Vortrag, gehalten am 29.9.2023

Der Tag der deutschen Einheit steht bevor. So haben wir allen Anlaß, der Jahre des Kampfes um Deutschlands innere Freiheit zu gedenken, der nach 1815 begonnen hatte. Als Meilensteine dienen uns die besonders denkwürdigen Jahre 1848, 1953 und 1989. An sie erinnert das Motto Ihres Kongresses.

Rahmen

Ich muß Ihnen dabei keinen jubelnden Nachhilfeunterricht über den äußeren Geschichtsverlauf geben. Ein Publikum wie Sie kennt ihn und hätte das nicht nötig.

Gerade die Abfolge der genannten Jahre weist uns überdeutlich auf wiederkehrende Kausalverläufe und strukturelle Ursachen solcher Jahre des Umbruchs hin. Auf diese möchte ich eingehen. Nur so komme ich der Antwort auf die drängende Frage näher: “Und 2023?” Was lernen wir aus ihnen, das immer gilt? Warum sind die historischen Umbruchjahre gerade heute so relevant für unsere Gegenwart und die Zukunftsperspektive?

Die historischen Kontinentaldriften

Jene historischen Jahre markieren wiederkehrende politische Umbrüche. Man stellte alte Strukturen in Frage und suchte Neuerungen durchzusetzen. Dem stemmten sich die Machthaber und Nutznießer der alten Strukturen entgegen. Ein bewährtes Instrument, das Neue aufzuhalten und Reformer niederzuhalten, war seit den Zeiten der kirchlichen Zensur die Herrschaft über die Publizistik.

Wer heute den Kurs ändern und Reformen durchsetzen möchte, sieht sich wiederum mit multiplen Beschränkungen der freien Kommunikation konfrontiert. Wir suchen die dahinter stehenden Gesetzmäßigkeiten. Sie sollen uns helfen, unsere Lage besser zu verstehen und Lösungsstrategien zu finden.

Ob man überhaupt Allgemeingültiges aus der Geschichte ableiten und für die Gegenwart nutzbar machen kann, hängt vom geschichtsphilosophischen Standpunkt ab. Es gibt Ideologien, die einen linearen, schrittweisen Geschichtsablauf hin zu einem notwendigen Endpunkt annehmen. So meinte der historische Materialismus, die Geschichte schreite infolge sozioökonomischer Wandlungen von einem gesellschaftlichen Zustand notwendig zum nächsten fort und werde einst in einer klassenlosen Gesellschaft glücklich enden. Andere Geschichtsphilosophien glauben an eine ewige Wiederkehr des Gleichen.

Ich möchte hier dagegen nicht die spekulative Philosophie bemühen, sondern möglichst empirisch nach den Gründen für Umbruchjahre suchen, zu denen man getrost die Umbrüche von 1789, 1815, 1919 und 1933 hinzunehmen könnte.

In allen jenen Jahren standen bisherige Regime und ihre Strukturen in Frage und wurden bekämpft. Meistens ging dem Kampf der Waffen ein geistig-publizistischer Kampf voraus, und vor diesem historischer Hintergrund dürfen wir uns fragen, was heute die Stunde geschlagen hat.

Am anschaulichsten wird uns die Gesetzmäßigkeit jener Umbrüche und Kämpfe an einer Metapher, einem Beispiel aus der Geologie. Ganz ähnlich wie Kontinente auf dem Erdmantel driften und irgendwann aufeinanderstoßen, ergeht es gesellschaftlichen Formationen. Solche Formationen waren zum Beispiel 1789 Adel, Klerus und Bürger.

Regierungskunst hatte immer darin bestanden, die wie Schollen treibenden Formationen zu einem Ganzen zu verklammern. Wo das nicht mehr gelang, stießen sie wie Kontinente auf dem Erdmantel gegeneinander, und unter heftigen Erdbeben schiebt sich dann eine Platte über ihre Nachbarin und drückt sie hinab, so wie es 1789 dem Adel und dem Klerus erging.

Wo aber verbindende Klammern bestehen, können die Schollen weder auseinanderdriften noch kollidieren. Diese verbindende Klammer meiner Metapher ist in der gesellschaftlichen Realität eine gemeinsame Ideologie. Mit ihr die Bürger geistig miteinander zu verklammern, ist eine Lebensfrage jeder Herrschaft. Solange Adel, Klerus, Bürger und Bauern gleichermaßen von der Legitimität der Monarchie überzeugt waren, wollte niemand das System stürzen. Die Monarchie wankte, als die Ansichten unaufhaltsam auseinanderdrifteten.

Herrschaftsideologien und ihre Delegitimierung

Legitim ist eine Herrschaft, wenn sie von den meisten Menschen akzeptiert wird als Ausdruck gemeinsamer Überzeugungen vom guten und richtigen Zusammenleben. Sie wurde im vorrevolutionären Frankreich ebenso in Frage gestellt wie später im vormärzlichen Deutschland, in der DDR 1953 und vor 1989. Es ist für jede Herrschaft eine Überlebensfrage, als legitim akzeptiert zu werden, also die eigene Herrschaftsideologie in der Bevölkerung zu verankern.

