Aus dem Gebetbuch des Teufels

Jahrzehntelang waren Begriffe wie Nation ein Unding für die rotweintrinkende, mallorcazentrierte linke Szene. Schon die Wiedervereinigung war ihr ein rechter Graus, „Volk“ oder gar „völkisch“ galten als Worte aus dem Gebetbuch des Teufels.

Plötzlich entdecken einige der geistig Wendigeren des linksliberalen Milieus die Nation wieder. Am 21. Januar sendete sogar der Deutschlandfunk mal in seiner Kultursparte etwas nicht Linksradikales. In einem „neuen Plädoyer für ein liberales Nationalbewußtsein“ berichtete Ingeborg Breuer breit über linksliberale Bestrebungen, „Nation“ nicht „länger den Rechten überlassen – und plädieren für ein demokratisches, ziviles und diverses Nationalbewußtsein“.

 „Im Rahmen einer Modernisierungstheorie ging man davon aus, daß sich die Nationen auf dem Weg in eine kosmopolitische Weltgesellschaft früher oder später von selbst auflösen würden“, resümiert Aleida Assmann, emeritierte Professorin für Anglistik und allgemeine Literaturwissenschaft in einem Vortrag im ORF-Radiokulturhaus in Wien. „Modernisierungstheoretiker, Technokraten, Manager, aber auch linke Intellektuelle teilten ein Geschichtsbild, in dem sich die Nation aus der Geschichte verabschiedet.“

Ingeborg Breuer, Diskussion um den Nationalstaatsbegriff, DLF 21.1.2021,

Allerdings denken die Menschen mehrheitlich gar nicht daran, sich von ihren Nationen innerlich zu verabschieden. Michael Bröning, Leiter der Friedrich Ebert Stiftung in New York und Mitglied der SPD-Grundwertekommission, erkannte in seinem Buch „Lob der Nation“ (2018) ganz richtig: „Kosmopolitischen Visionen werden von der Mehrheit der Bevölkerung gar nicht getragen. Die überwiegende Zahl der Europäer definiert sich über ihre nationale Identität.“[1]

Einzig bei den Deutschen sei dieses Nationalbewußtsein – etwas – weniger verbreitet. Das läßt vermuten, daß ausgerechnet die postnationale Sichtweise der kosmopolitischen Deutschen eine überraschend nationale Komponente enthält. Gerade aufgrund ihrer fatalen Geschichte seien die Deutschen besonders antinational gestimmt. Und damit verknüpft sich die Frage: „Inwiefern ist es statthaft, das doch merkbare Unbehagen der Deutschen mit der Nation eben auf Europa zu übertragen und angesichts der deutschen Geschichte ein Konzept zu stigmatisieren, das in anderen Kontexten nicht Tatwaffe war, sondern Schutzschild? Wenn Sie sich Polen ansehen, dort ist der Nationalstaat historisch betrachtet ja nicht als Aggressor in Erscheinung getreten, sondern als Schutzschild. Und zwar pikanterweise gegen Nationalismus und übersteigertes Nationalgefühl aus Deutschland.“

Ingrid Breuer im DLF 21.1.2021

Die Linke beginnt ihr Einmaleins zum Wert einer Nation im ersten Schuljahr. Es überrascht nicht, daß sie – nachdem sie ihre Scheuklappen leicht öffnet, dasselbe bemerkt wie die Rechte. Das „Schutzschild“-Argument ist identisch mit einem Topos, den die Rechte seit Jahrzehnten kennt: Nationalismus kann frei machen. Nahe an der Realität wußte die Rechte schon immer, was immer gilt: Ein Volk schließt sich bewußt zu einer Nation eng zusammen, wenn es von Nachbarn bedroht oder gar militärisch vereinnahmt wird.

