Moulin Rouge in Köln aufgeführt

Als Kind faszinierten mich Kaleidoskope. Drehte ich eines, erzeugte es in seinem Innern immer wieder andere geometrische Muster. Und doch beruhten sie nur auf der ewigen Rekombination immer wieder derselben Plastikelemente. Es konnte sich nichts grundlegend Anderes oder Neues bilden, nur die ewige Wiederkehr des prinzipiell Gleichen.

Ein Kaleidoskop ist nicht kreativ. Es würfelt nur immer dieselben Einzelelemente durcheinander und kehrt das Untere zuoberst. Wie eine Handvoll Würfel in einem Würfelbecher nur eine mathematisch berechenbare Höchstzahl an Wurfkombinationen hervorbringen kann, ist auch ein Kaleidoskop ästhetisch, aber steril.

Das trifft auch den Kern unserer Popkultur. Sie feiert eine späte Blüte in einem Bühnenstück namens Moulin Rouge, das seit November 2022 auch in Deutschland aufgeführt wird: Atemberaubend wie ein Kaleidoskop schwelgt es in üppigen Formen und Farben, verharrt in ewiger Wiederkehr musikalischer Versatzstücke und verendet in rührseligem Bühnenkitsch einer schwindsüchtig dahinsterbenden La-Boheme-Mimi, die hier Satin heißt.

Pop als Massenkultur

Popkultur ist die angemessene Massenkultur für den Massengeschmack des Durchschnittskonsumenten unserer Industriegesellschaft. Sie dominiert in den USA und Europa seit Jahrzehnten. Wir alle wuchsen in ihr auf, mindestens aber auch mit ihr. Sie windet sich in jedermanns Ohr. Niemand kann sich ihr vollständig entziehen.

Popkultur: Der Namensbestandteil Pop- leitet sich von populistisch ab – pardon – ich meine populär – aber das läuft auf dasselbe hinaus (lateinisch populus, die Volksmasse): Maßstab ist der Querschnitt der Massenmeinung, der Geschmack des Volkes. In einer Demokratie wäre er der entscheidende Maßstab für politische Entscheidungen. Im Kapitalismus gibt er den Ausschlag durch die Macht des Marktes.

Betritt man den für Moulin Rouge neugestalteten Konzertsaal des Kölner Musical Dome zwischen Bahnhof und Rhein, stockt der Atem ob der Pracht des Rote-Laterne-Barocks. Hauptdarsteller Riccardo Greco übertreibt nicht mit den Worten:

So mittendrin im Geschehen, das gibt es vermutlich nur an ganz wenigen Orten auf der Welt. Als ich das erste Mal das ganze Rot im Saal gesehen habe, habe ich die Kinnlade nicht mehr zubekommen. Das wird der meistfotografierte Theatersaal Deutschlands. Auch von der Bühne aus ist der Blick großartig, mit dem Elefanten, der Mühle – das muß ich als Schauspieler kaum noch spielen, ich bin direkt in der Rolle.

Riccardo Greco, Interview, Schwarzwälder Bote, 28.11.2022.
“Als ich das erste Mal das ganze Rot im Saal gesehen habe, habe ich die Kinnlade nicht mehr zubekommen. Das wird der meistfotografierte Theatersaal Deutschlands.” (Darsteller Riccardo Greco). Mit Beginn der Aufführung wurde das Fotografieren dann verboten.

Unsere popkulturalisierten Musikkonsumenten lieben die Superlative und werden hier üppig bedient. Moll ist von gestern, anhaltendes Crescendo ist Trumpf. Bühnenbild, Schau und Musik gleichermaßen überwältigen anfangs den Zuschauer.

Handwerklich brav und solide singen, sprechen und tanzen die Darsteller ihre Rollen in einem Stück, das Wikipedia als Musikdrama apostrophiert. Im Grunde ist es die gute, alte Operette mit ihrem amerikanischen Nachkömmling, dem Musical. Die Zwischentexte und das Drehbuch – früher nannte man so etwas Libretto – sind geistig ähnlich ergiebig wie viele ihrer Vorgänger aus Oper und Operette. Ein Kleinkind sollte problemlos der Handlung folgen können.

