Gegen die Illusionsköche

Im 19. Jahrhundert durfte man noch frei von “gesellschaftlichen” Repressionen philosophieren. Originär zu philosophieren, hieß noch, sich quer durch das Dickicht moralisierender Sprachverbote hindurchzudenken. Dabei blieb manche heilige Kuh auf der Strecke. Friedrich Nietzsche hatte es besonders auf die heiligen Kühe der Kirche abgesehen, ließ aber auch die der Sozialisten und Moralisten nicht ungeschoren.

Als heilige Kühe galten ihm all jene Begriffsgespenster, vor denen man uns als Gläubige gern auf die Knie zwingen möchte. Wir sollen ihnen huldigen und sie anbeten. Wer heute um keinen Preis knien und huldigen möchte, sollte Nietzsches Argumente kennen und verinnerlichen.

Als begriffliche Gespenster spuken Worte in uns, die keinen realen Gegenstand aufweisen. Sie bezeichnen etwas, das nur in unserer Vorstellung existiert. Dabei raunen sie uns ihre normativen Implikationen ins Ohr und fordern, diese einzuhalten. Wo Menschen uns mit ihnen belästigen, sind diese Gespenster deren Hirngespinste: Verhaltensmaßregeln und Befehle, was wir zu tun oder zu lassen haben. Eine Gesellschaft lebt umso freier, je weniger solcher Anweisungen es gibt.

Nietzsche durchschaute sie alle. Manche haben heute noch Konjunktur, zum Beispiel die normative Behauptung, jeder Mensch habe unabhängig von seinem realen Verhalten die gleiche Menschenwürde. Auch die sogenannte “Würde der Arbeit” spukt noch herum:

Welche sozialpolitischen Arrangements können die Würde der Arbeit in Zukunft sichern? Welche Chancen bieten diese Arrangements, um auch auf die Herausforderung des Rechtspopulismus zu antworten? Am Beispiel des Vorschlags einer Jobgarantie sollen aktuelle Überlegungen zur Umsetzung eines substanziellen Rechts auf würdevolle Arbeit diskutiert und auf Basis der Forschungsergebnisse erweitert werden.

Torben Schwuchow, Kampf um Würde in der Arbeit, 2023

Friedrich Nietzsche war aber nichts weniger als Populist. Über eine angebliche Würde der Arbeit hatte er nur Spott übrig. Er hielt jede Arbeit für schmähliche Sklaverei. Ihr und jedem Menschen Würde zuzusprechen, hielt er für eine Illusion.

Jetzt muß dieser sich mit solchen durchsichtigen Lügen von einem Tage zum andern hinhalten, wie sie in der angeblichen »Gleichberechtigung aller« oder in den sogenannten »Grundrechten des Menschen«, des Menschen als solchen, oder in der Würde der Arbeit für jeden tiefer Blickenden erkennbar sind. Er darf ja nicht begreifen, auf welcher Stufe und in welcher Höhe erst ungefähr von »Würde« gesprochen werden kann, dort nämlich, wo das Individuum völlig über sich hinausgeht und nicht mehr im Dienste seines individuellen Weiterlebens zeugen und arbeiten muß.

Friedrich Nietzsche, Der griechische Staat, Basler nachgelassene Schriften 1870-73, in: Derselbe, Kritische Studienausgabe, dtv, ISBN 3-423-02221-3.
Nietzsche hielt eine “Würde der Arbeit” für eine Illusion (Szenenbild: Fritz Lang, Metropolis, 1927)

Nietzsche trifft sich mit Pico della Mirandola (1463-1494). Auch ihm als geistigem Urvater der Vorstellung und des Konstruktes “Menschenwürde” war keineswegs eingefallen, jeder Hans und Franz habe eine Würde. Er wußte nur zu gut, daß mancher, „gelockt von den Verführungen der Wollust, als Sklave seiner Sinne lebt.“ Wer so lebt, „ist nur ein Tier kein Mensch.“[1] Menschenwürde habe nur jemand, der sich für ein Leben in moralischer Würde entschieden habe. Das war für Nietzsche zu eng:

Was aber hier an einem einzelnen Beispiel gezeigt ist, gilt im allgemeinsten Sinne: jeder Mensch, mit seiner gesamten Tätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist; woraus sofort die ethische Konsequenz zu erschließen ist, daß der »Mensch an sich«, der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt: nur als völlig determiniertes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz entschuldigen.

Friedrich Nietzsche

Unter einem Genius hatte der alte Schelm offenbar Menschen wie ihn selbst gemeint.

