Am 18. Januar 1871 wurde in Versailles das Reich neu gegründet.

Früher machten Männer Geschichte.

Deren große Entscheidungen fallen, einem Wort Bismarcks zufolge, nicht in Reden und Parlamentsdebatten, sondern durch Blut und Eisen. Damit machte sich der Kanzler der deutschen Einheit von 1871 bei Parlamentariern und ihren Redenschreibern bis heute unbeliebt.

Sie lieben auch Bismarcks Staat bis heute nicht. Unter dem Namen Deutsches Reich wurde er am 18. Januar 1871 proklamiert. Staatsrechtlich wird er aber am 18.1.2021 nicht erst 150 Jahre alt, denn das neue Reich ist rechtsidentisch mit dem am 1.7.1867 durch eine Bundesverfassung gegründeten Norddeutschen Bund. Es ist staatsrechtlich derselbe Staat, in dem wir heute leben und der sich jetzt Bundesrepublik Deutschland nennt. So hat es das Bundesverfassungsgericht entschieden.

Sie können diesen Staat nicht lieben, weil er allen ihren Prinzipien Hohn sprach. Vereinfacht gesagt war er 1871 angetreten als Gegenentwurf zum Weltbild der „Schwarzen“ und der „Roten“: Ultramontane und Sozialisten waren mehrheitlich reichsfeindlich eingestellt. Es folgte nicht ihren ideologischen Prinzipien, sondern seinen eigenen Notwendigkeiten der Macht.

Diese mußte das Reich nicht nur gegen separatistische Gelüste im Innern, sondern auch gegen die Deutschland umgebenden etablierten Großmächte verteidigen. Sie alle liebten das deutsche Land so sehr, daß jeder ein Stück davon haben wollte. Sich alle paar Jahrzehnte ein Stück einzuverleiben, war in Frankreich schon fast Tradition. Sie weiter zu pflegen wurde seit der Wiederbegründung  des Reiches 1871 schwieriger.

Das Gesetz, wonach du angetreten

Das Reich mußte 1871 nach dem Gesetz existieren, nach dem es angetreten war. Es mußte sich behaupten oder wieder untergehen. Zahlenmäßig war es bis 1914 geringer militarisiert als etwa Frankreich. Mental stellten sich die Deutschen aber auf permanente Abwehrbereitschaft ein.

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt Du sein, du kannst dir nicht entfliehen.

Johann Wolfgang von Goethe, Urworte, Orphisch, Dämon, in: Gott und die Welt,
(Goethes Werke Band 2, Stuttgart 1902, S.284)

Es waren die Imperative des Machterhaltes: das Gesetz der Stärke, nach dem das Reich antreten mußte. Goethe wendet sein „Gesetz, wonach du angetreten“, ausdrücklich auch auf Nationen an:

„Zufällig ist es jedoch nicht, daß einer aus dieser oder jener Nation, Stamm oder Familie sein Herkommen ableite: denn die auf der Erde verbreiteten Nationen sind so wie ihre mannigfaltigen Verzweigungen als Individuen anzusehen.“

Goethe

Geschichtlich geworden

Wir können unseren eigenen Staat bis heute nur als etwas geschichtlich Gewordenes verstehen. Wir mußten ihn einst stark machen. Das war unser Schicksal. Mitten in Europa gehörten wir nie zu den glücklichen Völkern, die – weitab vom Strom der Völker und der Weltgeschichte – in Ruhe gelassen und vergessen werden können. So führte unser starker Staat uns durch die Epochen zu größter Machtentfaltung und in tiefste Niederlagen. Er folgte damit dem Gesetz, nach dem er angetreten – hatte antreten müssen.

Er war immer umso stärker, je mehr auch seine Bürger nach diesem Gesetz lebten. Es war ein männliches Gesetz – setzte auf Stärke, Macht, Disziplin, Gehorsam, Dienst und Pflichterfüllung. Die preußischen Tugenden waren nicht für „Weiberröcke“ konzipiert, wie sich Friedrich der Große ausgedrückt hätte. Die weiblichen Gegentugenden bestehen in Weichheit, Güte, liebevollem Umsorgen, Ausgleich und Harmonie.

Die eher Frauen eigenen Verhaltensstrategien bewähren sich im Innern von Familie und Volk: Friedlichkeit, Solidarität und liebevolles Umsorgen. Der Mann aber „muß hinaus ins feindliche Leben“, wußte Friedrich Schiller, und dort sind männliche Verhaltensweisen erprobt. Je nach Situation hat beides sein Eigenrecht. Das Männliche und das Weibliche ergänzen sich und benötigen sich wechselseitig.

Umkehr der Parameter

Es war das männliche Gesetz, nach dem das Reich 1871 antreten mußte. 2021 haben die Parameter sich umgekehrt. Darum ist es unseren Zeitgeistigen so verhaßt. Daß sie das Gegenteil verkörpern, ist ihnen bewußt und war schon vor 100 Jahren aufmerksamen Analytikern wie Ernst Niekisch klar:

Das Heldische ist das spezifisch Männliche; eben das ist es, was den Mann gegenüber dem Weibe abhebt, was ihm seine Überlegenheit über das Weib schenkt. Wo der Mann aufhört, Held zu sein, da emanzipiert sich die Frau.

Ernst Niekisch, Gedanken über deutsche Politik, 1929, S.295 f.

Kulturmarxisten und Feministen verfolgen darum eine Strategie der allgemeinen Entmännlichung. Die Maximen männlichen Handelns und ihre historischen Vorbilder gilt es zu dekonstruieren. Das ist im Deutschland der letzten Jahrzehnte vom Kindergarten bis in die Hörsäle gelungen.