Sie bildet gewissermaßen die verbindende Klammer, welche die Schollen der gesellschaftlichen Formationen am Auseinanderdriften oder am Kollidieren hindert. Wo sie nicht ausreichend in den Köpfen verankert ist, muß sie darum aus Sicht Herrschender propagiert werden.

Ihre Ge­sell­schafts­theo­retiker haben es sich darum auch nie ver­knei­fen können, die jeweilige Herrschaftsideologie mit staatlichen Mit­teln dem Volke ein­zu­­pflan­zen. Schon Fichte for­der­te ein staatliches Erzie­hungs­­we­sen: Ganz im Stile des 18. Jahrhunderts und seines Er­zie­­hungsoptimismus solle die Frei­heit “so eng als immer mög­lich be­schränkt” und “alle Regungen un­ter eine ein­för­mige Regel” gebracht und “immerwährender Auf­sicht” un­ter­stellt werden.[1] Heu­tige So­zi­al­techniker finden hier eine gewaltige Spiel­wiese vor, schon unseren Kin­dergartenkin­dern ihre Betrof­fen­heits­neurosen und Zukunftsängste auf­zu­pfropfen. Wie Pilze schossen die Mahnmale einer Mo­ral als Geß­ler­hü­te aus dem Bo­den, vor denen wir uns pflicht­schul­digst zu verneigen ha­ben. Da­ge­­gen wand­­te sich der Philosoph Schopenhauer un­ver­än­dert aktuell:

“Ei­­ni­­ge deut­­­­­­sche Phi­lo­sophaster dieses fei­len Zeital­ters möch­ten den Staat ver­­­­­drehn zu einer Mo­ralitäts-, Er­zie­hungs- und Er­bau­ungs-An­stalt: wo­­­­­­bei im Hin­ter­grunde der jesuitische Zweck lau­ert, die per­sön­li­che Frei­­­­­heit und in­dividuelle Entwicklung des ein­zel­nen auf­zuhe­ben, um ihn zum blo­ßen Rade einer Chi­ne­si­schen Staats- und Religi­ons-Ma­­­schi­­­­­ne zu ma­chen. … Dies aber ist der Weg, auf wel­chem man wei­­­land zu Inquisi­tio­nen, Ketz­er­ver­bren­nungen] und Re­­li­gions­krie­gen ge­­­­­­l­angt ist.” 

Schopenhauer [2] 

Neben dem Einpflanzen der eigenen galt es nämlich immer, abweichende Ansichten zu unterdrücken. Nicht nur Anhänger anderer Ideologien als der herrschenden gefährden ein System. Bereits bloße Skeptiker können als subversiv gelten, wenn sie eine Herrschaftsideologie entlarven und der Lächerlichkeit preisgeben. Während jede Herrschaftsideologie die eigene Herrschaft als legitim rechtfertigt, muß jede entgegenstehende Ideologie und muß jeder Skeptizismus tendenziell als delegitimierend betrachtet werden.

Um Delegitimierer zu unterdrücken, gab es in Epochen großer kirchlicher Macht das Instrument der Zensur. Im vorrevolutionären Frankreich wurde hart zensiert, aber als diese Zensur 1787 gelockert wurde, hielt sich das Regime nicht mehr lange. Auch im deutschen Vormärz, in der DDR vor 1953 und vor 1989 hatte es harte staatliche Zensur gegeben. Sie war aber nie effektiv genug, das Eindringen delegitimierender Gedanken auf Dauer zu verhindern.

Nicht bloß mit Zensur hatte sich Bismarck abgegeben, der mit dem Sozialistengesetz von 1878 alle sozialdemokratischen Vereinigungen verbot und damit deren gesamte Presse gleich mit. Verboten wurde alle

“Vereine, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung  gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten.”

Reichhsgesetz von 1878

Zensur in unserem Verfassungsstaat

Nach Art. 5 unseres Grundgesetzes findet keine Zensur statt. Das heißt aber nur: Es gibt keine staatliche Vorzensur. Ist etwas einmal publiziert, darf durchaus staatlich verfolgt werden.

Es darf zum Beispiel der freie Vertrieb durch Gesetze eingeschränkt werden, die angeblich dem Schutz der Jugend dienen, und es darf strafrechtlich verfolgt werden, wer etwas angeblich dem Strafgesetz zuwider publiziert. Die strafrechtlichen Verbote vermehren sich wie die Kaninchen und sind in ihren jeweiligen Konsequenzen für den juristischen Laien nicht mehr vorhersehbar.

Das gilt insbesondere für politisch motivierte Beleidigungs- und Verleumdungsdelikte sowie die sogenannte Volksverhetzung, deren Anwendungsbereich immer weiter ausgedehnt wurde. In der DDR hieß sie staatsfeindliche Hetze. Heute wissen Autoren und Verleger oft nicht mehr, was noch straflos geschrieben werden darf, und müssen vor einer kritischen Pubikation vorsichtshalber Strafrechtsexperten zu Rate ziehen.