Gegen die Geldeinsiedler

Auch den Staat sieht Nietzsche als potenzielle Bedrohung unserer Freiheit:

die eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß er zwingt: während ohne Staat, im natürlichen bellum omnium contra omnes, die Gesellschaft überhaupt nicht in größerem Maße und über das Bereich der Familie hinaus Wurzel schlagen kann.

Friedrich Nietzsche.

Der Staat hindert den gesellschaftlichen Krieg jedes gegen jeden und erzeugt das Politische, für Nietzsche eine Sphäre für sich. Doch der staatlich erzwungene innere Friede garantiert keineswegs die Freiheit des Einzelnen von Macht, zumal von gesellschaftlicher Seite. Macht kommt nicht nur aus Gewehrläufen, wie Mao tse Tung formuliert hatte. Auch Geldmacht kann die Menschen zu “Sklaven” im Sinne Nietzsches machen: Sie geben ihre Würde auf, weil sie in ein System von Geldmacht hineingezwungen werden: die junge Mutter an der Ladenkasse, die ihr Baby fremdbetreuen lassen muß, der “flexible” Berufsanfänger, der seine Heimat aufgeben muß, um in einem anonymen Zimmerchen einer Großstadt zu hausen und morgens mit der Bahn ins Büro zu pendeln und viele andere.

Die Macht über sie haben – oft anonyme -Geldhaber als die neuen wahren Herrscher unserer Zeit. So lesen wir am Tage der diesjährigen WEF-Tagung in Davos mit Vergnügen, was schon Nietzsche über die Geldmachthaber schrieb,

jene wahrhaft internationalen heimatlosen Geldeinsiedler […], die, bei ihrem natürlichen Mangel des staatlichen Instinktes, es gelernt haben, die Politik zum Mittel der Börse, und Staat und Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst zu mißbrauchen.

Friedrich Nietzsche

Nach unseren Erfahrungen in zwei Weltkriegen wollen wir zwar nicht mit Nietzsche einen Päan [Lobeshymne] auf den Krieg anstimmen, dürfen uns aber gern friedlich an seiner scharfsichtigen Feindbestimmung ergötzen, wenn er

die ungeheure Verbreitung des liberalen Optimismus zugleich als Resultat der in sonderbare Hände geratenen modernen Geldwirtschaft begreife und alle Übel der sozialen Zustände, samt dem notwendigen Verfall der Künste, entweder aus jener Wurzel entkeimt oder mit ihr verwachsen sehe: so wird man mir einen gelegentlich anzustimmenden Päan auf den Krieg zugute halten müssen.

Friedrich Nietzsche
Nietzsche

Im global waltenden Liberalismus kommt exemplarisch zum Vorschein, was Nietzsche schon vor 150 Jahren erkannt hatte: Wo das Geldvermögen der einzige reale Faktor hinter gesellschaftlichen Entscheidungen ist, da ist Geld nichts als die Chiffre für Macht. Nicht aus sozialistischem Neid oder kollektivistischer Herrsucht bezeichnen wir das als die schwärende Krankheit der Moderne, sondern in Verteidigung unserer demokratischen Mitwirkungsrechte. Niemand von uns hat sich die Geldmachthaber von Davos als neue Herrscher ausgesucht, niemand hat sie gewählt, aber alle müssen nach der Melodie ihrer Pfeifen tanzen. Unsere Regierungen kennen bereits keine anderen Singweisen mehr – unsere famosen „young global Leaders“.

Gegen die Geldmacht erheben sich politische Stimmen von links bis rechts (hier: Kommentar und Bildmontage aus der Jungen Freiheit)

Auch wenn Friedrich Nietzsche sich bei dieser demokratischen Begründung unseres Abscheus vor Millardärsozialismus und ihrem Globalismus angeekelt im Grabe umdrehen würde, dürfen wir uns seiner bleibend gültigen Argumente bedienen und sie benutzen – er kann sich schließlich nicht dagegen verwahren.

Ich lade den geneigten Leser darum gern ein, den ungekürzten Text selbst zu genießen:

Der griechische Staat

von Friedrich Nietzsche

Wir Neueren haben vor den Griechen zwei Begriffe voraus, die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebarenden und dabei das Wort »Sklave« ängstlich scheuenden Welt gegeben sind: wir reden von der »Würde des Menschen« und von der »Würde der Arbeit«. Alles quält sich, um ein elendes Leben elend zu perpetuieren; diese furchtbare Not zwingt zu verzehrender Arbeit, die nun der vom »Willen« verführte Mensch (oder richtiger, menschliche Intellekt) gelegentlich als etwas Würdevolles anstaunt. Damit aber die Arbeit einen Anspruch auf ehrende Titel habe, wäre es doch vor allem nötig, daß das Dasein selbst, zu dem sie doch nur ein qualvolles Mittel ist, etwas mehr Würde und Wert habe, als dies ernstmeinenden Philosophien und Religionen bisher erschienen ist. Was dürfen wir anders in der Arbeitsnot aller der Millionen finden als den Trieb, um jeden Preis dazusein, denselben allmächtigen Trieb, durch den verkümmerte Pflanzen ihre Wurzeln in erdloses Gestein strecken!

