Nicht von dieser Welt

Der Modeschöpfer Karl Lagerfeld (1933-2019) sagte einmal, er stehe ja durchaus mit beiden Beinen auf der Erde – allerdings nicht auf dieser. Ähnlich geht es Theologen und Ideologen, die von einer fixen Idee beflügelt sind.

Auf „Sezession“, einer oft als politisch rechtskonservativ eingeordneten Plattform, hält Christine Sommerfeld es für „rechts“, eine feststehende Moralordnung zu behaupten. Sie wettert gegen jeden moralischen Relativismus und die Indifferenz gegen Moralurteile, die sich typischerweise in dem Satz „Das muß jeder für sich selber wissen“ ausdrückt.

Wie oft sagen auch wir als Rechte, als Systemkritiker, als Christen den Satz „Das muß jeder für sich selber wissen“? Geht es etwa um sexuelle Praktiken unter Erwachsenen, um die fortschrittlichsten medizinischen Möglichkeiten, um bewußtseinserweiternde Substanzen, um den Umgang mit dem Tod und um die Religionsausübung  – wer wären wir, wenn wir da dem „mündigen Bürger“ nicht seine Entscheidungs- und Gewissensfreiheit ließen?

Caroline Sommerfeld, „Das muß jeder für sich selbst wissen“, Sezession 28.5.2024.

Nein, mit der Entscheidungs- und Gewissensfreiheit hadert Sommerfeld als gläubige Katholikin. Das ist konsequent, wenn man glaubt, es gebe einen Gott, der bereits alle moralischen Entscheidungen getroffen hat, und wenn sie ferner glaubt, zu wissen, welche absoluten und universell gültigen Entscheidungen er getroffen haben soll, weil sie drittens an die Wahrheit der biblischen Überlieferungen und viertens an deren Auslegungen durch Kirche und Päpste glaubt. Dabei stützt sie sich sogleich auf einen:

Papst Gregor XVI. verwarf in seiner Enzyklika Mirari vos vom 15.8.1832 unter dem Namen Indifferentismus
jene verkehrte Ansicht, welche die Schlauheit der Bösen überallhin verbreitet hat, man könne durch jegliches Glaubensbekenntnis das ewige Heil erlangen,

„wenn nur das sittliche Handeln nach der Regel des Rechten und Anständigen ausgerichtet werde… Aus der Quelle dieser verderblichen Gleichgültigkeit fließt jene törichte und irrige Meinung – oder noch besser jener Wahnsinn, es solle für jeden die Freiheit des Gewissens verkündet und erkämpft werden.“


Zack, das sitzt.

Caroline Sommerfeld, „Das muß jeder für sich selbst wissen“, Sezession 28.5.2024.

Doch was hat dieses multiple Glaubensbekenntnis mit der politischen Rechten zu tun?

Nichts! Essenziell für das rechte Weltbild ist vielmehr der Wille, höchstpersönliche moralische Entscheidungen selbst zu treffen und nicht den selbsternannten Interpreten angeblicher Gottheiten. Jedes Weltbild versteht man erst richtig, wenn man sich bewußt macht, zur Abwehr welcher Gefahren es sich entwickelt hat und wozu es besonders taugt. Das rechte sucht die eigene Identität zu erhalten und fremdbestimmende Zumutungen abzuwehren. Es beeinhaltet die argumentativen Strategien freier Geister, von jedem demütigenden „Kniet nieder!“ verschont zu bleiben. Darauf läuft aber Moralismus hinaus, zumal, wenn er katholisch argumentiert:

So schön ist es in Transzendentien

Weil sie diese Welt und unser Zusammenleben nicht begreifen oder unerträglich finden, erfinden Theologen sich gern beliebige Phantasiewelten, in die angeblich das Universum, die Erde und wir Menschen eingebettet sind. Daß noch kein Mensch das Nirwana erlebt hat, daß noch keiner einen glaubhaften Reisebericht von Himmel und Hölle geliefert hat und daß keinerlei Fakten auf ein Jenseits hindeuten, ficht echte Gläubige nicht an. Sie lassen ihrer Phantasie gern freien Lauf, wie es etwa der italienische Dichter Dante Alighieri (1265-1321) gewagt hatte. Er schildert minutiös seine Erlebnisse in der Hölle, durch die ihn der Dichter Vergil gern führte. Dabei bewegte ihn die Sorge um Sitte und Moral. Wer gegen sie verstieß, zum Beispiel als Wucherer oder Kuppler, wurde in Dantes Hölle exemplarisch gepiesackt.