Kritische Pädagogik, wie das Ergebnis genannt wurde, war viel mehr daran interessiert, die nationalen Metanarrativen zu untergraben, wenn man so will, und die Schüler dazu zu bringen, auf eine Weise „erzogen“ zu werden, die sie dazu bringt, ihre eigene nationale Geschichte und Kultur zu kritisieren und Staatsbürgerkunde – oder genauer gesagt, um sie dazu zu bringen, zu lernen, ihre Heimatnationen als bedrückende schlechte Akteure zu sehen, anstatt als unvollkommene Führer, die eine liberale Ordnung in der ganzen Welt verbreiten und sie so bezweifeln oder sogar hassen.

James A. Lindsay, The complex relationship between Marxism and Wokeness, 28.7.2020
Ferdinand Keller: Apotheose auf Wilhelm I.: Das Deutsche Reich wurde durch Blut und Eisen erkämpft, nicht durch Reden und Parlamentsbeschlüsse :
Hinter dem Kaiser und dem Kronprinzen reiten: Bismarck, Generalfeldmarschall Moltke, Generalfeldmarschall und Kriegsminister Roon und ganz links stehend Ernst Moritz Arndt, hinten Generalfeldmarschall Prinz Friedrich Carl

Der zentrale Meta-Narrativ des Deutschen Reiches war eine Geschichtserzählung, wie sie sich in der Apotheose Kaiser Wilhelm I., einem Gemälde von Ferdinand Keller, ausdrückt. Die Reichsgründung mußte miltärisch gegen heftigen Widerstand erkämpft werden. Dieser „männliche“ Narrativ sperrt sich gegen jede Form „weiblicher“ Diplomatie, List, Schmeichelei und Diskurs. Läßt sich der Mann darauf ein, arwöhnte Ernst Niekisch, bestätigt er ihr

„die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“; er gewährt ihr gleiche bügerliche, gleiche politische Rechte; er stimmt in ihre Entrüstung über die bisherige „Knechtung des Weibes“ ein.“

Ernst Niekisch, Gedanken über deutsche Politik, 1929, S.296 f.

Hier hausen Haustiermenschen

Niekisch verachtete jede Art von Bürgerlichkeit als Schwäche, als ängstlichen Versuch, ein risikoloses Dasein zu führen. Er sah das bürgerliche Denken als Inbegriff weiblicher Verhaltensweisen:

Der Feminismus ist Begleiterscheinung, Ausfluß, Urgrund und am Ende überhaupt seelischer Gehalt der Bürgerlichkeit, Man kann den Gegensatz zwischen dem heldischen und dem bürgerlichen Menschen so bezeichnen: jener will gefährlich sein, dieser will sicher leben. Die Unsicherheit der Verhältnisse ist dem bürgerlichen Menschen der schrecklichste der Schrecken; wenn die Erde bebt, ist es für ihn niemals „eine Lust zu leben“. Er will Frieden, „um seinen Geschäften nachgehen zu können“. Er ist der Haustiermensch – der Mensch also mit dem Lebensgefühl des Weibes; er ist weibisch, weil er bürgerlich ist.

Ernst Niekisch

Als bürgerlicher Haustiermensch freue ich mich – eingeschneit und staatlich daungelockt, über meinen heimischen Herd und seine Hüterin, bourgeoise Errungenschaften, die ich mir trotz glänzender Rhetorik Niekischs nicht vermiesen lassen möchte und auch gegen feministische Gelüste tapfer verteidige.

Der Staat mit seinen strengen, herben und harten Anforderungen war noch niemals eine Angelegenheit des Weibes: darum liberalisiert, ethisiert, humanisiert auch der Bürger den Staat. Widerstandslos läßt der Bürger es geschehen, daß das Weib mit seiner Gefühlsseligkeit, seinem egozentrischen Horizont sich in das politische Handwerk mischt und damit verhindert, daß noch Politik gemacht wird. Weiblicher Rede, die am heimischen Herd süß und innig klingt, haftet ein widerwärtiger Geruch nach Kinderwindeln, Speisekammer und Kleiderschrank an, wenn sie von der Parlamentstribüne ertönt.

Ernst Niekisch, Gedanken über deutsche Politik, 1929, S.297 f.

Wir sehen unseren Staat mit klarerem Blick, wenn wir das Gesetz betrachten, nach dem er angetreten, und was aus diesem Gesetz 150 Jahre später geworden ist. Solche Gesetzmäßigkeiten ergeben sich aus konkreten historischen Lagen, mit denen sich Völker und Staaten konfrontiert sehen. Die deutsche Umkehr der Parameter vom heroisch-männlichen zum moralisierenden weiblichen Prinzip bildet keine „Höherentwicklung“ im Sinne einer Art zwangsläufigen Geschichtsmetaphysik. Sie stellt eine Anpassung an geänderte Verhältnisse und den Versuch dar, aus einer anderen historischen Lage das Beste zu machen.

Die Ideologen unseres politischen Establishments haben für Historismus und Verständnis von geschichtlich Gewordenem keinen Blick. Den Sieg von 1871 verklärten seine Zeitgenossen auch zu einem Triumph des heroischen Prinzips über das diskutierende. Heute möchte die diskutierende Klasse ihn instinktsicher dem Vergessen überantworten. Sie empfindet ihn zu Recht als Niederlage ihrer eigenen Prinzipien.

Wer den 18. Januar als Tag unserer Staats- und Reichsgründung feiert und wer ihn nicht feiert – hier scheiden sich die Böcke von den Schafen.

Lesen Sie zum Thema Deutsches Reich von 1871 auch den Blogbeitrag vom 18. Januar 2020: