Ist Krieg schlimmer oder der Tod?

Kriegsverbrecher Putin?

Ein schlichtes Liedchen kenne ich, seit ich zurückdenken kann. Krabbelte ein Käferchen handempor und flog in die Höhe, sang man:

Maikäfer flieg,
dein Vater ist im Krieg,
Deine Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer, flieg!

So bewahrte Kindermund ein Urtrauma unseres Volkes. Dabei war das gelegentliche Aufeinanderprallen von Heerhaufen noch das geringste Problem des Volkes. Die Wallensteiner zogen 1628 durch Pommern und belagerten vergeblich Stralsund. Die Armee zählte mit Troß, Weibern und Kindern mehr Münder als die meisten Städte im Reich.

Alle wollten satt werden. Was auch immer das Heer benötigte, wurde, von Böhmen bis an die Ostsee, in den durchzogenen Landstrichen zusammengeraubt und diese so planmäßig verwüstet, daß niemand mehr darin leben konnte. Der Krieg sollte und mußte den Krieg ernähren. Nicht der Kampf brachte der Bevölkerung den Tod, sondern ihre Wehrlosigkeit gegenüber der plündernden und mordenden Soldateska.

Pieter Codde (1599-1678), Marodierender Soldat erpreßt einen Bauern.

Sie scherte sich weder in Feindes- noch in Freundesland um irgendein Recht oder Gesetz. Die Früchte dieser Gewalttaten selbst machten Wallenstein immer noch mächtiger, und niemand neben ihm war mächtig genug, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Friedrich Schiller urteilte in seiner 1791 erschienen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges: „Sein Heer betete ihn an, und das Verbrechen selbst setzte ihn in den Stand, alle Folgen desselben zu verlachen!“

Je verbrecherischer, desto mächtiger

Je rücksichtsloser jemand bis zur völligen Ausplünderung und Ausrottung aller anderen vorgeht, desto unangreifbarer macht er sich vor jedem Richterspruch. Wer wollte den vollstrecken? Ein „Recht“ ist nur ein leerer Schein, wenn man es bei niemandem einklagen und durchsetzen kann. Die schlimmsten Greueltaten der Weltgeschichte blieben ungesühnt, wo kein Opfer überlebte und sich beklagen konnte. An diese bittere Wahrheit schließt sich das heutige „moderne“ Völkerrecht an und strebt nach einem „Weltgericht“ mit globaler Macht, welches aber ebensogut globalen Schrecken verbreiten könnte. Wer wollte solcher Allmacht Grenzen setzen?

Das Schwert in der eigenen Hand hat sich historisch als die legitime und oft letzte Waffe erwiesen, sich verbrecherischer Willkür zu erwehren. Diese setzte nämlich gewöhnlich erst ein, nachdem die Schlacht geschlagen war, die Verteidiger überwunden, und die Schwachen jedem Verbrechen ausgesetzt waren. Erst nachdem Tilly 1631 die Mauern Magdeburgs überwunden hatte und die Gegenwehr zusammenbrach, mußten über 30000 Einwohner jämmerlich ihr Leben lassen. Friedrich Schiller berichtet darüber:

Durch das Stillschweigen seines Generals zum Herrn über das Leben aller Bürger gemacht, stürzte der Soldat in das Innere der Häuser, um ungebunden alle Begierden einer viehischen Seele zu kühlen. Vor manchem deutschen Ohre fand die flehende Unschuld Erbarmen, keines vor dem tauben Grimm der Wallonen aus Pappenheims Heer. Kaum hatte dieses Blutbad seinen Anfang genommen, als alle übrigen Tore aufgingen, die ganze Reiterei und der Kroaten fürchterliche Banden gegen die unglückliche Stadt losgelassen wurden.
Eine Würgeszene fing jetzt an, für welche die Geschichte keine Sprache und die Dichtkunst keinen Pinsel hat. Nicht die schuldfreie Kindheit, nicht das hilflose Alter, nicht Jugend, nicht Geschlecht, nicht Stand, nicht Schönheit können die Wut des Siegers entwaffnen. Frauen werden in den Armen ihrer Männer, Töchter zu den Füßen ihrer Väter mißhandelt, und das wehrlose Geschlecht hat bloß das Vorrecht, einer gedoppelten Wut zum Opfer zu dienen. Keine noch so verborgene, keine noch so geheiligte Stätte konnte vor der alles durchforschenden Habsucht sichern. Dreiundfünfzig Frauenspersonen fand man in einer Kirche enthauptet. Kroaten vergnügten sich, Kinder in die Flammen zu werfen – Pappenheims Wallonen, Säuglinge an den Brüsten ihrer Mütter zu spießen.

Friedrich Schiller, Der Dreißigjährige Krieg

Allein der Durchmarsch der Tilly’schen Truppen entvölkerte ganze Landstriche wie Südniedersachsen.