Aus diesem entsetzlichen Existenz-Kampfe können nur die einzelnen auftauchen, die nun sofort wieder durch die edlen Wahnbilder der künstlerischen Kultur beschäftigt werden, damit sie nur nicht zum praktischen Pessimismus kommen, den die Natur als die wahre Unnatur verabscheut. In der neueren Welt, die, zusammengehalten mit der griechischen, zumeist nur Abnormitäten und Zentauren schafft, in der der einzelne Mensch, gleich jenem fabelhaften Wesen im Eingange der horazischen Poetik, aus Stücken bunt zusammengesetzt ist, zeigt sich oft an demselben Menschen zugleich die Gier des Existenz-Kampfes und des Kunstbedürfnisses: aus welcher unnatürlichen Verschmelzung die Not entstanden ist, jene erstere Gier vor dem Kunstbedürfnisse zu entschuldigen und zu weihen. Deshalb glaubt man an die »Würde des Menschen« und die »Würde der Arbeit«.

Die Griechen brauchen solche Begriffs-Halluzinationen nicht, bei ihnen spricht sich mit erschreckender Offenheit aus, daß die Arbeit eine Schmach sei – und eine verborgenere und seltner redende, aber überall lebendige Weisheit fügte hinzu, daß auch das Menschending ein schmähliches und klägliches Nichts und eines »Schattens Traum« sei. Die Arbeit ist eine Schmach, weil das Dasein keinen Wert an sich hat: wenn aber eben dieses Dasein im verführenden Schmuck künstlerischer Illusionen erglänzt und jetzt wirklich einen Wert an sich zu haben scheint, so gilt auch dann noch jener Satz, daß die Arbeit eine Schmach sei – und zwar im Gefühle der Unmöglichkeit, daß der um das nackte Fortleben kämpfende Mensch Künstler sein könne.

In der neueren Zeit bestimmt nicht der kunstbedürftige Mensch, sondern der Sklave die allgemeinen Vorstellungen: als welcher seiner Natur nach alle seine Verhältnisse mit trügerischen Namen bezeichnen muß, um leben zu können. Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die Würde der Arbeit, sind die dürftigen Erzeugnisse des sich vor sich selbst versteckenden Sklaventums. Unselige Zeit, in der der Sklave solche Begriffe braucht, in der er zum Nachdenken über sich und über sich hinaus aufgereizt wird! Unselige Verführer, die den Unschuldstand des Sklaven durch die Frucht vom Baume der Erkenntnis vernichtet haben! Jetzt muß dieser sich mit solchen durchsichtigen Lügen von einem Tage zum andern hinhalten, wie sie in der angeblichen »Gleichberechtigung aller« oder in den sogenannten »Grundrechten des Menschen«, des Menschen als solchen, oder in der Würde der Arbeit für jeden tiefer Blickenden erkennbar sind. Er darf ja nicht begreifen, auf welcher Stufe und in welcher Höhe erst ungefähr von »Würde« gesprochen werden kann, dort nämlich, wo das Individuum völlig über sich hinausgeht und nicht mehr im Dienste seines individuellen Weiterlebens zeugen und arbeiten muß.

Und selbst auf dieser Höhe der »Arbeit« überkommt die Griechen mitunter ein Gefühl, das wie Scham aussieht. Plutarch sagt einmal mit altgriechischem Instinkte, kein edelgeborner Jüngling werde, wenn er den Zeus in Pisa schaue, das Verlangen haben, selbst ein Phidias, oder wenn er die Hera in Argos sehe, selbst ein Polyklet zu werden: und ebensowenig würde er wünschen, Anakreon, Philetas oder Archilochus zu sein, so sehr er sich auch an ihren Dichtungen ergötze. Das künstlerische Schaffen fällt für den Griechen ebensosehr unter den unehrwürdigen Begriff der Arbeit, wie jedes banausische Handwerk. Wenn aber die zwingende Kraft des künstlerischen Triebes in ihm wirkt, dann muß er schaffen und sich jener Not der Arbeit unterziehn. Und wie ein Vater die Schönheit und Begabung seines Kindes bewundert, an den Akt der Entstehung aber mit schamhaftem Widerwillen denkt, so erging es dem Griechen. Das lustvolle Staunen über das Schöne hat ihn nicht über sein Werden verblendet – das ihm wie alles Werden in der Natur erschien, als eine gewaltige Not, als ein Sichdrängen zum Dasein. Dasselbe Gefühl, mit dem der Zeugungsprozeß als etwas schamhaft zu Verbergendes betrachtet wird, obwohl in ihm der Mensch einem höheren Ziele dient als seiner individuellen Erhaltung: dasselbe Gefühl umschleierte auch die Entstehung der großen Kunstwerke, trotzdem daß durch sie eine höhere Daseinsform inauguriert wird, wie durch jenen Akt eine neue Generation. Die Scham scheint somit dort einzutreten, wo der Mensch nur noch Werkzeug unendlich größerer Willenserscheinungen ist, als er sich selbst, in der Einzelgestalt des Individuums, gelten darf.