Diese Unsicherheit ist von Herrschafts wegen durchaus so gewollt, weil sie sich nicht delegitimieren lassen möchte. Sie bezeichnet gern als Haß oder Hetze, was als Kritik an den Herrschenden gemeint war. Das statistische Anwachsen solcher vorgeblicher Haßdelikte belegt nicht, innergesellschaftlich gebe es summa summarum mehr Haß als früher. Es belegt, daß man immer weniger frei heraus schreiben darf.

Das Nachrichtenportal NIUS berichtete über die Massenschlägerei in Lübeck, ohne sich um den polizeilichen Zensurversuch zu kümmern.

Man braucht dem Volk aber gar nicht erst die strafrechtlichen Daumenschrauben fester zu ziehen, solange gesellschaftlicher Friede herrscht und eine Herrschaft stabil auf gemeinsamen Überzeugungen ruht.

Daß unsere Herrschenden ihr System als brüchig ansehen und die auseinanderdriftenden Schollen fast schon panisch zu verklammern suchen, belegt, daß sie selbst ihrer Herrschaftsideologie nichts mehr zutrauen. Die breite Masse hat den Glauben in sie verloren. Das Ausmaß staatlicher Repression und Propaganda zeugt von der begründeten Furcht der herrschenden Parteien, die Überzeugungskraft ihrer Herrschaftsideologie befände sich in Auflösung.

Das Nachrichtenportal dokulentierte auch den dreisten und juristisch abwegigen Zensurversuch der Polizei.

Ob gesellschaftliche Kräfte nur auseinanderdriften oder ob sie kollidieren: Der jeweils nötige Machtaufwand, sie überhaupt noch zusammenzuhalten, belegt die elementare Kraft kollidierender Ideologien, Gruppierungen und Interessen.

Das ist auch nachvollziehbar innerhalb unserer Gesellschaft, die einst in der Nachkriegszeit noch recht homogen war, inzwischen aber planmäßig transformiert wird in eine multikulturelle Vielheit nebeneinander her lebender Gesellschaften, Ethnien, Religionen und Interessen. Je heterogener ein solches multikulturelles Konglomerat gegenläufiger Interessen und Vorstellungen ist, desto größerer Macht bedarf es, den ganzen Laden am Auseinanderfliegen zu hindern.

Die Ideologie und Selbstrechtfertigung der Multikulturalisten gibt zu, in einer so heterogenen Gesellschaft müßten die geltenden gesellschaftlichen Vorstellungen, Werte, Normen und Gesetze ständig miteinander neu ausgehandelt werden. Das kann allerdings nur funktionieren, solange die gesellschaftlichen Akteure dazu bereit sind. Es vertreten aber viele Menschen einen religiösen Glauben, der ihnen heilig ist, oder ideologische Grundsätze, an denen sie fanatisch hängen. Sie sind nicht im geringsten bereit, über ihr Allerheiligstes oder ihre Ideologie zu diskutieren oder gar die Regeln des Miteinanders täglich neu auszuhandeln, wie die Diskurstheorie es formulierte und fordert. Man kann nämlich nicht friedlich mit jemandem Tür an Tür leben, den man für einen Verbrecher hält, einen Ungläubigen, einen Ketzer, einen Nazi oder wie solche Teufel jeweils heißen mögen.

Je multikultureller eine Gesellschaft ist, desto gegensätzlichere und vielfältigere Ideologien bilden sich in ihrem Schoße. Darum ist eine multikulturelle Gesellschaft zu ihrem eigenen Machterhalt darauf angewiesen, die multiplen Sichtweisen in ihrem Innern zu homogenisieren und multikultikompatibel zu machen. Damit setzt sie sich allerdings mit ihren eigenen Prämissen in Widerspruch . Sie muß für ihren Machterhalt zu dem degenerieren, was alle anderen Ideologiestaaten auch sind: Gewaltstaaten mit universellem Wahrheitsanspruch. Sie teilt dieses Dilemma mit dem Pluralismus, ihrem Vorläufer und geistigem Zwilling.

Dieser hatte sich lange in der Denkfigur des sogenannten Verfassungspatriotismus manifestiert, der alle Bürger gleichermaßen ergreifen solle. Heute liegt der ideologische Hauptakzent nicht mehr auf dem Stolz auf ein solches juristisches Verfassungskonstrukt, sondern auf einer universellen Weltmoral. Wahlweise beantwortet sie alle Fragen, beginnend bei der der gesellschaftlichen Ungleichheit über die Seuchenimpfpflicht, die Sexualität bis hin zum Klimawandel und dem Ukrainekrieg.

Die Regeln des Miteinanders immer wieder durch Diskurs neu aushandeln müssen und zu sollen oder eine universelle Moral zu proklamieren, begründete nowendig selbst wieder eine Ideologie, die für sich alleinige Geltung beansprucht. Um sich an der Macht zu halten, muß sie alle konkurrierenden Ideologien ausschalten, die mit einem eigenen, anderen Anspruch auf absolute Wahrheit und Geltung über die Kraft diskursiver Vernunft nur Hohn und Spott übrig haben.

