Das OVG Münster erkennt an, daß die deskriptive Verwendung des ethnischen Volksbegriffs “unverdächtig” ist.

Verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zu verstehen ist nicht jedermanns Sache. Als ich einst als Polizeischüler in Münster auf der Schulbank saß, hieß es von Fachlehrern: Das Verwaltungsrecht ist die Krone des Rechts, und über dem Oberverwaltungsgericht Münster ist für uns Praktiker allenfalls noch der hohe Himmel.

Ob das Urteil gegen die AfD vom 30.5.2024 wegen der VS-Beobachtung im Ergebnis richtig ist, läßt sich ohne Lektüre der noch nicht veröffentlichten Begründung und ohne Kenntnis der dem Gericht vom VS vorgelegten Beweise gar nicht seriös beurteilen. Eines aber ist bereits nach der vorläufigen Presseerklärung des Gericht klar: Unzweifelhaft zieht das OVG keine verfehlten Schlüsse allein aus der Benutzung der Worte „deutsches Volk.“ Keinesfalls zweifelt es dessen Existenz an. Man darf es auch von Rechts wegen lieben, ohne Verfassungsfeind zu sein.

In der Presseerklärung steht:

Verfassungswidrig und mit der Menschenwürde unvereinbar ist nicht die deskriptive Verwendung eines „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“, aber dessen Verknüpfung mit einer politischen Zielsetzung, mit der die rechtliche Gleichheit aller Staatsangehörigen in Frage gestellt wird.

Pressemitteilung des OVG Münster vom 13.5.2024

Wer diesen Satz nur richtig versteht und beachtet, schützt sich und seine Bestrebungen vor jedem falschen Verdacht. Klar und richtig trennt das OVG zwischen deskriptiv und normativ. Wer fürchtete, man dürfe gar nicht mehr vom ethnisch deutschen Volk reden, ohne als Verfassungsfeind verdächtigt zu werden, darf aufatmen.

Die Unterscheidung von deskriptiver Beschreibung einer bloßen Tatsache ist etwas völlig anderes, als aus dieser Tatsache eine normative Forderung abzuleiten. Normativ sind alle Zielsetzungen, die ein Sollen beinhalten. Damit gehört es wirklich zum rechtsstaatlichen kleinen Einmaleins, daß unser Staat keinen Staatsbürger bevorzugen oder benachteiligen darf, weil er nur juristisch, aber nicht ethnisch deutsch ist. Wer also fordern würde, nicht deutsche Staatsbürger sollten geringeres Kindergeld bekommen, verstieße gegen tragende Verfassungsgrundsätze.

Da die angeblichen Belege für solche Verstöße bisher nicht publik sind, kann die Öffentlichkeit noch nicht nachvollziehen, ob in der AfD jemand derartige Forderungen erhebt. Wäre das aber der Fall, dann wäre es unverzeihlich. Es fehlte nämlich nicht an publizierten Warnungen. So hatte ich schon 2020 geschrieben:

Weil vor dem Gesetz alle deutschen Staatsbürger gleich sind, liegt die Verfassungswidrigkeit von Forderungen auf der Hand, Staatsbürger ausländischer Abstammung aus dem Begriff des Staatsvolks ausschließen zu wollen. Diese Absicht hatte das BVerfG aus der Programmatik der NPD herausgelesen und entschied, deren „politisches Konzept ist mit der Garantie der Menschenwürde im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Sie akzeptiert die Würde des Menschen als obersten und zentralen Wert der Verfassung nicht, sondern bekennt sich zum Vorrang einer ethnisch definierten ‘Volksgemeinschaft’. Der von ihr vertretene Volksbegriff negiert den sich aus der Menschenwürde ergebenden Achtungsanspruch der Person und führt zur Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für alle, die nicht der ethnischen ‚Volksgemeinschaft‘ angehören. Ihr Politikkonzept ist auf die Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, Muslimen, Juden und weiteren gesellschaftlichen Gruppen gerichtet.”[1]

Damit wird deutlich, daß das Rechts- und Verfassungsproblem keineswegs darin liegt, das Wort Volk zu benutzen oder die ethnische Identität zu schützen. Es geht dem BVerfG um den Vorrang, den ein ethnisches Volksverständnis in einem Rechtsstaat dem rechtlichen einräumen muß. Das Parteiprogramm der NPD räume genau umgekehrt dem Ethnischen den Vorrang vor dem Rechtlichen ein. Das kann das Recht nicht hinnehmen. Von Rechts und Verfassungs wegen darf die Staatsbürgerschaft nicht durch ethnische Differenzierung relativiert werden. An dieser Rechtsauffassung gibt es nichts politisch Skandalöses oder volkstreue Menschen Diskriminierendes. Sie ist eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit.