Jetzt haben wir den allgemeinen Begriff, unter den die Empfindungen zu ordnen sind, die die Griechen in betreff der Arbeit und der Sklaverei hatten. Beide galten ihnen als eine notwendige Schmach, vor der man Scham empfindet, zugleich Schmach, zugleich Notwendigkeit. In diesem Schamgefühl birgt sich die unbewußte Erkenntnis, daß das eigentliche Ziel jener Voraussetzungen bedarf, daß aber in jenem Bedürfnisse das Entsetzliche und Raubtierartige der Sphinx Natur liegt, die in der Verherrlichung des künstlerisch freien Kulturlebens so schön den Jungfrauenleib vorstreckt. Die Bildung, die vornehmlich wahrhaftes Kunstbedürfnis ist, ruht auf einem erschrecklichen Grunde: dieser aber gibt sich in der dämmernden Empfindung der Scham zu erkennen. Damit es einen breiten, tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, über das Maß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnot sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt werden, um nun eine neue Welt des Bedürfnisses zu erzeugen und zu befriedigen.

Demgemäß müssen wir uns dazu verstehen, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehöre: eine Wahrheit freilich, die über den absoluten Wert des Daseins keinen Zweifel übrig läßt. Sie ist der Geier, der dem prometheischen Förderer der Kultur an der Leber nagt. Das Elend der mühsam lebenden Menschen muß noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen. Hier liegt der Quell jenes Ingrimms, den die Kommunisten und Sozialisten und auch ihre blasseren Abkömmlinge, die weiße Rasse der »Liberalen«, jeder Zeit gegen die Künste, aber auch gegen das klassische Altertum genährt haben. Wenn wirklich die Kultur im Belieben eines Volkes stünde, wenn hier nicht unentrinnbare Mächte walteten, die dem einzelnen Gesetz und Schranke sind, so wäre die Verachtung der Kultur, die Verherrlichung der Armut des Geistes, die bilderstürmerische Vernichtung der Kunstansprüche mehr als eine Auflehnung der unterdrückten Masse gegen drohnenartige Einzelne: es wäre der Schrei des Mitleidens, der die Mauern der Kultur umrisse; der Trieb nach Gerechtigkeit, nach Gleichmaß des Leidens würde alle anderen Vorstellungen überfluten. Wirklich hat ein überschwänglicher Grad des Mitleidens auf kurze Zeit hier und da einmal alle Dämme des Kulturlebens zerbrochen; ein Regenbogen der mitleidigen Liebe und des Friedens erschien mit dem ersten Aufglänzen des Christentums, und unter ihm wurde seine schönste Frucht, das Johannesevangelium, geboren. Es gibt aber auch Beispiele, daß mächtige Religionen auf lange Perioden hinaus einen bestimmten Kulturgrad versteinern und alles, was noch kräftig weiterwuchern will, mit unerbittlicher Sichel abschneiden. Eins nämlich ist nicht zu vergessen: dieselbe Grausamkeit, die wir im Wesen jeder Kultur fanden, liegt auch im Wesen jeder mächtigen Religion und überhaupt in der Natur der Macht, die immer böse ist; so daß wir ebensogut es verstehen werden, wenn eine Kultur mit dem Schrei nach Freiheit oder mindestens Gerechtigkeit ein allzuhoch getürmtes Bollwerk religiöser Ansprüche zerbricht.