Wie auch in Dantes „Commedia“ stellte man sich jahrhundertelang die Hölle als einen Ort vor, in dem unmoralische. lasterhafte Menschen exemplarisch und je nach Ihrer Verfehlung bestraft wurden: Jedem das Seine (Hieronymus Bosch, Die Hölle, 1503, Ausschnitt).

So trifft Dante in der Hölle auf einen verstorbenen Zeitgenossen, der klagt:

Ihr Stadtgenossen nanntet mich nur Ciacco,
Weil ich ergeben war der Schlemmerei,
Und wie du siehst, zernagt mich itzt der Regen.
Nein, alle dulden wir die gleiche Strafe
Aus gleicher Ursach. – Und damit verstummt‘ er.

Dante, Göttliche Kommödie, 6. Gesang.

Wer auf Darlehn Zinsen nimmt, galt in Dantes Zeit als unmoralischer, besonders übler Sünder. Heute hat selbst die Vatikanbank nichts mehr gegen Zinsen. Alle moralischen Maßstäbe beruhen auf wandelbarer menschlicher Setzung. Wer seinen moralischen Maßstab dagegen absolut setzt und seine Geltung für alle Ewigkeit beansprucht, erhebt damit einen zwischenmenschlichen Machtanspruch: „Alle hören jetzt gefälligst auf mein Kommando!“ – mein moralisches Kommando. Weil er sich damit vermutlich schallendem Gelächter aussetzen würde, verleugnet er aber seine Urheberschaft und behauptet, eben diese Moral hätte ihm irgend ein höheres Wesen aus dem Jenseits zugeflüstert. Es handele sich um einen strengen Befehl des Chefs von ganz oben, nämlich aus dem Himmel. Weil das niemand nachprüfen kann, klopft der Moralist dann gern auf ein dickes Buch mit vielen moralischen und religiösen „Offenbarungen“. So entzieht er seine moralischen Maßstäbe der Beliebigkeit freier Entscheidung.

Moralisten behaupten, die moralischen Grundentscheidungen könnten wir Menschen nicht selbst für uns treffen. Es sei höheren Orts schon alles entschieden. Dieser höhere Ort sei ein angebliches Jenseits, das wir nur nicht sehen könnten, weil es transzendent sei – unserer Wahrnehmung entzogen. Diese Argumentationsfigur war historisch erfolgreich, weil man sie zwar nicht beweisen, aber auch nicht widerlegen kann. Bis heute greifen alle Moralisten auf sie zurück, die eine absolute und universelle Geltung ihrer Moral proklamieren. Ohne den Glauben an „Dinge hinter den Dingen“ kommen sie nicht aus:

Innerweltliches Klarkommenwollen ohne Transzendenzbezug führt zur Gleichwertigkeit aller möglicher moralischer Meinungen.

Caroline Sommerfeld, „Das muß jeder für sich selbst wissen“, Sezession 28.5.2024.

Im Anschluß an die platonischen Kardinaltugenden entwickelte das späte Mittelalter ganze Tugendlehren, in denen schließlich sieben Tugenden ebensoviele  Laster gegenüberstanden. „Tugend- und Laster-Kataloge sind Listen von Sünden oder negativen moralischen Eigenschaften, von Einzelsünden und Sündenfamilien sowie von konkreten Missetaten.“[1] An diesen Lastern arbeitet sich Dante nacheinander ab und läßt die Sünder – je nach Verfehlung – Höllenqualen erleiden. Wer sich dagegen moralisch verhält, darf auf das Paradies hoffen. Während antike, vorchristliche Tugendlehren nur den Ehrgeiz hatten, Menschen zu einem glücklichen Erdendasein zu verhelfen, malte man sich jetzt ein transzendentes Jenseits aus mit Himmel für die Gutmenschen und Höllenstrafen für die Lasterhaften.

