Sinnloses Schicksal

Wer sich die Wirkung des sinnlosen Zufalls nicht zu erklären weiß, nimmt gern Zuflucht bei einem Glauben: oft an esoterische, metaphysische Wesenheiten. Darunter leiden Menschen besonders, wenn die Erklärungsbedürftigkeit des „Schicksals“ die Kräfte des Verstandes weit übersteigt: Warum wird dieses Jahr der Kohl nicht fett? Warum mußte gerade dieser gute Mensch bei einem Unfall sterben?

Für schlichte Gemüter bietet sich vor der harten Realität eine Zuflucht bei numinosen höheren Mächten an. Von diesen erwartet er klare Anweisungen. Erfüllt er sie, sollte ihn das schützen. Viele Religionen nennen solche göttlichen Anweisungen „Gebote“. Halb aufgeklärten Schlaumeiern war die Vorstellung peinlich, da thronte irgendwo im Nirgendwo ein alter Herr mit Rauschebart, regiere die Welt und überwache seine Gebote. Sie behaupteten als “Naturrechtler”, die moralischen Gebote seien von seiner Geburt an jedem Menschen immanent. Alle Welt habe sich darum gefälligst an sie zu halten.

Die vollendete Aufklärung

Nach Vollendung der Aufklärung erkannte man: Es gibt keine absolut, vorstaatlich und universell geltenden moralischen Gebote und Verbote. Diese existieren nur im Kopf jeweils des Menschen, der sie sich ausgedacht hat. Menschen können das ausgezeichnet. Jeder hat Vorstellungen davon, was moralisch gut oder böse ist, richtig oder falsch. Diese Vorstellung widerspiegeln den innersten Charakter eines jeden Menschen, seine Bedürfnisse und Hoffnungen, seine tiefsten Ängste und kühnsten Träume.

Menschen vermögen es, ihrem Leben einen Sinn zu geben, gerade so, wie der Schmied einem Schwert oder einer Pflugschar Zweckbestimmung und Sinn verleiht. Selbstbestimmt seinem Leben einen Sinn zu geben wäre vergebene Mühe, hätte das Leben jedes Menschen schon bei seiner Geburt einen Sinn erhalten, einen vorgegebenen Lebenssinn von oben, eine Sinnstiftung per orde Mufti sozusagen.

Einst glaubte man an Vorbestimmung, die man in den Sternen suchte. Was man fand, erwies sich später als Hokuspokus
Heidelberger Schicksalsbuch, nach 1491, Universität Heidelberg

Alle Menschen sind frei geboren: frei nämlich von metaphysischen Sinnstiftungen aus dem „Jenseits“. Solche Sinnstiftungen können wir uns zwar vorstellen: Wir können uns einbilden, unserem Leben sei ein Sinn vorbestimmt, und um ihn zu erfüllen, müßten wir irgendwelche Gebote beachten, die listige „Seelsorger“ uns ins Ohr flüstern.

Zigeuner am Rande des Universums

Tatsächlich existieren alle diese Gebote aber nur in unseren Köpfen. Außerhalb unseres „irdischen Diesseits“ ist nichts – nihil, wie die Lateiner sagen. Nach den Worten den Nobelpreisträgers Jacques Monod sind wir Menschen Zigeuner am Rande des Universums. Es ist taub für unser Flehen um Sinnstiftungen und Gebote.

Wer das begriffen hat, kann unbeschwert und frei seinem Leben einen Sinn geben und seine moralische Landkarte individuell und flexibel gestalten. Er weiß, daß jedermann das kann. Menschen mit anderem moralischem Kompaß zwinkert er verständnisvoll zu: auch ein freier Mensch! Meinen Respekt!

Moralische Arroganz aber verachtet er und verabscheut es, wenn andere Menschen ihre Herrschaft über ihn mit Geboten ihrer Herrschaftsmoral begründen wollen. Gläubige Schafe dagegen fallen immer wieder auf solche Versuche von „Hirten“ herein:

Ein neuer Nihilismus stürzt die Menschen in totale Verzweiflung und läßt sie im Haß auf alles Gute und Schöne erstarren.

Gerhard Kardinal Müller, Wer an Gottes Heilswillen glaubt, braucht sich nicht von selbsternannten Erlösern der Menschheit betören zu lassen, Tichys Einblick 1.1.2023.

Die Verleumdung der Freiheit

Was für ein ausgemachter Unsinn! Welch groteske Verleumdung menschlicher Freiheit!

Wer bemerkt, daß die ihn gelehrten „Gebote“ vor Jahrtausenden von den Priestern irgendwelcher Ziegenhirten erfunden und aufgeschrieben worden sind, wird vielleicht verzweifelt sein, daß er das nicht schon lange gemerkt hat. Dann kann er befreit und fröhlich an sein Tagwerk gehen. Er erstarrt nicht „im Haß auf alles Gute und Schöne“, sondern darf sich ermutigt fühlen, ab sofort selbst zu bestimmen, was für ihn das Gute und das Schöne ist.

