Ich habe gestern nicht mit verloren. Meine Mannschaft hat in Wembley nicht gespielt. Wer dort Tore schoß, ging mich nichts an.

Vorher war klar: Die Elf unter ihrem Spielführer mit der Regenbogenarmbinde würde vor dem Anpfiff niederknien. So etwas mußte ich mir nicht ansehen. Ich wollte es auch nicht sehen. Statt an der Mattscheibe dem demütigen Unterwerfungsritual beizuwohnen, ging ich lieber mit meinem Hund in den Wald. Ich habe das Spiel nicht gesehen.

Schon beim vergangenen Spiel hatte ich befremdet in die Gesichter der Elf geblickt, wie sie sich da vor dem Anpfiff bemühten, das Deutschlandlied zu singen. Ihre Mimik und ihre Gesichter blieben mir fremd. Da sprang kein Funke über. Mit einer solchen Mannschaft konnte ich mich nicht identifizieren.

Wie hatte ich bei Bundesligaspielen und Weltmeisterschaften seit über fünfzig Jahren gebangt, gezittert und gelitten, oft auch gejubelt! Die Südkurve im Kölner Stadion war mein zweites Zuhause. Am Fußballfieber hat es also nie gefehlt.

Die Presse und das Internet berichteten ausführlich über die kontroverse Diskussion zum Niederknien (Bildzitat: Watson.de)

Identifikation mit wem und was?

Mit der DFB-Elf in Wembley vermochten sich sehr viele Deutsche nicht zu identifizieren. Deutschlandfähnchen auf Autos sah ich nur spärlich. Auf Twitter wurde die Mannschaft nach Kniefall und Niederlage mit Hohn und Spott überschüttet: auf Knien könne man schlecht spielen und siegen! Das sahen auch russische Zuschauer so:

Die Zuschauer im russischen Sankt Petersburg haben sogar gellend gepfiffen, als die Belgier vor dem ersten Vorrundenspiel gegen Rußland auf die Knie gingen. Die Spieler des russischen Teams blieben stehen.

Sebastian Heinrich, Watson.de 30.6.2021.

Das kollektive Wir-Gefühl blieb aus. Damit mich etwas angeht, was die Elf da auf dem Platz so treiben, muß ich mich mit ihnen identifizieren können und wollen. Jede Identifikation mit anderen ist ein kollektives Erlebnis, kein individuelles. Viele erkennen sich in den Wenigen wieder und fühlen sich mit ihnen eins. Es sind dann “unsere”, die sich da “für uns” einsetzen.

Es kann sich aber niemand in Menschen wiedererkennen, die ihm fremd vorkommen. Warum soll man fußballerische Fremdenlegionäre ins Herz schließen? Meine Volksschullehrerin  hatte uns Kinder über zehn Minuten Fußweg zu den nahe gelegenen Jahnwiesen vor dem Kölner Stadion geführt, wo unser Sportunterricht stattfand und ich die FC-Mannschaft eine Wiese weiter trainieren sah. Deutschland war für mich nur ein sehr abstrakter Begriff. Ich glaubte als kleines Kind erst, es müsse irgendwo in Köln liegen.

Seine innerste Identität sucht man sich nicht aus, man wird mit ihr groß. Daß die trainierenden rot-weißen Spieler auf der Jahnwiese “unser” FC waren, gegen den irgendwelche andersfarbigen Mannschaften immer zu Spielen anreisten, war klar und nie das Ergebnis eines bewußten Entscheidungsprozesses. FC-Fan wird man nicht, man ist es als Kölner ganz von allein.

Identifikation mit dem Eigenen: Der Verfasser links im Bild mit zeittypischer Haartracht am 1. April 1972 beim Auswärtsspiel in München

Man ist auch als Deutscher ganz von selbst Anhänger der deutschen Nationalmannschaft – wenn es denn eine gibt. Liefe mein FC unversehens unter blau-weißen Fahnen auf den Platz, würde das meine Identifikation zerstören. Mannschaften sind Kollektive, deren Spieler wechseln. Die Vereinsfarben vereinen sie. Sie symbolisieren die Kontinuität des Vereins und ermöglichen seinen Anhängern, sich mit den Spielern eins zu fühlen. Gemeinsame Symbole wie in Köln der Geißbock Hennes und gemeinsame Lieder runden das Gemeinschaftserlebnis ab.

Man kann diese Symbole nicht willkürlich auswechseln. Die Symbole Deutschlands und einer deutschen Nationalmannschaft sind schwarz-rot-gold. Man kann sie nicht einfach auswechseln und durch kunterbunte Armbinden ersetzen, sagen wir mal mit den Kirchenfarben, einem roten Stern oder einem anderen Symbol irgendeiner gesellschaftlichen Teilgruppe. Gerade die moderne Industriegesellschaft kann ihre Massen nur durch Gemeinschaft stiftende Symbole integrieren. Das gilt in besonderem Maße in einer in sich extrem heterogenen Gesellschaft wie der heutigen.