Darum mußte die multikulturelle Gesellschaft mit ihrem Anspruch auf grenzenlose Liberalität notwendig scheitern und sich mit den gleichen Methoden verteidigen, die sie doch so sehr verabscheut: nämlich mit die Meinungsäußerung und Publikationsfreiheit einschränkenden Gesetzen und in letzter Konsequenz mit der Polizei. Es klingelt dann früh um 6 Uhr, um mit einem Bonmot Ernst von Salomons zu sprechen, und es ist eben nicht der Milchmann. Es ist vielleicht ein vermummtes Rollkommando, das alle Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt, weil jemand auf Facebook vielleicht eine Politikerin als Biotonne oder gar als dick beleidigt haben soll oder weil jemand diesen Staat als Drecksstaat bezeichnet hat.

Digital Services Act

Die Zensur wandelt sich auf diese Weise von der Vorzensur zur nachträglichen durch Strafverfolgung, Internetsperren und dem Löschen von Inhalten von Amts wegen. Die großen Medienkonzerne sollen neuerdings durch die europarechtliche Vorgaben des Digital Services Act (DSA)[3] zu vorbeugendem Löschen gezwungen werden, also zu Zensur. Der Staat, der Vorzensur von Verfassungs wegen verbietet, hält sich fein heraus. Er bestraft aber gesellschaftliche Kräfte, die nicht willfährig die von ihm gewünschte Nachzensur vornehmen.

Dem neuen DSA zufolge müssen Diensteanbieter sogenannte illegale Inhalte löschen. In seinen sogenannten Erwägungsgründen[4] beschreibt das Europäische Parlament, was es damit meint. Ich zitiere den Beginn von  Erwägungsgrund 9:

Mit dieser Verordnung werden die für Vermittlungsdienste im Binnenmarkt geltenden Vorschriften vollständig harmonisiert, um ein sicheres, berechenbares und vertrauenswürdiges Online-Umfeld sicherzustellen, das der Verbreitung illegaler Online-Inhalte und den gesellschaftlichen Risiken, die die Verbreitung von Desinformation oder anderen Inhalten mit sich bringen kann, entgegenwirkt…

Nun steht nirgends definiert, was Desinformation sein und warum sie gelöscht werden soll. Muß aus dem Netz gelöscht werden, der afrikanische Kilimandscharo stehe in Amerika? Dem Wortlaut nach schon. Oder ist es Desinformation, Covid-Impfungen könnten schaden? Uns stehe eine Klimakatastrophe bevor? Solche Behauptungen sind tatsächlich, also als Fakten, gemeint. Sie enthalten aber zumeist eine Mischung aus Tatsachenbehauptung und wertender Meinungsäußerung. Nach der Rechtsprechung unseres Bundesverfassungsgerichts darf man so etwas meinen, ganz gleich, ob sich auch richtige oder falsche Tatsachen darin verbergen. Dem Brüsseler DSA zufolge werden jetzt amerikanische Privatfirmen, die bekannten Medienriesen, darüber entscheiden, ob das als Desinformation illegale Inhalte sind und sofort gelöscht werden.

Was konkret zu löschende illegale Inhalte sind, bestimmt sich aber nach nationalem Recht. Dieses ist unterschiedlich. Was hier verboten ist, mag dort erlaubt sein. So wird nach deutschem Strafrecht bestraft, wer eine Völkermordhandlung in einer Weise billigt, leugnet oder gröblich verharmlost, die geeignet ist, zu Haß oder Gewalt gegen Personenmehrheit aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören. Nach § 130 Abs.5 StGB soll gegebenenfalls ein Amtsrichter entscheiden, ob Massaker von Hutus an Tutzis oder Stalins an Ukrainern ein Völkermord waren. In Ungarn dagegen ist das Leugnen kommunistischer Verbrechen strafbar. Was nun sollen Facebook und Co. alles löschen? Unzählige Rechtsfragen sind hier ungeklärt.

Für unsere politischen und soziologischen Fragestellungen kommt es hier nur darauf an, daß auch von EU-Ebene ein machtvoller Meinungsdruck auf uns ausgeübt wird, der uns schon im Vorfeld des Meinens unsere früher freie Information und ihre Verbreitung regulieren soll.

Strafdrohungen als Indiz für tektonische Verschiebungen

Solange man Menschen nicht nervt, bleiben sie gewöhnlich friedlich und freundlich. Daß ein entnervter Wohnungsmieter auf den Hof rennt und mit eine Schrotflinte auf ewig lärmende Kinder schießt, kommt äußerst selten vor und ist dann vor allem auf dessen eigenes, pathologisch geschwächtes Nervenkostüm zurückzuführen. Wenn wir unseren Herrschenden und ihren Statistiken glauben dürfen, sind aber sogenannte Haßrede und Hetze zu Massenphänomenen geworden.