Was in dieser entsetzlichen Konstellation der Dinge leben will, das heißt leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches, muß also in unsrer Augen »welt- und erdgemäß Organ« fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als Werden. Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen, Leben und Morden ist eins. Deshalb dürfen wir auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen, der bei sei nem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt: als welchen eine wohltätige Macht die Augen verblendet hat, so daß sie, von den Rädern des Wagens fast zermalmt, doch noch rufen: »Würde der Arbeit!«, »Würde des Menschen!« Die üppige Kleopatra Kultur wirft immer wieder die unschätzbarsten Perlen in ihren goldenen Becher: diese Perlen sind die Tränen des Mitleidens mit dem Sklaven und mit dem Sklavenelende. Aus der Verzärtelung des neueren Menschen sind die ungeheuren sozialen Notstände der Gegenwart geboren, nicht aus dem wahren und tiefen Erbarmen mit jenem Elende; und wenn es wahr sein sollte, daß die Griechen an ihrem Sklaventum zugrunde gegangen sind, so ist das andere viel gewisser, daß wir an dem Mangel des Sklaventums zugrunde gehen werden: als welches weder dem ursprünglichen Christentum, noch dem Germanentum irgendwie anstößig, geschweige denn verwerflich zu sein dünkte. Wie erhebend wirkt auf uns die Betrachtung des mittelalterlichen Hörigen, mit dem innerlich kräftigen und zarten Rechts- und Sittenverhältnisse zu dem höher Geordneten, mit der tiefsinnigen Umfriedung seines engen Daseins – wie erhebend – und wie vorwurfsvoll!

Wer nun über die Konfiguration der Gesellschaft nicht ohne Schwermut nachdenken kann, wer sie als die fortwährende schmerzhafte Geburt jener eximierten Kulturmenschen zu begreifen gelernt hat, in deren Dienst sich alles andere verzehren muß, der wird auch von jenem erlogenen Glanze nicht mehr getäuscht werden, den die Neueren über Ursprung und Bedeutung des Staates gebreitet haben. Was nämlich kann uns der Staat bedeuten, wenn nicht das Mittel, mit dem jener vorhin geschilderte Gesellschaftsprozeß in Fluß zu bringen und in seiner ungehemmten Fortdauer zu verbürgen ist? Mag der Trieb zur Geselligkeit in den einzelnen Menschen auch noch so stark sein, erst die eiserne Klammer des Staates zwängt die größeren Massen so aneinander, daß jetzt jene chemische Scheidung der Gesellschaft, mit ihrem neuen pyramidalen Aufbau, vor sich gehen muß. Woher aber entspringt diese plötzliche Macht des Staates, dessen Ziel weit über die Einsicht und über den Egoismus des einzelnen hinausliegt?

Wie entstand der Sklave, der blinde Maulwurf der Kultur? Die Griechen haben es uns in ihrem völkerrechtlichen Instinkte verraten, der, auch in der reifsten Fülle ihrer Gesittung und Menschlichkeit, nicht aufhörte, aus erzenem Munde solche Worte auszurufen: »Dem Sieger gehört der Besiegte, mit Weib und Kind, Gut und Blut. Die Gewalt gibt das erste Recht, und es gibt kein Recht, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung, Usurpation, Gewalttat ist.«

Hier sehen wir wiederum, mit welcher mitleidlosen Starrheit die Natur, um zur Gesellschaft zu kommen, sich das grausame Werkzeug des Staates schmiedet – nämlich jenen Eroberer mit der eisernen Hand, der nichts als die Objektivation des bezeichneten Instinktes ist. An der undefinierbaren Größe und Macht solcher Eroberer spürt der Betrachter, daß sie nur Mittel einer in ihnen sich offenbarenden und doch vor ihnen sich verbergenden Absicht sind. Gleich als ob ein magischer Wille von ihnen ausginge, so rätselhaft schnell schließen sich die schwächeren Kräfte an sie an, so wunderbar verwandeln sie sich, bei dem plötzlichen Anschwellen jener Gewaltlawine, unter dem Zauber jenes schöpferischen Kernes, zu einer bis dahin nicht vorhandenen Affinität.

Wenn wir nun sehen, wie wenig sich alsbald die Unterworfenen um den entsetzlichen Ursprung des Staates bekümmern, so daß im Grunde über keine Art von Ereignissen uns die Historie schlechter unterrichtet als über das Zustandekommen jener plötzlichen gewaltsamen blutigen und mindestens an einem Punkte unerklärlichen Usurpationen: wenn vielmehr der Magie des werdenden Staates die Herzen unwillkürlich entgegenschwellen, mit der Ahnung einer unsichtbar tiefen Absicht, dort, wo der rechnende Verstand nur eine Addition von Kräften zu sehen befähigt ist: wenn jetzt sogar der Staat mit Inbrunst als Ziel und Gipfel der Aufopferungen und Pflichten des einzelnen betrachtet wird: so spricht aus alledem die ungeheure Notwendigkeit des Staates, ohne den es der Natur nicht gelingen möchte, durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine, im Spiegel des Genius, zu kommen. Was für Erkenntnisse überwindet nicht die instinktive Lust am Staate! Man sollte doch denken, daß ein Wesen, welches in die Entstehung des Staates hineinschaut, fürderhin nur in schauervoller Entfernung von ihm sein Heil suchen werde; und wo kann man nicht die Denkmale seiner Entstehung sehen, verwüstete Länder, zerstörte Städte, verwilderte Menschen, verzehrenden Völkerhaß! Der Staat, von schmählicher Geburt, für die meisten Menschen eine fortwährende fließende Quelle der Mühsal, in häufig wiederkommenden Perioden die fressende Fackel des Menschengeschlechts – und dennoch ein Klang, bei dem wir uns vergessen, ein Schlachtruf, der zu zahllosen wahrhaft heroischen Taten begeistert hat, vielleicht der höchste und ehrwürdigste Gegenstand für die blinde und egoistische Masse, die auch nur in den ungeheuren Momenten des Staatslebens den befremdlichen Ausdruck von Größe auf ihrem Gesichte hat!