Das ist auch notwendig bei dem Tempo der Aufführung. Sie läßt wenig Zeit zu zu Kontemplation und Nachdenken. Wie bei allen popmusikalischen Tanzschaus tanzen die Darsteller rasant, und so bleibt auch dem La-Boheme-Mimi-Verschnitt der bluthustenden Hauptdarstellerin weniger Zeit zum Sterben und zum Trällern ihrer Arien, als Giacomo Puccini ihrer bekannten Vorgängerin dazu gelassen hatte.

Trailer

Die Aufführung läßt bis hin zum offenen Rührstück-Kitsch kein Klischee aus, keine Phrase aus Uromas Poesiealbum wird verschmäht, keine abgedroschene Schablone gescheut. Man beschwört Wahrheit, Schönheit, Freiheit und Liebe, und die rührselige Träne rinnt, die Träne quillt. Gegen den Drehbuchschreiber war Hedwig Courths-Mahler geradezu eine nüchterne Sachbuchautorin.

Dabei kontrastiert die unabdingbare Moral von der Geschicht’ – “Man kann einen Menschen nicht kaufen!” – absonderlich mit der offenkundigen Realität des Bordellbetriebs und den Begleiterscheinungen unserer Massengesellschaft, die alles für käuflich erklärt und die Menschen zur Ware macht.

Große Kompilation

Dem überwiegend jungen Publikum fehlen vielleicht die Vergleichsmöglichkeiten. Es nimmt keinen Anstoß daran, daß die Idee zum Stück, der Gang der spärlichen Handlung und die Musikstücke nichts neu Geschöpftes enthalten. Kreativ war der Produzent und Schreiber Baz Luhrmann nur im Zusammenschnippeln älterer Versatzstücke. Die Handlung verwendet Elemente aus La Boheme, La Traviata und anderen Quellen.

Moulin Rouge wurde von einer eklektischen Vielfalt komischer und melodramatischer musikalischer Quellen beeinflusst, darunter das Hollywood-Musical , „ Vaudeville , Kabarettkultur, Bühnenmusicals und Opern“. Seine musikalischen Elemente spielen auch auf Luhrmanns früheren Film Strictly Ballroom an . Giacomo Puccinis Oper La bohème , die Luhrmann 1993 am Sydney Opera House inszenierte , war eine Schlüsselquelle für die Handlung von Moulin Rouge.

Wikipedia zum gleichnamigen Film des Autors von 2001.

Bei so viel Eklektizismus sucht man fast vergeblich nach Neuem und Originellen. Da wird der Zuschauer allenfalls fündig beim Anblick diverser Diverser, Transen und Schwuler in unten rum engen Korsagen, von denen einer zum Gelächter des Publikums den Seuzfer der Hauptdarstellerin, ihr Kleid sei eng und drücke, antwortet: „Was soll ich da erst sagen?“ Das Kölner und das angereiste Publikum, mit kostümierten Karnevalisten auf dem Weg zu ihrer Sitzung just dem Bahnhof entronnen, nimmt solche Einlagen mit Humor. In Köln fallen zur Karnevalszeit in Röckchen tanzende Männer nicht weiter auf.

Keine drei Kilometer vom Pascha, Europas größtem Bordell, kommen hier auch Liebhaber ganz spezieller Wünsche auf Ihre Kosten. Es ist das Milieu von Riccardo Simonetti, einem unter anderem vom WDR bezahlten Herr-mit-Bart-und-Kleidchen-Typ. Er schwärmt:

Ich liebe es, daß es auch queere Rollen in dem Stück gibt. Dadurch wird das Theater für viele von uns ein richtiger Safe Space, ein Zufluchtsort.

Riccardo Simonetti, laut Kaja Hempel, Es ist eine Bereicherung für Köln, Kölnische Rundschau 8.11.2022, S.25.

Noch weniger originell als die Handlung, aber wirkungsvoll laut klingelt die Musik in den Ohren ihrer Hörer, immer wenn diese eine Melodie wiedererkennen. Nur ein einziges, nicht weiter auffallendes Lied soll neu sein. Ansonsten führt man eine Art Potpourri mehr oder weniger bekannter und erfolgreicher Popmusik-Schlager, sogenannter Hits auf, meistens mit dem Stück angepaßtem Text. Das geneigte Publikum goutiert mit Wohlgefallen jede wiedererkannte Melodie.