Wo eine starre Morallehre als allgemeinverbindlich propagiert wird, muß jede persönliche Entscheidung für eine andere Moral als verderblich gebrandmarkt werden. Moralisten denunzieren darum reflexhaft unseren freien Willen, nach unserer eigenen Facon glücklich zu werden:

In moralischen Fragen – denn um diese handelt es sich bei allen von mir angedeuteten Themen – komplett auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, tarnt sich als Freiheit und Verantwortlichkeit der eigenen Entscheidungen. […] Nein, es muß nicht jeder für sich selber wissen.“ Der Indifferentismus ist nicht nur in der Frage der Religion falsch, die eben ihrem Wesen nach keine Meinung und keine menschliche Gewissensentscheidung ist. Der Indifferentismus ist überdies falsch, weil er psychologisch „toxisch“ wirkt und Souveränität vorgaukelt, wo Hilflosigkeit herrscht, Freiheit vorgaukelt, wo Gruppenzwang herrscht, Wissen vorgaukelt, wo Unwissenheit herrscht.

Caroline Sommerfeld, „Das muß jeder für sich selbst wissen“, Sezession 28.5.2024.

Sommerfeld hält sich selbst für rechts. Welch tragischer Irrtum! Sie traut sich auch keine moralische Entscheidung zu. Dabei dürfte sie sich aber selbst unterschätzen, denn jeder Mensch kann für sich entscheiden, was er für moralisch geboten oder verwerflich hält. Sie „wisse gar nichts“ ist nur die typische, rituelle Selbstdemütigung gläubiger Christen gegenüber ihrer Gottesidee. Hinter ihr verstecken und verbergen sie sich, um nicht die Verantwortung für ihre moralische Entscheidungen tragen zu müssen:

„Nein, ich muß es nicht für mich selber wissen.“ Diesen Satz kann nur ich für mich selber sagen. Ich kann getrost sagen, daß für mein moralisches Wissen nicht ich selbst mein Maßstab bin, sondern Gott. Ich kann zugeben, daß ich alleine gar nichts wüßte und keine eigene Entscheidung fällen könnte. Dies kann und darf ich – hierin liegt das Kriterium dafür, daß das Gegenteil von Indifferentismus nicht Paternalismus ist – allerdings nicht auf andere anwenden und mich erdreisten, für sie etwas zu wissen und zu entscheiden, oder fordern, der Staat oder die Kirche müsse für sie diesbezüglich dasein, weil sie es nun einmal nicht „für sich selber wissen“.

Caroline Sommerfeld, „Das muß jeder für sich selbst wissen“, Sezession 28.5.2024.

Das rechte Weltbild

Nach rechtem Empfinden ist eine solche Selbstdemütigung verächtlich.

„Du sollst!“, tönt es laut von vielen Seiten, gerade von religiöser. Aber: „Wer sagt das? Wieso soll ich?“, würde ein freier Mensch antworten, und Rechte sind auf ihre Freiheit stolz. Jedes „Du sollst“ erfordert jemanden, der es befiehlt. Die Stimme erschallt nur scheinbar aus dem Jenseits, tatsächlich ist sie unser persönlicher Denkprozeß. Es gibt kein Gesetz ohne Gesetzgeber, keine Norm ohne Normengeber, keinen Befehl ohne Befehlsperson. Im Diesseits haben wir menschliche Gesetzgeber. Ein Jenseits als Quelle übersinnlicher Normen gibt es nicht. Jeder selbst bildet sich seine innersten Überzeugungen davon, was man „soll“ und was nicht. Mein Gewissen und meine Moral gehören mir allein, und ich kann mit ihnen machen, was immer mir beliebt.

Die rechte Vorstellungswelt kommt ohne normative Komponenten aus. Ein Rechter folgt moralischen Normen, wenn er das will und sie sich selbst gesetzt hat. Diese Entscheidung trifft er zum Beispiel, wenn er sich einer Sache anschließt und Treue verspricht. Den Entschluß kann ihm niemand abnehmen und darf ihm niemand vorgeben oder befehlen. Er wehrt alle Prediger und Propheten ewiger, universeller oder absoluter Werte und Normen ab. Er bleibt selbst Herr seiner eigenen Entscheidungen. Über sich sieht er nur den hohen Himmel, in dem aber niemand wohnt, der ihm etwas zu befehlen hätte und er findet auch in keiner „Natur des Menschen“ etwas Übersinnliches, das ihn zu zwingen oder zu binden vermag.