Den Begriff Haßrede hatte es bis vor wenigen Jahren in Deutschland gar nicht gegeben. Kaum war er in den USA als Mittel erfunden worden, Kritiker zu maßregeln, die das Maul zu weit aufrissen, gab es Haßreden plötzlich auch in Deutschland. In meiner täglichen Praxis als Strafverteidiger finde ich Täter solcher Delikte aber vornehmlich als ruhige Bürger, die sich im Internet aufregen über Messermorde, Vergewaltigungen, Sozialbetrug und andere verbotene Phänomene, und die dabei den Fehler machen, zu pauschalieren und gleich komplette Bevölkerungsgruppen anzugreifen. So hatte ein unlängst verstorbener prominenter Publizist einmal Zigeuner als marodierende Diebes- oder Räuberbanden bezeichnet und war dafür verurteilt worden.

Wer seinem Herzen durch solche Pauschalurteile Luft macht, muß aber erst einmal etwas auf dem Herzen haben, das ihn bedrückt und zur Weißglut treibt. Das Ausufern strafrechtlicher Verbotsbestimmungen gegen Meinungsäußerungen und das statistische Ausmaß von Verstößen sind ein Gradmesser für Verschiebungen der gesellschaftlichen Stimmungslage. Innergesellschaftliche Feindseligkeiten haben ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht.

Die an ihnen beteiligten Gruppen hören sich nicht mehr zu und wollen das auch gar nicht. Sie bilden eigene Kommunikationsblasen, zwischen denen oft auch schon sprachlich keine Verständigungsmöglichkeit besteht. Je nach religiöser oder ideologischer Richtung verfolgen sie ihre ganz eigenen Ziele und Interessen. Eine dieser Blasen befindet sich zur Zeit an den Hebeln der Staatsmacht. Sie nutzt es aus, daß die juristischen Formen des politischen Strafrechts althergebracht sind und von wechselnden Regierungen oder neuen Machteliten schnell neuen Bedürfnissen angepaßt werden können. Das gilt zum Beispiel bei unbestimmten Rechtsbegriffen wie dem des öffentlichen Friedens.

Wenn immer neue Straftatbestände eingeführt und alte verschärft werden, ist das ein Frühindikator für tektonische Verschiebungen innerhalb – besser noch: unterhalb der Gesellschaft. Eine Meinungsäußerung als Delikt zu bezeichnen hat ein Staatswesen nicht nötig, wenn seine Bürger im Großen und Ganzen mit seiner Verfaßtheit und seinem Zustand einverstanden sind. Einem Staat wie dem friderizianischen Preußen war es denkbar gleichgültig, was seine Bürger so sagten und meinten. Sie waren nämlich mehrheitlich treue Untertanen und stellten ihre Staatsmacht nicht in Frage. Aus anderen europäischen Ländern zog es Flüchtlinge nach Preußen, die ungezwungener meinen wollten, was ihnen in den Sinn kam. Man solle die Gazetten nicht genieren, formulierte Fritz selbst, und damit alle Umstehenden eine an der Straße aufgehängte Karikatur des Königs besser sehen konnten, befahl er nur: „Niedriger hängen!“

Jemand hatte als Spott über die neue Kaffeesteuer Friedrich den Großen auf ein Plakat gezeichnet und an die Straße gehängt, das ihn auf einem Schemel sitzend mit einer Kaffeemühle zeigte. Als er vorbeiritt, wich alles scheu auf Seite. Er sagte aber nur, mal solle das niedriger hängen, damit die Leute nicht zu die Hälse recken sollten. Unter Hochrufen auf ihren König rissen diese die Karikatur einfach herunter (Adolph Menzel, in: Franz Kugler, Geschichte Friedrich des Großen, 1840).

Heute dagegen wird eine Karikatur eines Gesundheitsministers als “Gollum”[5] als Beleidigung strafrechtlich verfolgt.[6] Unser Staat hatte es auch nötig, seinem § 188 StGB die Verschärfung zu geben:

„Wird gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) eine Beleidigung (§ 185) aus Beweggründen begangen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und ist die Tat geeignet, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Das politische Leben des Volkes reicht bis hin zur kommunalen Ebene.“

So kommt es dann zu zahlreichen, der Einschüchterung dienenden Strafverfahren, die aber oft erfolglos bleiben. So sprach das Amtsgericht Magdeburg einen Angeklagten frei, der über den Vornamen des Babys einer grünen Ministerin süffisant geschrieben hatte: „Warum nicht Achmett bei türkischem Erzeuger ohne Gebärmutter? Immerhin hat sie sich an die grüne Agenda gehalten und kein biodeutsches Kind produziert. Hätte antideutsche Wählerstimmen kosten können.“[7] Nun kann man darüber grübeln, ob das eine sonderlich kluge Bemerkung gewesen war. Aber Haßkriminalität? Wohl allenfalls, um die Statistik für den Kampf gegen Rechts passend zu machen.

