Tausendjährige Reiche und Ewigkeitsklauseln

Schon viele Staatsverfassungen haben sich in Deutschland als ewig, mindestens aber als tausendjähriges Glücksversprechen aufgeplustert. Irgendwann kamen sie doch unter die Räder. Das Rad der Geschichte drehte sich immer besonders schnell, wenn die äußeren Verhältnisse sich änderten.

Wer uns „herrlichen Zeiten entgegenführen“ wollte wie Wilhelm II, ein tausendjähriges Reich ausrief wie Adolf oder die druckfrischen Seiten seiner neuen Verfassung mit einer Ewigkeitsklausel versieht, sieht sich schnell in Verdacht: Der will seine Macht nie wieder abgeben. Hinter solchen Leuten wandeln stets unsichtbar Gesinnungswächter, Staatspolizei, Verfassungsschützer und andere Befehlsempfänger. Sie alle sind perfekte Bürokraten, stets dienstwillig und völllig humorbefreit.

Sie neigen auch nicht dazu, geistreiche Bücher vor dem Konfiszieren und Verbrennen selbst zu lesen. Zum Dank für ihre geistige Abstinenz dürfen sie häufig im Amt bleiben, wenn zu allem Entschlossene das Rad der Geschichte mal wieder vor dem Einrosten bewahrt haben. Einer, der ihm immer wieder gern in die Speichen griff, war der Nationalrevolutionär Ernst Niekisch. Die Weimarer Republik sperrte ihn zwei Jahre für seine Teilnahme an der bolschewistischen Münchener Räterepublik ein und später die Nationalsozialisten, weil er das Widerstandleisten einfach nicht lassen konnte.

Sind Staatsformen wie Omnibusse?

Als Niekisch 1967 starb, hatte er mit allen fünf verschiedenen (Verfassungs-)Systemen seines Jahrhunderts auf dem Kriegsfuß gestanden. Da kann sich keine Liebe eingestellt haben. Für den multiplen Verfassungsfeind  waren politische Verfassungen kein Heiliger Gral, sondern wie ein Omnibus, den man benutzt, bis man umsteigen möchte.

Keine Lebensform hat mehr ein Recht für sich; sie wird geprüft, inwieweit sie dem Zwecke dient oder schadet; dient sie ihm gut, mag sie bleiben; dient sie ihm schlecht, ist sie umzubilden; schadet sie ihm, muß sie fallen.[1]

Ernst Niekisch, Gedanken über deutsche Politik, 1929, S.299.

Welche „Lebensform“ sich jeweils eingestellt hat oder anzunehmen ist, hängt vom äußeren „Sein“ der Zeitverhältnisse und ihrer Probleme ab. Diese müssen das Bewußtsein bestimmen, in welche Verfassung sich ein Volk jetzt klugerweise zu versetzen hat. „Es hängt von der geographischen Lage, von dem Ausmaß natürlicher Reichtümer, von der Fruchtbarkeit des Bodens, von der Machtstellung der nachbarn und noch von vielen anderen Umständen ab, welcher staatliche Zustand, welche staatliche Form und Wesenstendenz die politisch wirksamste Machtorganisation eines Volkes verbürgen.“[2] Niekisch war reiner Pragmatiker, kein Doktrinär[3] oder Schwärmer. Er hielt es mit Machiavelli und glaubte nicht an antike „Ideenlehren“ und Utopien über einen „idealen Staat“.

Jede Staatsform dürfte nur Daseinszweck haben, die den höchsten Grad politischer und militärischer Schlagkraft gewährleistet. Jene Gesellschaftsverfassung müßte zur Herrschaft gelangen, die die Entfesselung und den wirkungsvollsten Einsatz aller Volkskräfte begünstigt. Jene Wirtschaftsordnung wäre die angemessene, die darauf angelegt ist, die Versorgung des Staates und Volkes mit den notwendigsten materiellen Gütern auch im Falle ihrer kämpferischen Isolierung zu verbürgen.

Ernst Niekisch, 1929, S.299.

Maas oder Machiavelli?

Ein schlappes Leben im Wohlstand und den Genuß persönlicher Freiheitsrechte gönnte er den Deutschen 1929 wohl – in weiter Zukunft, sobald es nicht mehr Milliarde um Milliarde Goldmark an Reparationen an die Siegermächte zu zahlen haben würde. In Notzeiten müsse der deutsche Staat aber so stark sein, alle Kräfte zu bündeln, bürgerliche Freiheiten zurückzudrängen, bis die gemeinsame Gefahr beseitigt ist.

Wenn aber mit aller Macht nichts auszurichten ist? Sah Niekisch 1929 das Jahr 1945 voraus – die Städte zerbombt, die Männer gefangen, das Volk auf der Flucht?

Wir haben keine Macht mehr, gut so! wandeln wir die Not zur Tugend; deuten wir unseren Zustand aus als den seinsollenden, den fortgeschrittenen, den moralischen. Macht ist böse an sich: freuen wir uns, keine mehr zu besitzen! Ignorieren wir ihr Dasein; erklären wir beharrlich, die Rolle der Macht sei in der Weltgeschichte ausgespielt. So werden wir Verkünder eines verheißungsvollen neuen Prinzips: unsere Politik wird sittlich, wir verkörpern die sittliche Politik bereits und, haben wir nur Geduld, so verführen wir auch die anderen zur Nachfolge. Nunmehr soll es heißen: Recht und allein Recht ist Macht. Bauen wir ausschließlich auf die Heiligkeit und die Kraft des Rechts. Dann wird uns alles zum Guten gereichen; die Reinheit unseres Rechtsstandpunktes wird als Triebkraft stark genug sein, unserem Recht, aller widerstrebenden Macht zum Trotz, zum Siege zu verhelfen.[4]