In einer Art von musikalischem Kannibalismus werden Handlung und Musik alter Stücke ausgeweidet, sich einverleibt und wieder ausgeschieden. Man nimmt von diesem und jenem, kostet mal hier und läßt mal dort Anklänge aufblitzen, man dreht und wendet die Bauteile, bis sie halbwegs passen und steigert sie ins Bombastische.

Einen anonymen Zuschauer nervte das:

Es nervt und empört mich, dass für die Musicals heute nicht einmal mehr eigene, neue Musik komponiert wird. Alles ist nur auf optische Reize ausgerichtet und mit der heißen Nadel erstellt. Den Billugdreck tu ich mir ganz sicher nicht an.

“oeqrc” auf Youtube

Kultur im Zeitalter des Konstruktivismus

Im Westen nichts Neues. Originalität wie noch bei Komponisten des 19. Jahrhunderts gibt es nicht mehr. Es herrschen rekombinierte Flickwerke vor.

Sind nun die Elemente nicht
aus dem Komplex zu trennen,
was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?

Johann Wolfgang von Goethe

Vielleicht ist die Moderne Gift für die Entfaltung wirklicher Kreativität. Jedenfalls scheint sie von Produzenten, Geldgebern und eventuell noch dem Massenpublikum nicht mehr belohnt zu werden.

Kennzeichen der Moderne als Epoche ist das Fehlen eigenständiger, substanzieller Formen. Die tradierten Formen klassischer Malerei lösten sich auf erst in impressionistische Bildpunkte, schließlich in einander gleiche Elemente ohne wesensmäßige Unterscheidung. Aus gleichen Einzelklecksen kann man alles und jedes neu konstruieren, nachdem die tradierte, gegenständliche Formgebung dekonstruiert war.

Die Sprache als urwüchsiges und unverwechselbares Gebilde dekonstruiert man und löst sie auf in einzelne Urlaute, die ohne Respekt vor der Sprache beliebig zu jedwedem Neusprech wieder zusammengefügt werden kann.

Die hergebrachten sozialen Gebilde wie Ehe, Familie und Völker werden dekonstruiert, weil sie nicht ins ideologische Konzept passen. Wie genormte Industrieprodukte einander gleich sein müssen, um einen billigen Herstellungsprozeß zu gewährleisten, bildet auch der Einzelne Arbeiter oder Konsument der Massengesellschaft nur noch ein isoliertes Atom, frei von alten Bindungen, international flexibel einsetzbar und damit frei für neues Angebundenwerden an die Bedürfnisse der Industrie. Aus solchen atomisierten Massen kann man jede beliebige Gesellschaft neu konstruieren und beherrschen.

Die Deutschen waren von jeher ein musikalisch hochbegabtes Volk, und sie hatten sich daher um das Wort jenes Alten, daß man Musik machen müsse, wo man Sklaven haben wolle, nie sonderlich bekümmert. Allerdings nur allzuwenig. Denn jenes antike Wort enthält zweifelsohne die große Wahrheit, daß musikalische Überwucherung die Denktätigkeit abstumpft, die Menschen in flaue Gefühlsschwelgerei einlullt und sie mählich in feige Knechtschaffenheit hinüberdudelt.

Johannes Scherr (1817-1886), Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, Band 3 Die neue Zeit, durchgesehen und herausgegeben von Franz Blei Berlin 1925, S.164 (= S.496 der 6. Aufl. von 1876, S.473 der 3.Aufl. von 1866).

Ein „Jukebox-Musical“ wie Moulin Rouge aus Versatzstücken älterer Werke stellt sich als typisches Produkt von und für Menschen der industriellen Massengesellschaft dar. Die Zuschauer in Köln fanden sich darin anscheinend wieder und dankten die Überwucherung ihrer Denktätigkeit in entzückter Gefühlsschwelgerei mit stehendem Applaus.

Werbeflyer des Veranstalters

Nur hereinspaziert, meine geschätzten Damen-, Divers- und Herrschaften! Lassen Sie sich nicht abschrecken! Für gute Unterhaltung ist jedenfalls gesorgt.