Haß ist so etwas nicht. Während etablierte Politiker einen großen Teil des Volkes an den Rand seiner Existenz treiben, reagieren verzweifelte Bürger eher mit Spott und Verachtung. Das Wort Haß paßt besser anders herum, wobei ich mich an Heinrich Böll erinnere, der 1966 nach einem Bericht im Spiegel gesagt hatte:

„Dort, wo der Staat gewesen sein könnte oder sein sollte, erblicke ich nur einige verfaulende Reste von Macht, und diese offenbar kostbaren Rudimente von Fäulnis werden mit rattenhafter Wut verteidigt. Schweigen wir also vom Staat, bis er sich wieder blicken läßt.“[8]

Heinrich Böll, 1966.

Das steigende Maß an Repression ist Indiz und Gradmesser dafür, daß in unserem Lande gesellschaftliche Kräfte, Kontinentalplatten gleich, aufeinanderprallen. Immer engermaschigere Strafbestimmungen machen kritische Meinungsäußerungen zu einem unvorhersehbaren Risikospiel, während vorgegebene Sprachregelungen unserer Massenmedien den Bürgern Tag für Tag einbläuen, was sie nicht sagen sollen und darum bald auch nicht mehr denken können. Eine Schere im Kopf läßt Menschen verstummen aus Angst, gesellschaftlich ins Abseits zu geraten.

Was unsere Herrschenden unter dem Banner “Kampf gegen Rechts” führen, trägt alle Züge eines teils schon pathologischen Verfolgungswahns, als ginge es für sie um Leben und Tod.

Mein Kollege Rechtsanwalt Hans-Georg Maaßen sieht es speziell als wesenseigenes Merkmal des Totalitarismus an, „daß er die Gesellschaft ideell „besenrein“ machen muß. Der öffentliche Raum muß frei sein von störenden Einstellungen, falschen Meinungen und allem, was ihm und seiner Ideologie widerspricht, schrieb er neulich auf Twitter.[9]“ Das sehe ich nuancierter. Es gibt keine eigenständige Ideologie oder Staatsform namens Totalitarismus. Jedwede Herrschaft muß sich umso totalitärer formieren, je stärker ihre inneren Feinde werden, die die sie entweder niederhalten oder selbst untergehen muß. Die frühere Totalitarismustheorie ist überholt. Sie hatte aus polemischen Gründen die bösen totalitären Staatsformen grundsätzlich von der guten liberalen scheiden wollen. Heute sehen wir dagegen, wie ein Exzeß liberaler Grundideen, der Multikulturalismus nämlich, die häßlichen Begleiterscheinungen des Totalitären annimmt, die schon der scheinbar fromme Spruch vorwegnimmt: Keine Freiheit den Feinden der Freiheit.

Prävention und Repression

Teils polizeistaatliche Methoden sind es, die – in meiner Metapher von den Kontinentalschollen – abdriftende oder sich gar unter die Hauptplatte schiebende Schollen brav mit dieser verklammern und in  Schlepptau nehmen sollen.

Je stärker objektive Interessengegensätze zwischen Bevölkerungsgruppen sind, desto rigider muß jede Herrschaft darauf bedacht sein, den inneren Frieden durch eine homogene Staatsideologie aufrechtzuerhalten. Darum finden wir auch im Volksverhetzungstatbestand den Verweis auf die potentielle Friedensstörung durch derartige Taten, ebenso wie schon mit der gleichen Formulierung in Bismarcks Sozialistengesetz. Öffentlicher Friede ist immer eine Chiffre für die ungestörte Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo, also der derzeitigen Verfassung, in der eine Gesellschaft sich befindet, und dient damit zugleich Aufrechterhaltung der Herrschaft derjenigen machteliten, die diese Herrschaft ausüben.

Je verschiedener innerstaatliche Bevölkerungsgruppen an Religion und Anschauungen sind, und je unterschiedlicher ihre ökonomische Interessenlage, desto näher liegt es, Konflikte in letzter Konsequenz auch mit unfriedlichen Mitteln auszutragen. In Frankreich gehören dazu zum Beispiel inzwischen bereits das Ermorden von Priestern am Altar, das Anzünden von Kirchen oder Moscheen und dergleichen. Schlichte ökonomische Gründe genügen aber, sprach doch schon Karl Marx von Ausbeutung und Entfremdung als Gründe für eine Revolution, und ausgebeutet und im eigenen Land entfremdet fühlen sich in Deutschland inzwischen viele Menschen. Wir sitzen nämlich zwar alle in einem Boot, aber immer weniger rudern, um immer mehr empfinden es als Kreuzfahrt.

Um jeden Gedanken an revolutionäre Gelüste schon im Keim zu ersticken, benötigt ein multiethnisches Staatsgebilde mit täglich weiterer Landnahme durch Fremde sowohl umfassende Konditionierung der Bevölkerung darauf, wie bereichernd und schön doch Multikulti ist, als auch repressive Unterdrückung allzu vorlauter Kritik. Prävention und Repression sind die typischen Instrumente polizeilichen Handelns zur Gefahrenabwehr. Hier dienen sie der Abwehr einer Gefahr für die Stabilität eines Herrschaftssystems, dem sogenannten inneren Frieden.