Obdachlos irrten die Bewohner der zerstörten Dörfer umher und zogen sich samt denen, die aus anderen Orten vor den Mißhandlungen der Sol­daten flüchteten, in die dichten Wälder zurück. Da lebten sie kümmerlich und elend von Kräutern, Wurzeln und Waldbeeren, aber oft nur von Eicheln und Baum­rinde.

August Ey, Harzbuch, 2. Aufl. Goslar 1855, S.43.

1625 suchte die Pest den Harz bis Göttingen schwer heim. Der Uslarer Su­perintendent Christoph Specht klagte später, am 14.5.1628, die Dörfer seien von Grund auf ruiniert und durch Pestilenz, Schwert, Kummer, Hunger Angst und Not gänzlich heruntergekommen. Konkret bedeutete das für die Dorfbewohner nach einem Schreiben des Uslarer Amtmannes Pape an den Herzog, daß sie

„allen Vorrats an Getreide, Vieh, Kleidern, Hausgerät und Pflügen beraubt waren. Die Dörfer sind meist eingeäschert, und die kleine, dem Tode bisher entgangene Bevölkerung haust in Hütten oder auf freiem Felde oder sucht im Walde ein Ob­dach.“

(Zitatnachweise im einzelnen siehe Klaus Kunze, Lebensbilder aus dem alten Weserbergland, 2020, 2.Aufl.2023, S.17)

Was diese Menschen hinter sich hatten, schilderte und beklagte ihr eigener Herzog Friedrich Ulrich in einem Brief an den Kaiser:

Durch Tilly […] sind die wehrlosen Leute in ihren Häusern, auf Wegen, im Walde und im Felde überfallen und mit Weib und Kind erbärmlich niedergehauen. Weder Kindbetterinnen noch Säuglinge haben Schonung gefunden. Man hat die aufgegriffenen Pfarrer er­schlagen, die Bewohner der Siechenhäuser gemordet, Frauen die Zunge ausgerissen oder aufgespalten, Männern härene Stricke um den Kopf gewunden und mächtig zugezogen, um durch Marter das Geständnis versteckten Geldes zu erpressen.“ […] Man hat „Flecken und Dörfer ausgebrannt und Menschen gleich wilden Tieren in Wäldern und auf dem Felde gehetzt. Ein Teil meines Fürstentums, 12 Meilen in der Länge, sieben Meilen in der Breite, liegt gänzlich verheert.

(Zitiert nach Willi Wieneke und Hans Bauer, Bollensen, Ein Dorf und seine Geschichte, o.J., S.31)

Kein Kriegsverbot bis ins 20. Jahrhundert

Ob den Einwohnern Hannoversch-Mündens oder den mit Mann und Maus massakrierten Pfälzern beim Kroatensturm auf Kusel – Deutschland wurde nach und nach zu zwei Dritteln entvölkert. Nicht der militärische Kampf brachte den Tod, sondern nach einer Niederlage hingemetzelt zu werden.

Jacques Callot (1592-1635): Marodierende Soldaten plündern, foltern und vergewaltigen.

Das galt schon im Dreißigjährigen Krieg als Verbrechen vor dem Naturrecht und Gottes intelligibler Ordnung. Im Altertum hatte man noch völlig andere Gesetze als von Gott gegeben angesehen: Das mußten die Bewohner der mit Sparta verbündeten Insel Melos in der Ägäis im Jahre 415 v.Chr. lernen. Die athenische Flotte landete auf Melos und wollte die Melier zu ei­nem Bündniswechsel im Pelo­ponnesischen Kriege er­pressen. Diese zogen die Athe­ner in Ver­hand­lungen. Sie beriefen sich ver­zweifelt auf die Götter, die Ehre, die Treue, das Recht und die Moral. Unge­rührt antworteten die Athe­ner: Daß alles die­ses auf Seiten der Melier ist, bestreiten wir über­haupt nicht. Doch wißt ihr eben­so gut wie wir,

“daß das Recht im mensch­li­chen Verkehr nur bei gleichem Kräfte­ver­hältnis zur Gel­tung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durch­set­zen und die Schwachen sich fügen. … Wir glauben nämlich, daß der Gott wahr­scheinlich, der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Na­tur überall dort, wo er die Macht hat, herrscht. Wir ha­ben dieses Ge­setz weder aufgestellt noch als bestehendes zuerst be­folgt. Als gege­ben haben wir es übernommen und werden es als ewig gül­tiges hinter­lassen.”[1]

Thukydides, der Pelopponesische Krieg, Melierdialog.

Als sich die Melier trotzdem nicht fügten, wur­den nach heftigem Kampf alle Männer getötet und die Frauen und Kin­der in die Sklave­rei verkauft. So ereigneten sich die schlimmsten Greuel nicht im Kampf, sondern erst nach der Niederlage. So wurden 1945 nach der Kapitulation der Wehrmacht, also nach Kriegsende am 8. Mai, in Ostdeutschland etwa zwei Millionen Frauen vergewaltigt und etwa ebenso Menschen ermordet, unter ihnen am 21. Juli .1945 in Oels mein 1873 geborener Urgroßvater.

