcheinanderzubringen. Die Urmutter aller Verschwörungsmythen war geboren.
Das Christentum hat diesen Mythos verinnerlicht, ermöglicht er doch eine einfache Lösung des großen Rätsels aller Gläubigen: Konnte ihr guter Gott etwas Böses geschaffen haben – gar „den Bösen“? Warum läßt er das Böse in der Welt zu? Der Verschwörungsglaube an den Teufel und seine ihm dienstbaren kleinen Teufelsbraten beantwortet die Frage scheinbar perfekt: Verschwörer!
Man erkennt die Bösewichter allerdings nur an ihren bösen Taten. Hufabdrücke und Schwefelgestank sind selten zu beobachten und werden nur von sehr, sehr Gläubigen berichtet.
Die gedankliche Struktur
So hat sich die gedankliche Struktur fest in vielen Menschen eingebrannt, vor allem wenn sie zur christlichen Überlieferung noch eine gewisse Nähe haben. Die gedankliche Grundstruktur besagt: Alle Ereignisse haben einen Urheber, und wo die Kausalkette ins Leere zu führen scheint, steckt eben ein verborgener Urheber dahinter. Solche sind besonders mächtig und schlau, sonst könnten sie sich nicht so gut verbergen. Wie ein Verschwörungs- oder Verfolgungswahn in der geistigen Zerrüttung enden kann, ist im Roman Das Foucaultsche Pendel“ des Mediävisten Umberto Eco eindrücklich zu lesen.
In meiner Praxis fiel mir auf, daß oft Deutsche aus dem ehemaligen Ostblock Verschwörungstheorien anhängen. Wieder ist es eine Frage der Denkstruktur: Wer über Generationen in einem Land gelebt hat, in dem ein selbstherrlicher Zar, ein Politbüro oder ein großer Führer alles bestimmt hat, ist gewohnt, daß nichts ohne dessen Anweisung geschieht. Er glaubt nicht, daß ein Flugzeug man eben so zufällig vom Himmel fällt, wenn ein Kreml-Kritiker mit ihm abstürzt. Auf Zufälle oder multikausale Geschehen ist er nicht gefaßt.
Kommt er dann in die liberale westliche Hemisphäre, herrscht hier ein Chaos gegenläufiger Interessen und Bestrebungen ohne greifbaren „ersten Urheber“. Das ist in der liberalen Ideologie so angelegt. Ihr zufolge richtet es eine „unsichtbare“ Hand zum Vorteil Aller ein, wenn man nur allen gesellschaftlichen Akteuren freie Hand läßt.
Davor steht verständnislos, wer in Sozialismus, Planwirtschaft und Diktatur groß geworden ist.
Natürlich gibt es und gab es zu allen Zeiten Verschwörungen, zum Beispiel gegen Julius Cäsar, gegen Wallenstein und viele andere. Vielleicht ist das Corona-Virus wirklich einem chinesischen Labor entschlüpft, wer vermag das zu wissen vor dem Hintergrund globaler Interessenpolitik, Schuldzuweisungen und Desinformation.
Die Verschwörungskeule
Darum benutzt man gern die Verschwörungskeule, um die eigenen Bestrebungen zu verdecken und Leute lächerlich zu machen, die sie durchschauen:
In einer Bevölkerungsumfrage aus dem Sommer 2022 stimmte ein Drittel mindestens zwei von fünf prominenten Verschwörungserzählungen rund um aktuelle Themen zu, die ganz ähnlich auch in an[1]deren Ländern Verbreitung fanden: Corona sei eine absichtlich entwickelte Biowaffe, um Menschen zu schaden; die herrschenden Eliten versuchten, das »Volk« durch Einwander:innen auszutauschen; Wissenschaftler:innen übertrieben die Risiken des Klimawandels, um mehr Geld und Anerkennung für ihre Forschungen zu erhalten; der Westen habe sich gegen Russland und den russischen Präsidenten Putin verschworen, um die eigene Macht auszubauen; die Regierung habe die Bevölkerung während der Coronapandemie gezielt in Angst versetzt, um die Grundrechte massiv einzuschränken (vgl. Best et al. 2023).
Beate Küpper · Elif Sandal-Önal · Andreas Zick, Die distanzierte Mitte, Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Hrg. Friedrich-Ebert-Stiftung 2023, Kap. 4: Demokratiegefährdende Radikalisierung in der Mitte, S.115
Das ist politische Propaganda in Reinform: Wer die Regierungspolitik der SPD kritisiert, kann nur ein Verschwörungstheoretiker sein. Die faktische Richtigkeit einer Beobachtung ist allerdings immer etwas ganz anderes als ihre Verknüpfung mit wirklichen oder den Fakten nur untergeschobene Absicht.
Ob das vergreisende und zahlenmäßig schwindende deutsche Volk nach und nach durch Einwanderer ersetzt wird, läßt sich statistisch sehr leicht nachweisen und für die Zukunft hochrechnen. Die Demografie leistet das. Ob das allerdings von den herrschenden Parteien gewollt es, also finalem Handeln entspringt, ist eine ganz andere Frage. Verschwörungen sind immer final. Andernfalls sind sie nur ungewollte oder in Kauf genommene Nebenprodukte des Handelns, dessen letzte Ziele und Absichten ganz andere sein können.
Hinter einem Bevölkerungsaustausch kann, muß aber kein zielgerichteter Plan stecken. Darum ist auch kein Verschwörungstheoretiker, der unsere Regierung kritisiert, weil sie diesen langsamen Austausch beschleunigt statt ihn zu verhindern.
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