Die Griechen aber haben wir uns, im Hinblick auf die einzige Sonnenhöhe ihrer Kunst, schon a priori als die »politischen Menschen an sich« zu konstruieren; und wirklich kennt die Geschichte kein zweites Beispiel einer so furchtbaren Entfesselung des politischen Triebes, einer so unbedingten Hinopferung aller anderen Interessen im Dienste dieses Staateninstinktes – höchstens, daß man vergleichungsweise und aus ähnlichen Gründen die Menschen der Renaissance in Italien mit einem gleichen Titel auszeichnen könnte. So überladen ist bei den Griechen jener Trieb, daß er immer von neuem wieder gegen sich selbst zu wüten anfängt und die Zähne in das eigne Fleisch schlägt.

Diese blutige Eifersucht von Stadt auf Stadt, von Partei auf Partei, diese mörderische Gier jener kleinen Kriege, der tigerartige Triumph auf dem Leichnam des erlegten Feindes, kurz die unablässige Erneuerung jener trojanischen Kampf- und Greuelszenen, in deren Anblick Homer lustvoll versunken, als echter Hellene, vor uns steht – wohin deutet diese naive Barbarei des griechischen Staates, woher nimmt er seine Entschuldigung vor dem Richterstuhle der ewigen Gerechtigkeit? Stolz und ruhig tritt der Staat vor ihn hin: und an der Hand führt er das herrlich blühende Weib, die griechische Gesellschaft. Für diese Helena führte er jene Kriege – welcher graubärtige Richter dürfte hier verurteilen? –

Bei diesem geheimnisvollen Zusammenhang, den wir hier zwischen Staat und Kunst, politischer Gier und künstlerischer Zeugung, Schlachtfeld und Kunstwerk ahnen, verstehen wir, wie gesagt, unter Staat nur die eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß er zwingt: während ohne Staat, im natürlichen bellum omnium contra omnes, die Gesellschaft überhaupt nicht in größerem Maße und über das Bereich der Familie hinaus Wurzel schlagen kann. Jetzt, nach der allgemein eingetretenen Staatenbildung, konzentriert sich jener Trieb des bellum omnium contra omnes von Zeit zu Zeit zum schrecklichen Kriegsgewölk der Völker und entladet sich gleichsam in selteneren, aber um so stärkeren Schlägen und Wetterstrahlen. In den Zwischenpausen aber ist der Gesellschaft doch Zeit gelassen, unter der nach innen gewendeten zusammengedrängten Wirkung jenes bellum, allerorts zu keimen und zu grünen, um, sobald es einige wärmere Tage gibt, die leuchtenden Blüten des Genius hervorsprießen zu lassen.

