Wenn Linke ihren ideologischen Zauberstab schwingen, lautet ihre Beschwörungsformel immer: “Gerechtigkeit!” Sie bildet den Schlüssel zum Verständnis alles dessen, was links ist, und darum ist der Rechts-Links-Gegensatz nicht überholt.

Natürlich wollen Rechte auch Gerechtigkeit, aber eine völlig andere als Linke. Sie erkennen, daß hinter der Forderung nach Gerechtigkeit gewöhnlich ein Machtanspruch steckt. Wer ihn erhebt, strebt nach der Herrschaft, die Ressourcen anders zu verteilen als bisher – zu seinen Gunsten, versteht sich. Die Parole “Gerechtigkeit” ist ein Mittel, die eigenen Interessen zur Geltung zu bringen.

Wem die “Deu­tung der Ora­kel der Gerechtigkeit an­ver­traut ist”, wird er­fah­rungs­ge­mäß “die­se Göttin be­we­gen können, nichts zu antwor­ten, was wi­der den ei­ge­nen Vorteil ist,”[1] erkannte schon 1667 der Jurist Samuel von Pufendorf. Und sein späterer Kollege Ernst von Hip­pel seufzte re­si­gnierend, nach Ver­­lo­ren­ge­hen der “hö­heren Rechts­­stufen” des göttli­chen und des Na­­tur­rechts seien “end­lich nur noch der Rechts­be­griff als leere Form und Tar­nung blo­ßer In­ter­essen wie poli­ti­scher Macht üb­rig” ge­blie­­ben.[2]

In der Ausgabe von 1668 schrieb Samuel von Pufendorf sein berühmtes Werk “De statu Imperii Germanici” unter Pseudonym, um nirgends anzuecken.

Gleiches gleich und Ungleiches ungleich

Es gibt “die Gerechtigkeit” nicht. Man stellt sie sich gern als anthropomorphe Personifikation vor: eine Frau mit Waage und verbundenen Augen. Sie existiert in vielen Köpfen als Vorstellung, ebenso wie “der Tod” als Skelett mit Sense oder Micky Mouse in vielen Köpfen “lebt”.

Tatsächlich haben Menschen sich ein Verteilungsprinzip ausgedacht, das sie situativ als “gerecht” bezeichnen: Man soll Gleiches gleich behandeln und Ungleiches ungleich. Seinen Anwendungsbereich findet dieses Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit in der Familie: Am Tisch wird das Essen gerecht verteilt, damit jeder seinen Anteil bekommt. Es muß aber ein fünfjähriges Kind nicht genauso viel bekommen wie ein 120-Kilo-Mann, weil ihr Bedarf ungleich ist.

Gerecht zu verteilen hat also zwei Voraussetzungen: Es erfordert eine verteilende Instanz mit der Verfügungsmacht über die Verteilungsmasse, und es erfordert einen von ihr willentlich gesetzten Maßstab, nach welchen Kriterien die Gleichheit oder Ungleichheit zu beurteilen ist: Nehmen wir zwei runde Kugeln und zwei Würfel, von denen je eine Kugel und ein Würfel rot ist, der andere blau. Welche gleich sind, läßt sich nicht ohne Entscheidung beurteilen, ob gleiche Form oder gleiche Farbe den Ausschlag geben soll.

Wer bei der Ressourcenverteilung entscheidet, nach welchen Maßstäben verteilt wird. hat die Macht. Nur im Rahmen von Über- und Unterordnungsverhältnissen stellt sich die Frage “gerechter” Verteilung. Ein Staat, der seinen Untertanen weitgehend Güter entzieht, um sie an andere auszuteilen, kann nur ein autoritärer Machtstaat sein.

Nähmen Linke die Marx’sche utopische Forderung nach einer Aufhebung der “Herrschaft des Menschen über den Menschen” ernst, würden sie gegen die immer ausschweifendere Umverteilungsmacht unseres Staates aufbegehren.

Ein Gerechtigkeitsprinzip ohne Regeln wäre unbegreiflich, formulierte der Rechtsphilosoph Chaïm Perelman (1912-1984) in seinem Werk „Über die Gerechtigkeit“[3], denn

gerecht sein heißt eine Regel zu beachten, welche die Verpflichtung formuliert, alle Wesen einer bestimmten Kategorie auf eine bestimmte Weise zu behandeln.

Chaïm Perelman, Über die Gerechtigkeit, S.58.

Es herrscht allerdings immer, wer diese Regel aufstellt und ihre Geltung erzwingt, denn

Die Macht hat, wer die Re­geln re­gelt. Es geht nicht Macht vor Recht; sondern: Wer die Macht hat, macht das Recht.

Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1965, S.62[4].

So vermögen unsere herrschenden Parteien unser Recht zu machen, indem sie die Kriterien der materiellen Gleichbehandlung ändern und neu aufstellen. So werden nach und nach die Differenzierungskriterien für staatliche Transferleistungen etwa nach Lebensalter, durch Arbeitsleistung erworbene Anrechte oder Staatsbürgerschaft beseitigt und durch das neue Kriterium „Mensch“ ersetzt, und schon ist das Bürgergeld fertig.