Putins Krieg und das Völkerrecht

Bis ins 20. Jahrhundert galt als edelstes Recht eines Königs oder einer freien Republik, nach Belieben Krieg zu führen, das ius ad bellum. Es wurde im Lauf des Jahrhunderts durch zwischenstaatliche und internationale Verträge und Abkommen beschränkt. Hätte Rußland nicht durch völkerrechtlich bindende Verträge und Abkommen zugesichert, der Ukraine nichts zu tun und keinen Krieg anzufangen, könnte man gegen seine Kriegführung für sich genommen “naturrechtlich” nichts einwenden.

Betrachtet man dagegen, wie Putin diesen Krieg führt, ist seine „Spezialoperation“ mit den von Friedrich Schiller als Verbrechen bezeichneten Greueln des 30jährigen Krieges vergleichbar. Waren Kriegsverbrechen schon die alliierten Bombenangriffe auf unbefestigte deutsche Städte im 2. Weltkrieg, ist es auch kriegsverbrecherisch, wie Putins Raketen an der Ostfront eine Stadt nach der anderen in Trümmer legen. Hinter der Front treiben Säuberungskommandos ihr Wesen, werden Verdächtige gefoltert, Kinder verschleppt, und es wird versucht, eine eigenständig werdende Kultur auszulöschen. Wer das Existenzrecht unterschiedlicher Menschengruppen, Völker und Kulturen auf dieser Erde gutheißt, kann das nicht verharmlosen oder rechtfertigen.

Es ist auch nicht dadurch zu rechtfertigen, daß es zuvor die USA durch eine jahrelange Infiltration der Ukraine und einen im Raum stehenden Beitritt des Landes in die NATO bewußt verstanden haben, Putin in eine strategische Zwickmühle zu bringen. Um seine Vision eines imperialen Großrußlands nicht scheitern zu lassen, mußte er schließlich zum Verbrecher werden. Er beging kein Verbrechen, friedlich um die Ukraine zu ringen und NATO-Basen vor seiner Haustür möglichst abzuwenden. Aber er mußte endgültig zum Verbrecher werden, als ihm in seinem strategischen Schachspiel gegen die USA ein Schachmatt drohte. So schmiß er die Figuren um und sucht die Entscheidung auf dem Schlachtfeld.

Die Strategie der USA ging damit auf: Die NATO ist nicht mehr “scheintot”, die USA sind wieder “westliche Führungsmacht” mit ihrem Vasall Deutschland im ökonomischen Windschatten. Putins als globaler Spieler ist dagegen gescheitert und erreichte mit allen seinen Schachzügen das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte.

Sein Krieg ist noch nicht das Schlimmste, was den Ukrainern widerfahren kann: Sein Sieg könnte es aber noch werden.


[1] Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Reklam, 5.Buch, Ziff. 89, 105.

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Kriechgang oder Mannesmut vor Herrscherthronen?

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Unser europäischer Mythos

  1. Bernhardt

    Die hier empfohlenen Bücher machen mitunter deutlich, wie die Ukraine bereits vor fast 100 Jahren um Eigenständigkeit rang.
    Vielfach ausgezeichnet: Katka Petrowskajas „Vielleicht Esther“
    Vor fast hundert Jahren geschrieben und noch immer aktuell: Joseph Roths Reportagen über Reisen in die Ukraine und nach Russland
    C.H. Beck
    Wenn man so will, der Roman der Stunde: Andrej Kurkows „Graue Bienen“.

    Der Dichter Taras Schewtschenko wird in der Ukraine als bedeutendste literarische Gestalt verehrt. Er trug maßgeblich zur Ausbildung der ukrainischen Schriftsprache bei. Nachdem im Zuge der Dekommunisierung überall in der Ukraine Lenin-Statuen vom Sockel gerissen wurden, trat Schewtschenko gewissermaßen als neuer Nationalheld der Ukraine an die Stelle der sowjetischen Helden.

    Zum Weiterlesen…

    Olesya Khromeychuk: Ein Verlust. Die Geschichte eines gefallenen ukrainischen Soldaten, erzählt von seiner Schwester. Ibidem Verlag, 2021.  
    Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis. Diogenes, 2000. 
    Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte, wir atmen nur aus. Kiepenheuer & Witsch 2022.  
    Maria Matios: Darina die Süsse. Haymann Verlag 2014.
    Oleksandr Mykhed: Dein Blut wird die Kohle tränken. Über die Ostukraine. Ibidem Verlag, 2021.   
    Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt. Guggolz Verlag, Berlin 2022 
    Oksana Sabuschko: Museum der vergessenen Geheimnisse. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2014.  
    Artem Tschech: Nullpunkt. Arco Verlag. 2022. 
    Jurij Wynnytschuk: Im Schatten der Mohnblume. Haymon Verlag 2014.  
    Serhiy Zhadan: Nachrichten vom Überleben im Krieg. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022. Suhrkamp Verlag, 2022. .

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