Ihn plagt kein Gewissen, wenn er auf der Brühl’schen Terrasse in Dresden nichtsahnend eine Treppe hochgeht und sich ein schöner Nackedei vor der Kamera eines Fotografen räkelt. Sünde? Muß ich mir verkneifen, eine andere Frau zu begehren? Jeder freie Geist urteilt und handelt nach seiner eigenen Facon.

Wenn wir im Vordergrund etwas Schönes vor dem Hintergrund von Schönem sehen, darf jeder über gut und böse, schön und häßlich selbst frei entscheiden.
(Dresden, Brühl’sche Terrasse, 24.9.2022, Foto-Session mit Model, Zufallsfoto des Verfassers in der Öffentlichkeit)

Haß und Zorn der Priester perlen von ihm ab. Diese beschwören gegen ihn

die jüdisch-christliche Auffassung von der Schöpfung der Welt, wobei Zeit und Raum nur Koeffizienten des durch das Wort (den Logos) Gottes Gewordenen bilden. Da Gott Ursprung und Ziel des auf ihn hin geschaffenen Menschen ist, werden Raum und Zeit nicht mehr als der erbarmungslose Rhythmus des Werdens und Vergehens oder des blinden Naturgesetzes von Stirb und Werde gefürchtet, sondern als vergebene Möglichkeiten der Entfaltung und Vollendung der menschlichen Person in der Liebe zu Gott und zum Nächsten und zur Annahme seiner selbst als Sohn und Tochter Gottes in Jesus Christus, seinem Sohn, der die Mitte der Zeit darstellt oder der der Zeit ihr Zentrum gegeben hat in seiner Person.

Gerhard Kardinal Müller, Wer an Gottes Heilswillen glaubt, braucht sich nicht von selbsternannten Erlösern der Menschheit betören zu lassen, Tichys Einblick 1.1.2023.

Der Häretiker gilt als Todfeind

Hören Sie die Nachtigal trapsen? Wer dem auf den Leim geht, ist für eigene Sinnstiftung und Wertsetzung verloren. Kardinal Müller verunglimpft und verachtet zwar die Aufklärung darüber, daß es seine „christlichen Werte“ nur in den Köpfen ihrer menschlichen Erfinder und Gläubigen gibt.

Wer die christlichen Werte und ihre Moral nicht achtete, wurde in der Hölle gepiesackt. Der Glaube an absolte, universelle Werte kann sich bis zur Paranoia steigern.
(Hieronymus Bosch, Garten der Lüste, um 1490-1500.

Tatsächlich aber schimpft er weniger über tatsächliche Nihilisten, die metaphysisch „höhere Werte“ bestreiten. Er wettert gegen ideologische Konkurrenz. Das sind Leute, die auch an „höhere Werte“ glauben, aber nicht an seine:

Man spricht darum auch von einer linearen Geschichtsauffassung im Christentum, die anstelle des zyklischen Weltbildes im Mythos und der antiken Kosmos-Philosophie getreten ist. Noch im modernen Fortschrittsdenken ist in säkularisierter Weise der Gedanke der sittlichen Perfektibiltät übriggeblieben, verbunden mit der Hoffnung durch neueste Technik, Medizin und Kommunikationsmedien ideale Lebensbedingungen herstellen zu können. Aber in postmoderner Zeit ist auch die Ernüchterung nach dem Scheitern der ideologischen Narrative von einem materialistischen Paradies auf Erden eingetreten.

Gerhard Kardinal Müller, Wer an Gottes Heilswillen glaubt, braucht sich nicht von selbsternannten Erlösern der Menschheit betören zu lassen, Tichys Einblick 1.1.2023.

Vom Paradiesversprechen in die Bürgerkriegshölle

Die ein solches „Paradies auf Erden“ versprochen hatten, waren zum Beispiel  die Kommunisten mit ihrer Utopie einer klassenlosen Endzeit-Gesellschaft. Sie sind wie die Christen und ihre Paradiesversprechen, nur ohne Gott. Jesus zufolge soll eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, als daß ein Reicher in den Himmel kommt. Marxisten sind aus christlicher Sicht häretische peinliche Verwandte.

Wer alle Werte und Gebote als Produkte menschlichen Denkens erkennt, relativiert sie. Das bewahrt ihn vor der Versuchung, haßerfüllt alle „Ungläubigen“ bekehren oder vernichten zu wollen. Weil er selbst nichts glaubt, kennt er nämlich keine „Ungläubigen“.