Das diffus vorhandene deutsche Nationalgefühl wurde zum Nationalismus, als napoleonische Armeen der „Grande Nation“ bei uns einmarschierten und die Deutschen für Frankreichs Kriege in Rußland und anderswo bluten ließen. Polnischer Nationalismus bildete sich tatsächlich als „Schutzschild“ – allerdings weniger gegen Deutschland, wie die linksliberale Geschichtsblindheit meint, sondern gegen Rußland, um dessen territorialen Klauen zu entkommen:

Schon vor zwei Jahren kam der Wille der Mittelmächte zum Ausdruck, den vom russischen Joch befreiten Polen ihr staatliches Eigenleben zurückzugeben.

FAZ 17.8.1918

Gegen die von Deutschland ausgehende Neugründung des polnischen Staates bedurften die Polen keines Schutzschildes gegen Deutschland.

Im rechten Diskurs hat sich für die befreiende Funktion des Nationalgefühls der Begriff des Befreiungsnationalismus herausgebildet: ein Nationalismus mit dem Ziel, sich von Fremdherrschaft zu befreien.

Verallgemeinernd läßt sich jedem Nationalismus eine befreiende Funktion überall dort zumessen, wo Völker mitsamt ihrem spezifischen Volkstum unterdrückt werden. Das ist weltweit bis heute vielerorts der Fall, zum Beispiel in China gegenüber den Uiguren oder den Tibetern. Ein allgemeiner, als universelles Gestaltungsprinzip gemeinter Nationalismus knüpft an das Bedürfnis jedes Menschen an, individuell und kollektiv entsprechend der eigenen Identität leben zu dürfen. Er fordert darum im Einklang mit dem internationalen Völkerrecht, daß jede Nation selbstbestimmt über ihre kollektives Schicksal entscheiden dürfen und können soll. Im Gegensatz zum monarchischen Staat der frühen Neuzeit ist nach heutiger Auffassung „unstreitig ein Kollektiv Träger dieses verfaßten Staates (Art. 20 Abs.2 GG).“[2] Es entspricht dem internationalen Verständnis der Menschenrechte, solchen Kollektiven das Selbstbestimmungsrecht zuzusprechen.

Klaus Kunze, Die solidarische Nation, 2020, S.48-50 (49).

Der Solidaritätsgenerator

Plötzlich merkt die linke Szene, daß man das Adjektiv links gar nicht verdient, wenn man nicht sozial eingestellt ist, und daß die soziale Einstellung einen emotionalen Grund und ein Bezugsobjekt benötigt: Grund ist das Gefühl der Verwandtschaft, und Bezugsobjekt sind die eigene Familie und das Volk.

„Wenn es nichts gibt, was uns als Staatsbürger miteinander verbindet, was uns als weltoffene Nation miteinander verbindet, wenn wir uns als freischwebende Individuen empfinden, warum sollten wir dann zahlen für den Länderfinanzausgleich, warum sollen wir uns interessieren für die Hochwasserkatastrophe an der Oder? Menschen sind weniger bereit, das zu tun, wenn es die nationalstaatliche Grenze überschreitet.“

Michael Bröning, zitiert nach Ingrid Breuer im DLF 21.1.2021

Niemand kann „die Menschheit“ lieben. Wer die Menschen, denen er sich solidarisch zeigen soll, gar nicht persönlich kennt, benötigt eine ideelle Vorstellung, warum er Opfer für sie bringen soll. Bewährt hat sich die Idee der Nation.

Die politische Rechte war sich immer bewußt, daß Solidarität eines emotionalen Bezugspunktes bedarf. „Warum soll der Soldat für sein Vaterland sterben?“, fragt der Offizier die Mannschaft in „Der brave Soldat Schweijk, und bekommt prompt die schulterzuckende Antwort: „Sie haben Recht, Herr Hauptmann, warum eigentlich?“

Klaus Kunze, Die solidarische Nation, 2020, Kapitel „Der biologische Solidaritätsgenerator“ und und „Der staatliche Solidaritätsgenerator“, hier S.103.
Solidarität erwächst aus dem lebendigen Gefühl der Verbundenheit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – mit der der überindividuellen Schicksalsgemeinschaft der Nation.
(Caspar David Friedrich, Spaziergang im Nebel)