Angesichts der politischen Welt der Hellenen will ich nicht verbergen, in welchen Erscheinungen der Gegenwart ich gefährliche, für Kunst und Gesellschaft gleich bedenkliche Verkümmerungen der politischen Sphäre zu erkennen glaube. Wenn es Menschen geben sollte, die durch Geburt gleichsam außerhalb der Volks- und Staateninstinkte gestellt sind, die somit den Staat nur soweit gelten zu lassen haben, als sie ihn in ihrem eigenen Interesse begreifen: so werden derartige Menschen notwendig als das letzte staatliche Ziel sich das möglichst ungestörte Nebeneinanderleben großer politischer Gemeinsamkeiten vorstellen, in denen den eigenen Absichten nachzugehen ihnen vor allen ohne Beschränkung erlaubt sein dürfte. Mit dieser Vorstellung im Kopfe werden sie die Politik fördern, die diesen Absichten die größte Sicherheit bietet, während es undenkbar ist, daß sie gegen ihre Absichten, etwa durch einen unbewußten Instinkt geleitet, der Staatstendenz sich zum Opfer bringen sollten, undenkbar, weil sie eben jenes Instinktes ermangeln. Alle anderen Bürger des Staates sind über das, was die Natur mit ihrem Staatsinstinkte bei ihnen beabsichtigt, im Dunkeln und folgen blindlings; nur jene außerhalb dieses Instinktes Stehenden wissen, was sie vom Staate wollen und was ihnen der Staat gewähren soll. Deshalb ist es geradezu unvermeidlich, daß solche Menschen einen großen Einfluß auf den Staat gewinnen, weil sie ihn als Mittel betrachten dürfen, während alle anderen unter der Macht jener unbewußten Absichten des Staates selbst nur Mittel des Staatszwecks sind. Um nun, durch das Mittel des Staates, höchste Förderung ihrer eigennützigen Ziele zu erreichen, ist vor allem nötig, daß der Staat von jenen schrecklich unberechenbaren Kriegszuckungen gänzlich befreit werde, damit er rationell benutzt werden könne; und damit streben sie, so bewußt als möglich, einen Zustand an, in dem der Krieg eine Unmöglichkeit ist. Hierzu gilt es nun zuerst die politischen Sondertriebe möglichst zu beschneiden und abzuschwächen und durch Herstellung großer gleichwiegender Staatenkörper und gegenseitiger Sicherstellung derselben den günstigen Erfolg eines Angriffskriegs und damit den Krieg überhaupt zur größten Unwahrscheinlichkeit zu machen: wie sie andererseits die Frage über Krieg und Frieden der Entscheidung einzelner Machthaber zu entreißen suchen, um vielmehr an den Egoismus der Masse oder deren Vertreter appellieren zu können: wozu sie wiederum nötig haben, die monarchischen Instinkte der Völker langsam aufzulösen. Diesem Zwecke entsprechen sie durch die allgemeinste Verbreitung der liberal-optimistischen Weltbetrachtung, welche ihre Wurzeln in den Lehren der französischen Aufklärung und Revolution, das heißt in einer gänzlich ungermanischen, echt romanisch flachen und unmetaphysischen Philosophie hat. Ich kann nicht umhin, in der gegenwältig herrschenden Nationalitätenbewegung und der gleichzeitigen Verbreitung des allgemeinen Stimmrechts vor allem die Wirkungen der Kriegsfurcht zu sehen, ja im Hintergrund dieser Bewegungen, als die eigentlich Fürchtenden, jene wahrhaft internationalen heimatlosen Geldeinsiedler zu erblicken, die, bei ihrem natürlichen Mangel des staatlichen Instinktes, es gelernt haben, die Politik zum Mittel der Börse, und Staat und Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst zu mißbrauchen. Gegen die von dieser Seite zu befürchtende Ablenkung der Staatstendenz zur Geldtendenz ist das einzige Gegenmittel der Krieg und wiederum der Krieg: in dessen Erregungen wenigstens doch so viel klar wird, daß der Staat nicht auf der Furcht vor dem Kriegsdämon, als Schutzanstalt egoistischer Einzelner, gegründet ist, sondern in Vaterlands- und Fürstenliebe einen ethischen Schwung aus sich erzeugt, der auf eine viel höhere Bestimmung hinweist. Wenn ich also als gefährliches Charakteristikum der politischen Gegenwart die Verwendung der Revolutionsgedanken im Dienste einer eigensüchtigen staatlosen Geldaristokratie bezeichne, wenn ich die ungeheure Verbreitung des liberalen Optimismus zugleich als Resultat der in sonderbare Hände geratenen modernen Geldwirtschaft begreife und alle Übel der sozialen Zustände, samt dem notwendigen Verfall der Künste, entweder aus jener Wurzel entkeimt oder mit ihr verwachsen sehe: so wird man mir einen gelegentlich anzustimmenden Päan auf den Krieg zugute halten müssen. Fürchterlich erklingt sein silberner Bogen: und kommt er gleich daher wie die Nacht, so ist er doch Apollo, der rechte Weihe- und Reinigungsgott des Staates. Zuerst aber, wie es im Beginne der Ilias heißt, schnellt er den Pfeil auf die Maultiere und Hunde. Sodann trifft er die Menschen selbst, und überall lodern die Holzstöße mit Leichnamen. So sei es denn ausgesprochen, daß der Krieg für den Staat eine ebensolche Notwendigkeit ist wie der Sklave für die Gesellschaft: und wer möchte sich diesen Erkenntnissen entziehn können, wenn er sich ehrlich nach den Gründen der unerreichten griechischen Kunstvollendung fragt?