Ungläubige gibt es nur für Gläubige. Es scheint außerhalb des Denkhorizontes der freischwebenden Intelligenz Milosz Matuscheks zu liegen, daß „demokratie- und volksverachtende Politiker, NGOs und Stiftungen, staatsnahe ThinkTanks wie das «Zentrum für liberale Moderne», gekaufte Wahrheitsministerien wie der «Volksverpetzer» sowie willfährig-eifrigen Redakteure“ keineswegs Nihilisten sind, sondern begnadete Metaphysiker – aber von der anderen Feldpostnummer. Matuschek fühlt sich „im Würgegriff der Nihilisten“ und schreibt

Die Verkehrung der Wirklichkeit ist kein Beiprodukt, es ist das Produkt. Genauer gesagt: Das Produkt einer neuer Riege nihilistischer Kräfte, die sich einen Systemumbau von innen, bezahlt durch den Bürger durch Rundfunkzwangsgebühren und Steuergelder auf die woken Regenbogenfahnen geschrieben haben. Dostojewskis Dämonen geistern wieder durch die Welt. Ihr Erkennungszeichen: Sie wollen nie das naheliegende Machbare und Produktive, sondern stets das fernliegende, Utopische, Destruktive. So sind sie nie verantwortlich zu machen, denn das Ziel ist ja noch in weiter Ferne. Diese Nomenklatura des Nihilismus, man findet sie heute unter demokratie- und volksverachtenden Politikern, bei NGO´s und Stiftungen, in staatsnahen ThinkTanks wie dem «Zentrum für liberale Moderne», gekauften Wahrheitsministerien wie dem «Volksverpetzer» sowie unter willfährig-eifrigen Redakteuren.

Milosz Matuschek, Im Würgegriff der neuen Nihilisten, Freischwebende Intelligenz 18.12.2022

Wir müssen dieser von jener Nomenklatura ausgehenden Gefahr begegnen, aber durch Aufklärung, nicht durch Einflößen esoterischer Gifttränke. Matuschek will den Teufel jener Nomenklatura mit dem Beelzebub seines eigenen Glaubens austreiben, Glaube soll gegen Glauben streiten, Häretiker durch Rechtgläubigkeit gezüchtigt werden. Die alten Götter historischer Glaubenskrieger steigen wieder aus ihren Gräbern und ringen um Heil oder Unheil der Menschen.

Die neue Menschheitsreligion

Es gehört nicht viel Aufklärung dazu, in der linksextremen und linksliberalen Nomenklatura ein Übermaß an metaphysischer, quasi religiöser Glaubensgewißheit zu erkennen. Die Herrschaften glauben aber nicht mehr an den christlichen oder andere Götter, sondern verehren eine abstrakte Idee eines „Menschen an sich“. Ihr Glaube fordert, die metaphysische Gleichheit aller Menschen durch faktische Gleichheit zu krönen. Jede Herrschaft von Menschen über Menschen ist ihr ein Greuel. Sie haben den Bodensatz der alten kommunistischen Ideologie geradezu mit Löffeln gefressen.

Der Glaube an den guten Menschen an sich und die Humanität sind substanziell Religion, weil er etwas im Menschen wohnendes Immaterielles behauptet; er ist durch den Modus des festen Glaubens seiner Anhänger anstelle von Faktenwissen eine Religion, und er ist auch funktional Religion. Er hilft anscheinend seinen Anhängern, trotz täglicher schlechter Nachrichten über alles Schreckliche, das Menschen sich gegenseitig antun, den Glauben an „den Menschen“ zu bewahren und damit gesellschaftlichen Sinn zu stiften. Dieser Sinn soll diejenige Gemeinschaft stiften, die in der modernen Atomisierung der alten sozialen Einheiten und Verbände verlorengegangen ist. Mit diesem Sinn wächst ihm auch eine Funktion im Rahmen einer neuen Herrschaftsideologie zu, die diesen Glauben benötigt. Er soll die fluide gemachte Masse beherrschbar halten.

Klaus Kunze, Wie der Mensch sein eigener Gott wurde. Humanitarismus – die Religion der Gottlosen, Hrg. Die Deutschen Konservativen. 2022, S.55.

Gegen ihre roten, jetzt bunten Fahnen mit christlichen Monstranzen aufzumarschieren, erklärt offen den geistigen Bürgerkrieg. Wir erinnern uns gut an die konfessionellen Bürgerkriege in Frankreich und Deutschland des 16.-17. Jahrhunderts und den spanischen im 20.

Es hilft nicht, in der linksextremen neuen Nomenklatura Ungläubige oder Verworfene zu sehen, Ketzer oder „Nihilisten“ – die sie gar nicht sind. Solche Begriffe sind sinnlos und hohl wie jeder ideologische Kampfbegriff, der nur auf dem Boden eines abweichenden Glaubens einen Sinn ergibt. Nur innerhalb der christlichen Blase sind Begriffe wie Sünder verständlich, und nur innerhalb der woken Linken Begriffe wie Klimaleugner und Rassist.

Wer seine geistige Unabhängigkeit bewahren möchte, sollte um christliche Bußprozessionen einen ebenso großen Bogen machen wie um die modernen woken Blockwarte und selbsternannten Volkspädagogen.

Jeder Blogbeitrag hier greift einen Einzelaspekt auf und setzt dabei viele Denkgrundlagen bereits voraus. Wer etwa innig an Seelenwanderung oder die reale Existenz von Donald Duck glaubt, wird hier schon im Grundsätzlichen widersprechen. Lesen Sie dieses Grundsätzliche gern hier:

Das Vermächtnis Apollons