Mit fremden Gesichtern und fremden Symbolen identifiziert man sich emotional nicht, zumal wenn diese Symbole für ein Minderheitenlager in einer angespannten innergesellschaftlichen Konfliktlage stehen.

Das demütige Knien als Symbol

Der demütige Kniefall gibt der Identifikation den Gnadenstoß. Jahrzehntelang erscholl von Stadionrängen: “Steht auf, wenn ihr Deutsche …. (Kölner, Bayern etc.) seid!” Der Kniefall symbolisiert Unterwerfung und Schwäche – nicht gerade, was man als Fußballanhänger bei der eigenen Mannschaft sehen möchte.

Sich niederzuwerfen oder zu knien ist ein jahrtausendealtes Ritual, das weltweit von jedem Menschen jeder Kultur sofort verstanden wird: Jemand demütigt sich und erkennt einen anderen als höherstehend an. Antike Verlierer warfen sich dem Schlachtensieger zu Füßen und unterwarfen sich. In der Kirche oder vor einem Priester kniet man nieder, weil dieser die Allmacht Gottes zu vertreten scheint. Der Knappe kniete vor dem Ritter, um den Ritterschlag zu erhalten. Erst danach durfte er aufstehen und dem Ritter auf Augenhöhe ebenbürtig gegenüberstehen.

Durch einen Kniefall erkennt jemand immer einen anderen als substantiell höherstehend an. Erst das demokratische Zeitalter hat damit aufgeräumt. Vor über hundert Jahren wurden alle Standesunterschiede in Deutschland gesetzlich abgeschafft. Niemand steht mehr höher als irgend ein anderer. Demokraten knien nicht. Ihre Menschenwürde ist unantastbar. Man wirft sie auch nicht mutwillig in den Dreck, indem man sich selbst in diesen Dreck kniet. Die neue deutsche Unterwürfigkeit widerspricht allen demokratischen Werthaltungen, die uns seit 1945 gepredigt und die im Grundgesetz garantiert worden sind.

Freilich freuen sich die üblichen Verdächtigen, die schon immern gern Deutschland im Dreck liegen sehen würden. Während auf den öffentlich-rechtlichen Staatssendern eitel Freude und Zustimmung herrschte, berichteten Plattformen wie Watson.de sachlich darüber, wie zwiespältig die Reaktionen ausfielen.

Kann ein Kamel Katzen repräsentieren?

Konstruktiv setzt unser Grundgesetz auf den Gedanken der Repräsentation: Gewählte Repräsentanten ziehen als Abgeordnete des Volkes im Parlament ein. Der Fiktion nach “repräsentieren” sie dieses Volk und erlassen in seinem Namen Gesetze.

Man kann aber nur jemanden oder etwas repräsentieren, mit dem man selbst identisch ist. Ein Kamel könnte nicht die Katzen repräsentieren. Gedanklich lebt jede Repräsentation von der Vorstellung, die Repräsentierten handelten gleichsam durch ihre Repräsentanten. Das demokratisch verfaßte deutsche Volk gibt sich selbst durch seine Repräsentanten die Gesetze. Eben und nur darum gilt die Verfassung als demokratisch.

Auch eine Fußballmannschaft kann nur dann eine Nationalmannschaft sein, wenn sie die Nation repräsentiert. Wenn man überhaupt an Fiktionen wie die Repräsentierbarkeit glaubt, steht und fällt sie jedenfalls mit dem Glauben der Repräsentierten: Die da in unserem Namen und mit unseren Farben stehen, repräsentieren uns, sie handeln für uns, sie nehmen Teil an einem übergreifenden kollektiven Wir. So habe ich es seit einem halben Jahrhundert tatsächlich erlebt, als ganz Deutschland manchmal jubelnd und begeistert hinter seiner Mannschaft stand.

Aus der Traum. Mich repräsentiert jene buntscheckige Elf jedenfalls nicht: nicht der Mannschaftskapitän mit der bunten, von Uwe Junge so genannten Schwuchtelbinde und keiner der demütig Knienden. So kommt wenigstens keine Traurigkeit auf, wenn der von Löw zusammengewürfelte Haufen verloren hat. Wenigstens müssen sie jetzt in diesem Tournier nicht noch einmal knien.

Es bleibt ein Verlustgefühl, ein Phantomschmerz: Früher, als Deutschland noch fröhlich und normal war: Da gab es doch mal was …. ?