Eine normativ aufgeladene Welt wäre erfüllt von moralischen Anstrengungen, wie wir Menschen angeblich sein sollen: gerecht, hilfreich, edel und gut vielleicht. Gerade auch linke Traumwelten strotzen vor normativer Kraft. Der realistische rechte Blick schaut sich dagegen in der Natur und der Gesellschaft um, sucht aber vergeblich nach für ihn verbindlichen normativen Anforderungen. Die für ihn selbst geltenden Normen setzt er sich selbst, wenn er welcher bedarf.

Genau das ist die Grundvoraussetzung für unsere persönliche Freiheit, uns selbst zu entscheiden, welche geistigen Leitplanken unser Handeln bestimmen sollen. Uns ist kein „Sinn gestiftet“, das kann nur jeder selbst. Befehle aus dem Jenseits bilden wir uns vielleicht ein oder verkünden sie unseren Jüngern. Tatsächlich sind das Denken und das Sinnstiften aber rein menschliche Tätigkeiten.

Freilich taugen alle Ideen auch als Waffen des um seine soziale Selbsterhaltung kämpfenden Individuums. Dazu sind sie ja da. Wer als Sklave die Idee durchsetzt, alle Menschen seien gottgewollt gleich und müßten gleich viel zu essen haben, hat das wohl verstanden. Es kämpfen niemals Ideen gegen Ideen, Götter gegen Götter oder Ideologien gegen Ideologien, sondern immer Menschen gegen Menschen, und um ihre Machtansprüche zu legitimieren, berufen sie sich dabei auf die ewige Geltung ihrer Ideen. Wer die Macht dazu hat, formuliert seine Ideen als Normen und befiehlt ihre Geltung; wenn er es schafft: absolut und universell.

Rechtes, also kritisches Denken durchschaut, daß hinter jeder angeblich „allgemeingültigen“ Verhaltensnorm bloß Menschen stehen, die sich auf sie berufen und Gehorsam verlangen: Autoritas, non veritas facit legem (Die Macht, nicht die Wahrheit schafft Gesetze), schrieb Thomas Hobbes.[2] Schon vor ihm hatte Machiavelli betont, daß Gut und Böse Produkte von Setzungen und als solche Funktionen von Herrschaft sind.[3] Die Ideologen und Moralisten jeder Couleur haben ihnen diese Aufklärung niemals verziehen.

Komische Rechte

Ein Leser kommentierte den Sommerfeld-Artikel:

Der Rechtsanwalt und Publizist Klaus Kunze bringt es in seinem neuen Buch „Das rechte Weltbild, Freiheit – Identität – Selbstbehauptung“ recht gut auf den Punkt: „Im rechten Weltbild ist kein Platz für fremdbestimmte Metaphysik, welcher Art auch immer. Die rechte Denkstruktur erweist sich als aufgeklärt, realistisch und an naturwissenschaftlichen Fakten orientiert. Das persönliche Bedürfnis nach geistiger Selbstbestimmung und politischer Freiheit entspringt dem Willen, die eigene Identität zu behaupten.“ …

Leser „Paavo“ 28.5.2024

Darauf wählte Sommerfeld selbst die Überschrift über diesen Blogbeitrag:

Kommentar Sommerfeld: Das scheint mir ein komischer Rechter zu sein. Ist er Liberalkonservativer?

Caroline Sommerfeld 28.5.2024

Zu komisch!

In Zeiten des totalitär werdenden Linksliberalismus mit seinen unzähligen moralisierenden Zumutungen und moralischen Glaubensbekenntnissen benötigen wir Aufklärung und keine Neu-Ideologisierung nach dem Vorbild der mittelalterlichen Scholastik. Er bildet nur eine moderne, der industriellen Massengesellschaft angepaßte Variante der verstaubten moralischen Ladenhüter, die Caroline Sommerfeld für rechts hält.


[1] Lexikon des Mittelalters, Band VIII, 1999, Spalte 1089, M.J. Tracey, Stichwort „Tugenden und Laster, ISBN 3-476-01742-7.

[2] Thomas Hobbes, Leviathan, 2.Teil, 26.Kap., S.234 f.

[3] Niccolo Machiavelli, Discorsi I.2., S.13, Kondylis (1981 / 1986), S.136 f.