Nun liegt es in der Natur jedes Herrschaftssystems, daß es Beherrscher und Beherrschte gibt. Dem Selbstverständnis unserer Demokratie zufolge soll das Volk zwar Herrscher und Beherrschter zugleich sein, sich also selbst regieren. Diese innere Legitimation mußte aber zerbrechen oder funktioniert von Anfang an nicht, wo in einer heterogenen Gesellschaft gruppenbezogene Interessen unüberbrückbar aufeinanderprallen. Das führt zur Dominanz der einen Seite und zur Machtlosigkeit der anderen.

Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Staat einer abgrenzbaren Gruppe über 50% ihrer Arbeitsleistung wegsteuert, während eine andere von arbeitslosem Einkommen zuweilen besser lebt als ein hart Arbeitender der anderen Gruppe. Solange in einem Staat ein halbwegs homogenes Volk lebt, empfindet es die Arbeitenden und die Alimentierten nicht als spezifische Gruppen. Sobald sich aber die sozioökonomischen Gruppen mit ihren entgegenstehenden Interessen auch durch andere, für jeden sofort sichtbare Mekmale auszeichnen, zum Beispiel durch eine andere Sprache oder andere Bekleidung, drängen sich die Interessen ins Bewußtsein: Man unterscheidet dann zwischen einem Wir und einem Die. Aus dem Gefühl, ausgenutzt und ausgebeutet zu werden, können Abwehrhaltungen und Aggressionsbereitschaft erwachsen.

Keine verfestigten Gruppen bilden in jedem Volk diejenigen, die sich nur durch ihr Lebensalter oder ihr Geschlecht von anderen unterscheiden. Wir durchlaufen alle verschiedene Alter und sind darum grundsätzlich zur Solidarität mit Kindern bereit, die sind, wie wir selbst waren, und mit ganz Alten, die wir voraussichtlich sein werden. Geschlechtsspezifische Merkmale wiederum verdichten sich nicht zu antagonistischen Gruppen, weil sich die meisten durch Heirat mit jemandem des anderen Geschlechts dauerhaft verbinden und die beiderseitigen Interessen zu gemeinsamen werden.

Früher galt das Gefühl: „Wir sind als Deutsche alle eine Gemeinschaft und sind solidarisch.“ Dieses Gefühl ist auch die Voraussetzung  für in Wahlkämpfen unterlegene Minderheiten, die Mehrheitsentscheidung und -herrschaft zu akzeptieren. Genau dieses Gefühl nationaler Solidarität hatte 1848, 1919, 1953 und 1989 die Ängste und Bedenken vieler Menschen vor Zensur, vor Bajonetten und schließlich vor Panzern überwunden. Was für die einen Befreiung von Bevormundung und Unterdrückung war, endete für die Anhänger des jeweils alten Regimes häufig mit dem Ende ihrer Privilegien und dem Untergang.

Überall, wo multikulturelle und heterogene Gesellschaften nicht irgendwann wie in einem Tiegel verschmelzen, droht die Gefahr einer Revolution oder eines Bürgerkrieges. Er steht vor der Tür, wenn sich innergesellschaftliche Gruppierungen formieren und nach Eigenmacht streben. Dann könnten sie kontinentgleich auseinanderdriften wie die Schotten weg von England. Gibt es aber keinen Weg hinaus, wie beispielhaft in der französischen Revolution, kommt es zwangsläufig zum heftigen Aufprall.

Die Steuerleute unserer heute im Hauptstrom der Macht schwimmenden Scholle sind klug genug, diese Gefahr für ihre Herrschaft zu erkennen. Mit allen Mitteln der Prävention wollen sie ihre Herrschaft stabilisieren und als ideologisch legitim in den Köpfen verankern. Es hören ihnen aber immer mehr Menschen nur noch angewidert und viele gar nicht mehr zu. Sie fühlen sich wie eine Schiffsbesatzung, wenn die Offiziere zu aller Verblüffung beim Morgenappell die alte Flagge einholen und eine feindliche hissen. Die Meuterei der dem Alten Getreuen, denen das zu bunt wird, läßt sich dann nur durch Repression bekämpfen. Als Zeichen der Machtergreifung hißt man dann die neuen Farben und befiehlt den Untertanen höhnisch, diese zu grüßen wie einen Geßlerhut. Wir hatten das in unserer Geschichte mehrfach: Die Fahne einer die Macht ergreifenden Parteiung wird zur neuen Staatsfahne erklärt.

Due heute Herrschenden bezeichnen den Prozeß ihrer Machtergreifung als Transformation. Die bisherigen Wertbegriffe werden umgedeutet, die ihnen verhaßte bürgerliche Gesellschaft und ihre freiheitliche demokratische Grundordnung wird relativiert und schleichend delegitimiert, und gleichzeitig behaupten sie dreist, die wahren Vertreter und Erben unserer freiheitlich verfaßten Nachkriegsordnung zu sein und der freiheitlichen Grundordnung erst zu voller Geltung in ihrer wahren Bedeutung zu verhelfen.