Gerechtigkeit ist kein universales Prinzip

In der Natur stellt sich niemals die Frage nach Gerechtigkeit. Daß der Nil durch Ägypten fließt und Nachbarstaaten auf dem Trockenen sitzen, ist nicht “ungerecht”. Könnte man die Gravitation als “ungerecht” aufheben, könnten Frauen fliegen. Doch „wo die Notwendigkeit herrscht, gibt es keine Verpflichtung.“[5]

Es stellt sich auch zwischen Menschengruppen keine Gerechtigkeitfrage, die keiner gemeinsamen, verteilenden Zentralgewalt unterliegen. Es ist nicht “ungerecht”, daß es bei den Eskimos nicht so warm ist wie auf Ibiza, daß es in Deutschland weniger “seltene Erden” gibt als in China oder daß England eine Insel ist. Das alles ist eben so. Es ergeben sich darauf keine zwischenmenschlichen Verteilungsfragen, solange sich nicht irgendeine Macht zum globalen Großen Zampano aufschwingt und alle Welt auf ihr Kommando hören muß.

An Versuchen dazu fehlt es nicht. Doch muß uns klar sein: Man würde uns vieles wegnehmen: unsere Freiheit, unser Geld, unser Land, wenn jemand den ideologischen Zauberstab schwingen und sein Gleichheitshokuspokus aufsagen dürfte: Alle Menschen sind gleich, und wenn ihr mehr habt als andere, ist das ungerecht!”

In unserem Interesse liegt es nicht, einer “Weltregierung” solche Macht über uns zuzugestehen. Sie würde uns mit einer Gerechtigkeitsideologie zu beherrschen suchen, wie sie unsere Vorfahren in christlichen Zeiten einst geglaubt hatten: Im jüngsten Gericht belohnt und straft die göttliche Gerechtigkeit. Todsünder wie Geizhälse beispielsweise kommen in die Hölle, also gebt euer Geld gefälligst an die Kirche oder die Armen!

Hieronymus Bosch, Der Tod des Geizhalses (um 1500-1510). Er hatte die “Verteilungsgerechtigkeit” mißachtet.

Die multiplen Gerechtigkeiten

Weil es keine allumfassende Gerechtigkeit gibt ohne Vorentscheidung, welches Kriterium wir für die Gleichheit heranziehen, gibt es Gerechtigkeit nur im Plural. Potenziell gibt es so viele Gerechtigkeiten wie es Menschen gibt.

Jedes Gerechtigkeitssystem stellt nur die Entfaltung eines oder mehrerer Werte dar, deren willkürlicher Charakter sich aus den Werten selbst ergibt. Wir verstehen nun auch, daß es nicht nur ein einziges Gerechtigkeitssystem geben kann, sondern daß es ebensoviele Gerechtigkeitssysteme geben muß, wie es verschiedene Werte gibt.

Chaïm Perelman, Über die Gerechtigkeit, S.74.

Nun gibt es keine universell und absolut geltenden „Werte“, denn jedermann steht es frei, alles und jedes zu bewerten wie er will. Etwas zu bewerten ist eine geistige und emotionale Tätigkeit, die den „Wert“ als begriffliche Vorstellung in unserem Kopf erzeugt.

Da jeder Wert willkürlich ist, gibt es keine absolute, vollständig in der Vernunft begründete Gerechtigkeit. Um es noch deutlicher zu sagen: es gibt keine absolute Gerechtigkeit, außer wenn es sich um absolut gleiche Wesen handelt, die immer zur selben Wesenskategorie gehören, welches Kriterium auch immer man gewählt haben mag.

Chaïm Perelman, Über die Gerechtigkeit, S.80 f..

Wer etwas von uns verlangt und sich dabei auf “Gerechtigkeit” beruft, will uns seine Wertentscheidung über das von ihm als wertvoll Proklamierte aufzwingen.

Jede Ideologie, die uns eine allem Menschsein vorgebene, ewig gültige Gerechtigkeit aufgrund absolut zwingender Wertvorstellungen vorgaukeln möchte, ist eine Herrschaftsideologie. Wir sollten skeptisch bleiben bei allen hübsch klingenden Phrasen wie „westliche Wertegemeinschaft“, „feministische Außenpolitik“, “Gendergerechtigkeit” und „sozialer Gerechtigkeit“: Sie eignen sich dazu, unsere eigenen Interessen zu vergessen und nach der Melodie derer zu tanzen, die uns lenken und beherrschen wollen.


[1] Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, 1667, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Hrg.Horst Denzer, Frankfurt/M.1994, S.165, Insel-Verlag 1994.

[2] Ernst von Hippel, Der Rechtsgedanke in der Geschichte, 1955, S.6.

[3] Chaïm Perelman, Über die Gerechtigkeit, bei Beck 1967, S.159.

[4] Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1965, S.62.

[5] Perelmann, S.61.