Ernst Niekisch 1929

Der Wechsel von militaristischer zu moralischer Verfassung fiel uns 1945 leicht, inspiriert vor allem durch den Umstand, daß wir kein Militär mehr hatten. Niekischs Spott von 1929 über die mißglückte Erfüllungspolitik der 1920er Jahre wurde geradezu zum Wegweiser für die Außenpolitik der Bundesregierungen nach der zweiten Niederlage Deutschlands im selben Jahrhundert. Wieder hatten Deutschlands Politiker auf militärische Macht und auf Sieg gesetzt. Um dem moralischen Tribunal der Sieger zu entkommen, mutierten ihre Amtsnachfolger zu Pazifisten und wurden selbst das Tribunal. Sie riefen die weltweite Geltung der Waffen des Besiegten und des Schwachen aus: Recht und Moral.

Wie weit Deutschland im 21. Jahrhundert mit dieser Lehre kommt, werden wir erleben. Sie ist Kern der Maas’schen Doktrin: eine paninterventionistische Attitüde deutscher moralischer Weltgeltung. Wir wedeln vor den Augen der verblüfften Welt mit der Menschenrechtskonvention, während wir unsere Soldaten gleichsam mit rosa Schürzchen und Wickeltischen statt mit funktionsfähigen Waffensystemen ausstatten. Staatsführer wie in China erstarren geradezu vor Respekt vor uns und nehmen moralisch Haltung an.

Die alte Bundesrepublik war gut gefahren, auf Vertragspolitik und Bündnisse zu setzen. Ihr Patron und Lieblingsfreund jenseits des großen Teiches waren die USA. Wie ein kleiner Köter auf dem Arm seines Herrchens am lautestens kläfft, so überboten wir uns im Beschwören einer westlichen Wertegemeinschaft, die es so nicht mehr gibt. Verzweifelt und orientierungslos sucht unsere Außenpolitik nach den Resten eines Systems internationaler Bündnisse und Verträge, in dessen Schoß sie weiter moralisch kläffen kann, ohne beißen zu können oder jemals zu wollen.

Wir werden erleben, wie lange das gut geht. Wir werden auch erleben, was geschieht, wenn wieder einmal eine alte, friedliebende und demokratisch gesinnte Generation abgetreten sein wird. Sie wird mehrheitlich ersetzt werden durch Einwanderer, die ganz andere Vorstellungen von Gott und der Welt haben als wir. Werden wir uns rechtzeitig darauf einstellen können?

„Manchmal kommt so­gar ‚der Untergang von Staa­­ten da­her, daß sich ihre Verfas­sun­gen nicht mit den Zeitnot­wen­dig­­keiten än­­dern.“ (Niccoló Machiavelli, Gemäde von Santi di Tito, gemeinfrei)

„Systeme sind nicht für Ewigkeiten da. Sie müssen die stän­dig er­for­der­­li­che Inno­va­tion an Ge­danken und Problemlö­sungsstrate­gien ge­­währ­­leisten, die per­manente Evo­lu­tion. Ver­fas­sungen als juristisch fi­xier­­te Pro­blem­lö­sungs­kon­zepte müssen sich zwangs­läufig wan­deln kön­­nen und mit den Pro­ble­men kommen und gehen. Da offen­bar je­des Sy­­­stem zum Geg­en­teil neigt, näm­lich zum Beharren auf sich selbst und auf vergangenen Per­spektiven, muß notfalls im Ab­stän­den ein ganzes Sy­stem über Bord geworfen und er­setzt wer­den, um den unabdingba­ren Wan­del zu erzwin­gen. Das gilt ge­gebe­nenfalls für je­des System. Wo es verhin­dert wird, befindet das Ge­meinwe­sen sich in höch­ster Ge­­fahr. Manchmal kommt so­gar ‚der Untergang von Staa­­ten da­her, daß sich ihre Verfas­sun­gen nicht mit den Zeitnot­wen­dig­­keiten än­­dern.‘[5]

Der Wech­sel der Staats­formen ist aufgrund der sich än­dern­­den Zweckmä­ßig­keiten ‚nötig, da es bisher noch nicht ge­lun­­gen ist, dem Ge­mein­wesen eine Ord­nungsform zu geben – zu­mal nicht von Be­ginn an -, die allen Heraus­for­de­rungen im Poli­ti­schen be­geg­­nen kann; und der Wechsel der Staatsfor­men auf­grund der unver­än­­der­lichen mensch­­lichen Grundkon­stanten ist leider un­vermeid­bar, da sich weder der Mensch ändern noch ein Gemein­wesen errich­ten läßt, das alle zu­frie­­den­­stellt.‘[6][7]

Befinden wir uns noch in bester Verfassung?

Lesen Sie über Ernst Niekisch weiter in meiner Rezension des neuen Buches von Uwe Sauermann in Compact-online:

(Teil 1)

(Teil 2):


[1] Ernst Niekisch, Gedanken über deutsche Politik, 1929, S.299.

[2] Niekisch, am angegebenen Ort, S.278.

[3] „Jede doktinäre Politik ist Unpolitik“, Niekisch, am angegebenen Ort, S.222.

[4] Niekisch, am angegebenen Ort, 1929, S.146.

[5] Niccoló Machiavelli, Discorsi, Buch III Kap.9.

[6] Markus Klein, Machiavellis Lage­ana­lyse, in: Politische Lageanalyse, Fest­schrift für Hans-Joachim Arndt, 1993, S.129, (144 f.).

[7] Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1994, S.100.

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