… und dann ging alles ganz schnell!

Im Laufe langsamer Ereignisse gibt es Kipp-Punkte. Für die Weltgeschichte gilt das genauso wie in Wildwestfilmen.

High noon. Die Zeit scheint stillzustehen, wenn die Gegner die staubige Straße vor dem Saloon betreten, wenn stahlblaue Augen unter der Hutkrempe den Bösewicht durchbohren, selbst die Musik verlangsamt sich. Und dann geht alles ganz schnell. Wer zuerst blinzelt, hat verloren. Schüsse peitschen. Der Showdown ist gelaufen.

In unzähligen Strafprozessen hörte ich Zeugen einer Schlägerei lang und breit die Vorgeschichte erzählen. Dann wird es spannend. Richter und Prozeßbeteiligte spitzen zum Mitschreiben die Ohren. Wer hatte als erster zugeschlagen? Doch unversehens wird der Augenzeuge unsicher: „Dann ging alles ganz schnell.“

Jeder Prozeßerfahrene weiß: Zu schnell für den Beobachter. Wer als erster wen gedrängelt, geschubst oder geschlagen hat, weiß ich nicht. Seine Aussage ist unbrauchbar.

Die Spannung entlädt sich

Wie vor der Kneipenschlägerei baut sich auch in der Weltgeschichte die Spannung sehr langsam auf, um sich dann so schnell zu entladen, daß man morgens in einer anderen Welt aufzuwachen meint. Sie ist aber nur an einem Kipp-Punkt von einem instabilen Zustand in einen anderen gesprungen, der vielleicht zu neuen, stabilen Verhältnissen führen wird. „Der König ist geköpft. Es lebe die Republik!“

… und dann ging alles ganz schnell. Enthauptung Hinrichtung Ludwigs des XVI. – Kupferstich aus dem Jahr 1793 (Wikipedia)

Bis die Pariser Botschaft auch die letzten Provinzler in ihren entlegenen Tälern der Ahnungslosen erreicht hat, kann einige Zeit vergehen. Solange ist man dort noch königstreu. Irgendwann werden die Revolutionsgarden auch hier einmarschieren, und die letzten Königstreuen werden mit der Guilottine Bekanntschaft machen.

Die Pariser Revolutionäre 1789 und ihre russischen Epigonen 1917 hatten nicht in “derselben Welt” gelebt wie ihre Zeitgenossen auf dem Lande, wo man noch treu der Krone anhing. Auch im heutigen Deutschland leben Menschen in so gegensätzlichen Welten, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Die einen erleben eine tägliche „humanitäre Katastrophe“ und die Vorboten einer Klimakatastrophe. Es kann ihnen gar nicht schnell genug gehen, unser Land bis zur Unkenntlichkeit umzukrempeln und in die „andere Republik“ zu transformieren, von denen meine Altersgenossen 1968 immer geträumt hatten. Die anderen sehen ihre Welt soeben in Scherben fallen. Inzwischen weilen unter uns weitere andere: Millionen, die sich Sattheit und ein arbeitsloses Einkommen in ihren kühnsten Träumen nicht hätten vorstellen können und uns mal besuchen kommen, um zu bleiben.

Die Transformationsträume der Progressiven und die Wohlstandserwartungen ihrer schutzbefohlenen Kolonisten benötigen aber eine langfristige materielle Grundlage. Wenn die Regierung pausenlos ihre Kapelle das Lied „Beste aller Welten“ spielen läßt, muß irgendwann jemand die Musiker und das üppige Buffett bezahlen.

Jahrzehntelang war die Staatsquote langsam gestiegen, also der Anteil des Staates und seiner Subsysteme am Erarbeiteten jedes Werktätigen. Sie liegt jetzt weit über 50%. Weil aber die Massenvermehrung der Geldmenge immer weiter die Kaufkraft verringert, beginnt der Wohlstandsverlust zu galoppieren.

Hatten sich die Cowboys vor dem Saloon lange wie im Zeitlupe bewegt – selbst die Musik schien innezuhalten – ging plötzlich alles ganz schnell. Wenn es knallt und einer blutend im Dreck liegt, ist es passiert.

So war es 1989 dem Regime der sozialistischen Stacheldrahtbauer und Mauermörder ergangen. Nach der Nacht der Freiheit sah die Welt ganz, ganz anders aus. Phantasielose Menschen und oberflächliche Zuschauer waren überrascht. Aus den Sesseln ihres Staatsfernsehens Ost oder West hatten sie die Menetekel des untergehenden Regimes – seine Schatten an der Wand – nicht erkannt.

Fremd in einer fremden Welt

Heute stehen immer mehr Zuschauer in der virtuellen ersten Reihe von ARD und ZDF irritiert auf, blicken erstaunt auf ihr reales Konto und konsterniert auf die Straße, wo man sich mit Latten prügelt. Hatten sie nicht bis eben noch gesehen, daß wir herrlich moralischen Zeiten entgegengehen und daß an diesem unserem Wesen bald die Welt genesen wird?

Waren es nicht bloß querschwurbelnde Nazis, die vor einer Relativierung unserer Grundrechte und vor Masseneinwanderung gewarnt hatten? Hieß es nicht immer, „rechte Gewalt“ sei unser Problem, und gewiß stehe ein Fackelzug von Braunhemden durchs Brandenburger Tor wieder unmittelbar bevor, wenn wir nicht vorher alle an Covid sterben oder uns das Himmelsklima auf den Kopf fällt?

Moralpolitik, so schien es immer, bezahlen wir locker aus der Portokasse, aus dem immerwährenden Wirtschaftswachstum, und die paar wenigen „Flüchtlinge“ sah man ja auch nicht in den gutbürgerlichen Speckgürteln der Großstädte.

In diesen Tagen pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß ein massiver Umbruch des Meinungsklimas stattgefunden hat. Die Realität zerstört die Seifenblasen linker Utopien. Eine neue, realistische Sicht der Probleme hat den 10%-Bereich der politischen Rechten verlassen und ergreift nach und nach die Mehrheit der Bürger.

Diese werden dadurch nicht zu Rechten. Sie erkennen aber, daß die brutale Durchsetzung linker Utopien ihre ökonomischen Lebensgrundlagen zerstört, und ganz nebenbei auch unsere Freiheit einengt, uns politisch zu organisieren und frei unsere Meinung zu vertreten. Stellen Sie sich mal in Göttingen auf den Marktplatz und entrollen ein Transparent „Gegen Masseneinwanderung“, dann werden sie das schnell merken. Abends im Staatsfernsehen werden Sie dann – wenn überhaupt berichtet wird  – von einer Nazidemo erfahren, gegen die friedliebende Gegendemonstranten auf die Straße gegangen sind.

Mit der Zeit gewöhnt die Masse der Menschen sich an viele Übel bis hin zu ihrer völligen Knechtung, Entrechtung und Ausbeutung. Kommen die Übel aber über Nacht, steigt die Verärgerung so schnell, daß sie einen Kipp-Punkt erreichen kann.

Wir nähern uns dem Kipp-Punkt

Darin liegt unsere Chance. Künftige Kipp-Punkte führen nie zwangsläufig zum Kippen. Was kippelt, kann in jede Richtung kippen. Kipp-Punkte sind die historischen Augenblicke, in denen sich etwas Grundlegendes ereignen kann, aber nicht muß.

Wir Deutsche sind ruhige Bürger. Lenin hatte bekanntlich gespottet: Wenn wir eine Revolution machen und einen Bahnhof stürmen wollen, kauften wir erst am Schalter eine Bahnsteigkarte. Heute ballen immer mehr Menschen still und heimlich die Faust in der Tasche – metaphorisch gesprochen.

Wenn sie eine kritische Masse erreichen, aufhören mit bloßem Jammern, Wehklagen und Räsonnieren und sich in politisch handelnde Bürger verwandeln, ist der Kipp-Punkt erreicht.

Je kippliger die Lebensverhältnisse der arbeitenden Menschen werden, desto näher rückt der Kipp-Punkt, an dem ihre Angst vor dem Absturz alle vom Staatsfernsehen eintrainierten Denkgewohnheiten überlagern wird. Je stärker die Regierungskoalition den Bogen überspannt und ihr wahres Gesicht zeigt, desto größer wird die Chance sein.

Wir werden das bei den nächsten Wahlen möglicherweise erleben.

Manchmal ist es in der Geschichte allerdings auch wesentlich schneller gegangen.