Tatsächlich delegitimiert unseren Staat und sein schwarz-rot-goldenes Symbol, wer vor seinen Gebäuden die Farben unserer Demokratie einholt und durch die Minderheitenfarben seiner Ideologie ersetzt. Wer sich ihrem transformatorischen Machtanspruch entgegenstellt, den bezeichnen sie selbst als Delegitimierer. Daran ist richtig erkannt, daß hier zwei antagonistische Ansprüche auf Legitimität wie Kontinente aufeinander zudriften. Es kann nur einen geben. Beim Aufprall sollten sich alle Passagiere gut festhalten.

Durch Spitzel und Geheimdienste hatten Machthaber schon immer eine feine Riechnase für Gefahren. „Gegen Demokraten“, sinnierte 1848 der preußische Kronprinz, „helfen nur Soldaten!“ Alle Zensur hatte nicht die elementare, unterirdische Wucht der sich unter die Scholle bisher legitimer Macht geschobenen demokratischen Bewegung des Vormärz aufhalten können.

1848 galt dem Preußenprinz Wilhelm das Wort Demokraten geradezu noch als schimpflich. Jedes alte Regime hetzt gegen seine Machtkonkurrenz. Bis 1953 und 1989 hatte sich die Demokratenriechnase in eine Faschistenriechnase verwandelt. Für die SED war der Volksaufstand des 17. Juni ebenso ein faschistischer Aufstand wie bis heute für orthodoxe Linke die Wende von 1989. Es überrascht nicht, daß es inzwischen Naziriechnasen sind, die allüberall Witterung aufnehmen und hetzen, wo sie die Legitimität der neuen multikulturellen Hegemonie und die Heiligkeit ihrer Fahne angezweifelt sehen.

Wir befinden uns bereits mitten in einem bisher nur geistigen Bürgerkrieg. Sollten aus Sicht der derzeit Herrschenden irgendwann die falschen Leute vor ihrem Einzug in Parlamente und Regierungen stehen, müssen wir mit allem rechnen. Sie wähnen sich nämlich in uneingeschränktem Besitz der absoluten Moral, die sie an Stelle nicht mehr vorhandener Sachargumente vor sich sachlicher Argumente wie eine Monstranz vor sich her tragen.

Jede Diskussion delegitimiert

Zensur und Beschränkung der Diskussion durch Strafdrohungen sind Indizien dafür, daß bisher unhinterfragte Überzeugungen abbröseln. Der Soziologe Gustave Le Bon (1841-1931) erkannte 1895:

“Der Tag, an dem eine große Überzeugung zu schwinden bestimmt ist, ist leicht zu erkennen. Es ist derjenige, an dem ihr Wert diskutiert zu werden beginnt. Da jede Gesamtüberzeugung nur eine Fiktion ist, kann sie nur bestehen, wenn sie keiner Prüfung unterzogen wird.”[10]

Darum muß jede Herrschaft versuchen, die Diskussion über die Grundlagen ihrer Legitimität zu unterbinden. Wenn sie die Macht dazu hat, erstirbt die freie Diskussion. Sie wird von den Herrschenden ersetzt durch Machtsprüche von oben, zu denen es angeblich “keine Alternative” geben soll. Die Gegenrede von unten findet vor den staatlich finanzierten Mikrofonen nicht statt. Sie wird ins Abseits von Kurzmitteilungen amerikanischer Medienriesen gedrängt, stets mißtrauisch umlauert von politisch korrekten Zensoren und von Denunzianten, die ihr allzugern das Etikett der Haßrede anheften.

Wenn aber die freie Diskussion abstirbt und beide Seiten mehr Seifenblasen als Argumente absondern, gilt der Satz des französischen Kritikers Auguste Romieu (1800-1855):

“So lange, bis der Mensch seine Natur verän­dert, muß sich die Gewalt stets gegen die Diskussion auf­lehnen, wenn die Gewalt groß und die Rede klein ist.”[11]

Wir sollten darum immer die Überzeugungskraft der Rede groß halten, wenn wir in gewaltsamen Kampfformen nicht unsere Chance sehen und auch keine Lust auf sie haben.


[1] Fichte, Reden an die deutsche Nation, 8. Rede, S.138.

[2] Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, § 17, S.242.

[3] https://eur-lex.europa.eu/eli/reg/2022/2065

[4] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TC1-COD-2020-0361_DE.pdf

[5] Figur aus dem Roman “Der Herr der Ringe” von Tolkien.

[6] Staatsanwaltschaft Göttingen 804 Js 21369/23.

[7] Rechtskräftiger Freispruch durch Urteil AG Magdeburg vom 7.10.2022, 12 Cs 456 Js15277/22 (240/22).

[8] https://www.spiegel.de/kultur/faeulnis-und-verfall-a-42f8db38-0002-0001-0000-000046414469?context=issue

[9] Hans-Georg Maaßen, Twitter 27.8.2023, https://twitter.com/HGMaassen/status/1695770178242392168.

[10] Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, 4. Kapitel, § 1.

[11] Romieu, Der Caesarismus, S.30.