Wer den Krieg und seine uniformierte Möglichkeit, den Soldatenstand, in bezug auf das bisher geschilderte Wesen des Staates betrachtet, muß zu der Einsicht kommen, daß durch den Krieg und im Soldatenstande uns ein Abbild, oder gar vielleicht das Urbild des Staates vor Augen gestellt wird. Hier sehen wir, als allgemeinste Wirkung der Kriegstendenz, eine sofortige Scheidung und Zerteilung der chaotischen Masse in militärische Kasten, aus denen sich pyramidenförmig, auf einer allerbreitesten sklavenartigen untersten Schicht, der Bau der »kriegerischen Gesellschaft« erhebt. Der unbewußte Zweck der ganzen Bewegung zwingt jeden einzelnen unter sein Joch und erzeugt auch bei heterogenen Naturen eine gleichsam chemische Verwandlung ihrer Eigenschaften, bis sie mit jenem Zwecke in Affinität gebracht sind. In den höheren Kasten spürt man schon etwas mehr, um was es sich, bei diesem innerlichen Prozesse, im Grunde handelt, nämlich um die Erzeugung des militärischen Genius – den wir als den ursprünglichen Staatengründer kennengelernt haben. An manchen Staaten, zum Beispiel an der lykurgischen Verfassung Spartas, kann man deutlich den Abdruck jener Grundidee des Staates, der Erzeugung des militärischen Genius, wahrnehmen.

Denken wir uns jetzt den militärischen Urstaat in lebhaftester Regsamkeit, in seiner eigentlichen »Arbeit«, und führen wir uns die ganze Technik des Kriegs vor Augen, so können wir uns nicht entbrechen, unsere überallher eingesognen Begriffe von der »Würde des Menschen« und der »Würde der Arbeit« durch die Frage zu korrigieren, ob denn auch zu der Arbeit, die die Vernichtung von »würdevollen« Menschen zum Zwecke hat, ob auch zu dem Menschen, der mit jener »würdevollen Arbeit« betraut ist, der Begriff von Würde stimmt, oder ob nicht, in dieser kriegerischen Aufgabe des Staates, jene Begriffe, als untereinander widerspruchsvolle, sich gegenseitig aufheben.

Ich dächte, der kriegerische Mensch wäre ein Mittel des militärischen Genius und seine Arbeit wiederum nur ein Mittel desselben Genius; und nicht ihm, als absolutem Menschen und Nichtgenius, sondern ihm als Mittel des Genius – der auch seine Vernichtung als Mittel des kriegerischen Kunstwerks belieben kann – komme ein Grad von Würde zu, jener Würde nämlich, zum Mittel des Genius gewürdigt zu sein.

Was aber hier an einem einzelnen Beispiel gezeigt ist, gilt im allgemeinsten Sinne: jeder Mensch, mit seiner gesamten Tätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist; woraus sofort die ethische Konsequenz zu erschließen ist, daß der »Mensch an sich«, der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt: nur als völlig determiniertes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz entschuldigen.

Der vollkommne Staat Platos ist nach diesen Betrachtungen gewiß noch etwas Größeres als selbst die Warmblütigen unter seinen Verehrern glauben, gar nicht zu reden von der lächelnden Überlegenheitsmiene, mit der unsre »historisch« Gebildeten eine solche Frucht des Altertums abzulehnen wissen. Das eigentliche Ziel des Staates, die olympische Existenz und immer erneute Zeugung und Vorbereitung des Genius, demgegenüber alles andere nur Werkzeuge, Hilfsmittel und Ermöglichungen sind, ist hier durch eine dichterische Intuition gefunden und mit Derbheit hingemalt.

Plato sah durch die schrecklich verwüstete Herme des damaligen Staatslebens hindurch und gewahrte auch jetzt noch etwas Göttliches in ihrem Inneren. Er glaubte daran, daß man dies Götterbild herausnehmen könne und daß die grimmige und barbarisch verzerrte Außenseite nicht zum Wesen des Staates gehöre: die ganze Inbrunst und Erhabenheit seiner politischen Leidenschaft warf sich auf jenen Glauben, auf jenen Wunsch – an dieser Glut verbrannte er. Daß er in seinem vollkommnen Staate nicht den Genius in seinem allgemeinen Begriff an die Spitze stellte, sondern nur den Genius der Weisheit und des Wissens, daß er die genialen Künstler aber überhaupt aus seinem Staate ausschloß, das war eine starre Konsequenz des sokratischen Urteils über die Kunst, das Plato, im Kampfe gegen sich selbst, zu dem seinigen gemacht hatte. Diese mehr äußerliche und beinahe zufällige Lücke darf uns nicht hindern, in der Gesamtkonzeption des platonischen Staates die wunderbar große Hieroglyphe einer tiefsinnigen und ewig zu deutenden Geheimlehre vom Zusammenhang zwischen Staat und Genius zu erkennen: was wir von dieser Geheimschrift zu erraten meinten, haben wir in dieser Vorrede gesagt.


[1] Pico della Mirandola, De dignitate hominis, 1496, S.11.