Damit gibt es in dieser Frage von links bis rechts Einigkeit, was der Linken freilich bisher verborgen geblieben ist:

Die Nation wirke gar als „Solidaritätsgenerator“, beschreibt auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Und wer nationale Identitäten auflösen will, fördere deshalb letztlich Entsolidarisierung. Das gleiche gelte auch, findet Michael Bröning, wenn in der Migrationsdebatte offene Grenzen gefordert werden. Denn er befürchtet, daß sich damit gerade für die weniger Wohlhabenden in der Gesellschaft die Konkurrenz um Bildung, Arbeit und Wohnraum verschärfen könnte.

Ingrid Breuer im DLF 21.1.2021

Herfried Münkler hat in der FAZ vom 6.1.2021 auch ein Buch über „Die Wiedererfindung der Nation“ (von Aleida Assmann, 2020, 334 Seiten) positiv rezensiert. Er ist entzückt: Die Autorin „verzichtet nicht auf die Idee der Nation und verheddert sich doch nicht in den Stricken der Vergangenheit.“

Guten Morgen, Ihr Schlafmützen!

Die spät wach werdende Linke hätte ihre Neuentdeckungen allerdings im rechten Diskurs schon lange nachlesen können, wenn sie nicht selbst in der Echokammer ihrer Vorurteile verheddert wäre. In diesen ist Münkler tief verwurzelt:

Assmann plädiert für eine Vorstellung von Nation, die nichts gemein hat mit den Exklusionsvorstellungen ethnischer Homogenität, wie sie von den Rechtspopulisten vertreten werden, aber auch auf Distanz  bleibt zu den Konzeptionen einer postmigrantischen gesellschaft, die zuletzt als Modell  sozialer Kohäsion ohne national-kulturelles Zentrum lanciert worden ist.

Herfried Münkler, Die schwache Identität ist die richtige, FAZ 6.1.2021.

Es ist aber dummes Zeug, den rechten Diskurs der letzten Jahre mit „Exklusionsvorstellungen ethnischer Homogenität“ in Verbindung zu bringen, und auch „Rechtspopulisten“ vertreten solche Vorstellungen nicht. Blut und Boden sind, völlig marginalisiert, mit den Zeitläuften sanft entschlafen und in der Publizistik ausgestorben. Worum es bei Homogenität tatsächlich geht, ist die Homogenität als Staatsbürger, die bestimmte Voraussetzungen hat.

Den Begriff der relativen Homogenität dessen, was uns als Staatsvolk verbindet, dürfen wir einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entnehmen: Die europäischen „Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruck zu geben.“[3] Er hat also nichts zu tun mit Ideen rassischer Gleichartigkeit, wie sie biologischen Irrtümern des 19. und 20. Jahrhunderts zugrunde gelegen hatten. Noch vor hundert Jahren war in den USA, England und Deutschland Stand der Naturwissenschaft, es gebe selbst innerhalb Europas abgrenzbare Rassen wie die dinarische, die fälische, die nordische und so fort. Daran knüpften Ideologen gern den Mythos einer Vorzeit, in der es „reine“ Rassen gegeben habe.

Klaus Kunze, Die solidarische Nation, Kapitel „Die relative Homogenität“, hier S.90

Von linksliberalen Politologen ist es freilich zu viel verlangt, den Diskussionsstand rechter Diskurse zur Kenntnis zu nehmen. Dafür werden sie offenbar nicht bezahlt.

Guten Morgen, linke Freunde, reibt euch mal den Schlaf aus den Augen!


[1] Michael Bröning, hier zitiert nach Ingrid Breuer im DLF 21.1.2021

[2] Ferdinand Weber (Staatsangehörigkeit und Status, 2018) S.382.

[3] BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht [1993].