Der oppositionelle Instinkt

Was die Regierung macht, muß falsch sein – die Instinktreaktion jeder Opposition. Muß dieser Instinkt immer richtig sein – politisch richtig?

Wie ein Leichentuch legen sich die Corona-Maßnahmen über die Gesellschaft. Unter ihm träumt die Linke ihren Traum von gesellschaftlicher Gleichheit: Wenn alle eingesperrt sind, hat keiner das Privileg der Freiheit.

Wie ein Leichentuch legen sich die Corona-Maßnahmen über die Gesellschaft

Die Rechte griff eilfertig alles auf, was an Kritik gegen die Coronamaßnahmen in der Luft lag: Die Seuche sei gar nicht so gefährlich, die Maßnahmen überzogen, die Statistiken gefälscht. Überhaupt seien wir ja ein Land freier Bürger, und Einschränkungen unserer Grundrechte würden wir uns niemals gefallen lassen.

Sofern dahinter jemals eine durchdachte Strategie gestanden haben könnte, ist sie nicht aufgegangen. Die Umfragewerte der Merkel-Union stiegen, die ihrer rechten Opposition sanken, und eine erhebliche Mehrheit der Bürger findet den Regierungskurs grundsätzlich richtig. So steht die Rechte im Abseits, in derselben Schmuddelecke, wo sich ausgemachte Esoteriker, Impfgegner und ein gewisser rechter Narrensaum die Hand reichen. Die Mehrheit der Bürger denkt sich: Zeige mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist!

Advocatus diaboli

Man kann immer geistig die Probe machen, ob eine Strategie Erfolg verspricht, indem man selbst ihren Advocatus diaboli spielt: Man argumentiert einmal gegen seinen eigenen Standpunkt, ob der wohl hält. Das kann eine wirksame Methode des Querdenkens sein. Was sagt mir mein Diabolus?

Mein Freund Niccoló flüstert mir eine erste Warnung zu: Wer seine Strategie nicht mit der Realität und ihren Zeitverhältnissen verknüpft, muß scheitern. Es kommen viele Wahlen auf uns zu. Welche politischen Optionen bieten die größten Chancen?

Merkel weiß das natürlich. Sie hat meinen Freund auch unter dem Kopfkissen. Wenn die Angst der Massen ihr Wähler zutreibt – warum ihnen die Angst nehmen? In allen Stunden allgemeinen Not scharen sich die Geängstigten um eine Führungsperson. Dichtete nicht Ernst Leibl schon 1917:

Wir heben unsre Hände
aus tiefster, bittrer Not,
Herr Gott den Führer sende,
der unsern Kummer wende
mit mächtigem Gebot!

Ernst leibl 1917

Nicht die Mutti!

So waren die Menschen damals, und so sind sie heute. Wenn sie Angst haben, kriechen sie unter die Fittiche eines Führer – oder einer Mutti. Wer ihr politisch den Rang ablaufen will, muß ihnen zurufen: „Nicht die Mutti! Das ist nicht die Mutti! Folgt der Schwindlerin nicht!“

Mit dem letzten Fähnlein der sieben Aufrechten wird er keine Mehrheit gewinnen. Die Selbstbewußten, die Mutigen, die Kritischen, sie genügen für ein paar Hinterbänklersitze im Bundestag, aber nicht für eine strategische Mehrheit. Diese ließe sich aber gewinnen, wenn die eigene politische Grundposition sich mit den Bedürfnissen der Wählermehrheit zur Deckung bringen ließe.

Dazu müßte eine solche Grundposition allerdings erst einmal klar formuliert werden. 2020 die Regierung zu kritisieren, weil doch alles nicht so gefährlich ist und die Maßnahmen überzogen sind, aber 2021 zu lamentieren, daß es nicht genug Impstoff gibt, mag in der bevorstehenden traurig-stillen Karnevals-Session einen Lacherfolg hervorrufen, ersetzt aber keine durchdachte Strategie.

Man kann alle 2020er-Einwände gegen die Corona-Freiheitsberaubungen auf einen zutiefst liberalen Kern zurückführen: Der Staat wird um des Einzelnen und seiner Freiheit willen gedacht. Wir wollen sowenig staatliche Eingriffe wie irgend möglich. Darum darf die Wirtschaft nicht in ihrer Freiheit beschnitten werden, weil wir dann kein Geld mehr verdienen können und es uns allen schlecht geht. Die ökonomische Abwägung zwischen der Lebensverlängerung einiger Greise in Pflegeheimen um ein oder zwei Jahre gegen den Wohlstand Aller schlägt unter liberalen Prämissen zugunsten der Freheit aus: Jeder schütze sich, wer kann.

Der freie Markt

Das wäre allerdings kein rechter und schon gar kein oppositioneller Standpunkt. Tatsächlich haben zum 1. Januar 2021 rund 20 Krankenhäuser geschlossen, weil sie sich nicht mehr rentierten. Die Regierung setzte 2020 sehr stark auf den Markt. Der werde schon dafür sorgen, daß wir genug Laborkapazitäten, Intensivbetten, Masken und Impfdosen zur Verfügung haben werden, wenn der Bedarf da ist.

Daß der freie Markt sich leider etwas anders verhielt, scheint unsere ökonomische Laienspieltruppe auf den Regierungsbänken zu erstaunen. Mutti erhebt zwar jederzeit mahnend den Zeigefinger und fordert Gehorsam. Sie erwies sich aber als schlechte Mutti, die jetzt mit leeren Händen und ohne genug Impfstoff dasteht. Zu kritiseren gibt die Corona-Politik der regierung wahrlich genug.

Wäre es nicht die oberste Pflicht der Regierung, uns vor Gefahr zu schützen? Für den Ausgang der kommenden Wahlen ist völlig irrelevant, ob und wie groß die Gefahren tatsächlich sind. Ausschlaggebend ist die Angst eines Großteils der Bevölkerung, ständig auch geweckt und geschürt durch unsere Regierungsverlautbarungsmedien.

Hätte sich nicht eine rechte Oppositionspartei an die Spitze der Verängstigten zu setzen und sie zu führen, statt ihnen nur zuzurufen: „Habt keine Angst, Corona will doch nur spielen“? Politische Führung muß Schutz und Geborgenheit ausstrahlen. Warum sonst sollten sich Bürger ihr anvertrauen? Seine Bürger zu schützen und zu bergen, ist die originäre Aufgabe eines Staates, sein eigentlicher Daseinszweck. Alle gesetzlichen Instrumentarien erlaubt das Grundgesetz – Eigentum verpflichtet.

Der seit Jahrzehnten herrschende Ultraliberalismus hat aber die frühere deutsche Staatlichkeit aufgelöst und alle Macht in die Hände einer totalen Gesellschaft gelegt. Deren jeweils dickster Hund führt die Meute an. Innerhalb der freien Marktgesellschaft herrscht real, wer über das nötige Kapital verfügt. Neutral ist er nicht. Aus der totalen Gesellschaft bildet sich bereits die totalitäre Zukunftsgesellschaft heraus, in der die Gesinnung durch globale Konzerne gesteuert und Staatlichkeit zur Farce wird. Wir benötigen dagegen nicht etwa einen totalen Staat, sondern ein ausgewogenes Verhältnis zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Macht.

Und unser Staat?

Aufgabe der über den Einzelinteressen agierenden staatlichen Macht ist es, jeden Einzelnen zu schützen, auch den Schwächsten, den Alten und das ungeborene Leben. Eine totale Gesellschaft gleicht einem Haifischbecken. Der über ihre Rechtsstaatlichkeit wachende Staat aber hat die Voraussetzungen für das zu schaffen, was man einst Daseinsvorsorge und -fürsorge nannte:

Schwimmbäder, Kliniken, Eisenbahnen und vieles andere müssen den Marktgesetzen entzogen sein. Das ist ein Gebot der Solidarität der Starken mit den Schwachen. Solidarität ist es, die ein Gemeinwesen zusammenhält. Sie fordert, keinen hängen zu lassen. Niemand darf auf der Strecke bleiben. Das ist eine Grundeinsicht der politischen Rechten, während die Linke früher von Klassenkampf schwärmte und sich heute in Minderheitentümelei ergeht.

Solidarität bedeutet aus rechter Sicht das Gefühl, mit seinen Mitbürgern verbunden zu sein, ihnen etwas zu schulden, was wir nicht jedem Erdenbürger schulden können und wollen. Das Gefühl erwächst aus der Vorstellung, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden aus unseren Lebenden, den Gestorbenen und den Ungeborenen.

Wer bloß an Gedenktagen rituell der Toten gedenkt und vielleicht selbst kinderlos bleiben will, hat da irgend etwas nicht verinnerlicht. Der Toten zu gedenken und dabei die Siechen, die selbst über kurz oder lang Tote sein werden, ihrem coronösen Schicksal zu überlassen, wäre nicht nur unsolidarisch – es wäre vor allem auch nicht rechts.

Einem Liberalen stünde eine solche rechenhafte Haltung gut an.

„Mir nicht!“, sprach mein Advocatus diaboli.

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