Klaus Kunze, Die solidarische Nation, 2020, S.112 f.

Dem war doch eigentlich nichts hinzuzufügen. Ich habe es inhaltlich an vielen Stellen immer wieder geschrieben, und ich war damit nicht der einzige. Sollte jemand, der für die AfD spricht, das etwa bis heute nicht wissen, würde er seiner Verantwortung und seinem Post nicht gerecht. Man darf dem Verfassungsschutz nicht sehenden Augen ins Messer laufen. Man darf auch nicht dem Flugblätterverteilen oder dem Rangeln um einen sicheren Listenplatz zeitliche Priorität davor einräumen, sich erst kundig und danach den Mund aufzumachen.

Dummheit und Unwissenheit schaden erst dann nicht mehr unmittelbar, wenn man in der Regierung sitzt und sich auf die Hofberichterstattung seiner Presse und seiner Staatsmedien verlassen kann. Dann kann man straflos ein um das andere Mal verfassungswidrige Streiche aushecken und abwarten, ob man vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen wird. Im Zweifelsfall hat man dann nicht wissen können, daß man gegen die Verfassung verstoßen hat.

Jeder Lapsus der rechten Opposition ist dagegen unverzeihlich. Erweist sich eine Formulierung als verfassungsrechtlich zweifelhaft, muß man sich dann sofort den Verdacht gefallen lassen, man greife den Verfassungsgrundsatz an sich an. Das ist so ähnlich, als würfe man einem foulenden Fußballer vor, er stelle das Regelwerk des DFB in Frage, wolle neue Spielregeln einführen und die Blutgrätsche erlauben.

Das Publikum wird also abwarten müssen, welches Gewicht die angeblichen Anhaltspunkte haben, die der Verfassungsschutz dem Gericht vorgelegt hat:

Dem Senat liegt eine große Anzahl von gegen Migranten gerichteten Äußerungen vor, mit denen diese auch unabhängig vom Ausmaß ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft systematisch ausgegrenzt werden und trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ihre vollwertige Zugehörigkeit zum deutschen Volk in Frage gestellt wird. Daneben bestehen hinreichende Anhaltspunkte für den Verdacht, daß die AfD Bestrebungen verfolgt, die mit einer Mißachtung der Menschenwürde von Ausländern und Muslimen verbunden sind. In der AfD werden in großem Umfang herabwürdigende Begriffe gegenüber Flüchtlingen und Muslimen verwendet, zum Teil in Verbindung mit konkreten, gegen die gleichberechtigte Religionsausübung von Muslimen gerichteten Forderungen.

Pressemitteilung des OVG Münster vom 13.5.2024

Wenn diese Entscheidung rechtlich falsch ist, dann wegen fehlerhafter Würdigung oder überdehnender Interpretation dieser „Belege“.

Jedenfalls liegt das Urteil nicht auf der Linie des OVG Berlin-Brandenburg, das es geradezu als “Propaganda”, bezeichnet hatte, daß es gebe ethnisch-kulturell verschiedene Völker mit unterscheidbarer Identität gibt (dazu im Detail mein Blogbeitrag vom 11.7.2021). Die Berliner Richter hatten die abwegige Ansicht vertreten, die ” die politische Forderung nach dem Erhalt der ethnokulturellen Identität des deutschen Volkes” sei prinzipiell verfassungsfeindlich:

Das Verwaltungsgericht ist der auf Murswiek (Verfassungsschutz und Demokratie, S. 168 f.) zurückgehenden These, dass die politische Forderung nach dem Erhalt der ethnokulturellen Identität des Deutschen Volkes erst dann verfassungswidrig sei, wenn sie die rechtliche Ausgrenzung und Diskriminierung deutscher Staatsangehöriger anderer ethnischer Zugehörigkeit bedeute, zu Recht nicht gefolgt; denn völkisch-abstammungsmäßige und rassistische Kriterien verstoßen auch dann gegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, wenn sie nicht absolut gelten und es Ausnahmen geben soll (vgl. Senatsbeschlüsse vom 19. Juni 2020 – OVG 1 S 55/20 u.a. – juris Rn. 37 a.E. zur „JA“ sowie vom selben Tage – OVG 1 S 56/20 – juris Rn. 38 zum sog. „Flügel“).

OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juni 2021 – OVG 1 N 96/20 –, Rdn. 13

Das OVG Münster, darauf läßt seine Presseerklärung schließen, sieht das richtig. Es st abzusehen, daß die multikulturell inspirierte Berliner Rechtsansicht und die abweichende Entscheidung des OVG Münster vom Bundesverfassungsgericht miteinander abzugleichen sein werden.


[1] BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 635.