Alles fließt
Es gibt keine objektiv wahren, universell richtigen und absolut gültigen Normen unseres sozialen Zusammenlebens. Sie alle gelten allenfalls relativ zu bestimmten Lebensverhältnissen. Hohepriester und Gralshüter von Ewigkeitsklauseln, Ideologen und Inquisitoren, Richter und Henker der Rechtgläubigkeit, Scharlatane und Einfaltspinsel behaupten das Gegenteil. Sie sind Feinde der Freiheit.
Das ist die Freiheit, sich fort- und weiterzuentwickeln. Ohne sie erlahmt der gesellschaftliche Motor. Kollektive Einstellungen und Verhaltensweisen verändern sich, wenn die Lebensumstände sich verändert haben. Das ist immer der Fall. Eine Zeitenwende ist kein Zeitpunkt, sondern ein Prozeß. Gelegentlich wird er den Zeitgenossen bewußt. Alles fließt. Nur fließt es manchmal so langsam, daß es übersehen wird.
Veränderungen dominanter Ideologien sind ein untrügliches Zeichen, daß ein Veränderungsprozeß weit gediehen ist. Die Alten haben die Lebenserfahrungen ihrer Eltern und Großeltern tief verinnerlicht. Ihre Quintessenz bildet ein kohärentes Bündel sozialer Normen, Werte und Einstellungen. Wenn sie auf Lebensverhältnisse junger Generationen nicht mehr passen, werden sie nicht mehr verstanden, bekämpft und schließlich vergessen.
Solche mentale Evolution beginnt auf individueller Ebene, ergreift ganze Völker und endet potenziell, indem sie sich im Genom verankert.
Leben ist ein informationsgewinnender Prozeß
“Leben ist ein informationsgewinnender Prozeß”, hatte Nobelpreisträger Konrad Lorenz geschrieben. Die Fähigkeit, Informationen zu speichern, ermöglicht ihre Anpassung an geänderte Verhältnisse. Genome speichern Umweltinformationen und spiegeln sie. Wir können aus Flossen rückschließen, daß es Wasser geben muß.
Für den großen Verhaltensforscher Lorenz gab es eine klassische Schlüsselfrage, alle angeborenen Eigenschaften zu verstehen: „Inwiefern dienen sie dem Arterhalt?“ Oft ist die Antwort ganz einfach. Warum zieht es die Geschlechter zueinander: Andernfalls wären wir schon lange ausgestorben.
Das gilt auch für Kulturen und Ideologien. Vom Trauring bis zum Minnelied hat unsere Kultur das zur Arterhaltung Nützliche abgesegnet und geheiligt. Was in einer gegebenen Sachlage optimal funktioniert, verschafft einen Vorteil gegenüber der nachbarlichen Konkurrenz. Wir sind nämlich von Natur aus Kulturwesen. Die kulturelle Adaption des jeweils Notwendigen gehört zu den großartigen menschlichen Fähigkeiten.
Auch in der Frühgeschichte, lange vor den eigentlichen Kulturzeiten, kann man die gesamte Evolution begreifen als jeweils optimales Ergebnis wechselnder Umwelteinflüsse, zu denen auch Nahrungsgrundlagen und Freßfeinde zählen. Die Eigenschaften der Arten passen sich wechselnden Bedingungen an, oder die Arten sterben aus.
Egal, ob es ums Essen geht oder die Aufzucht des Nachwuchses: Die Umgebung lenkt das Verhalten ihrer menschlichen und tierischen Bewohner in dieselbe Richtung. Eine gemeinsame Umwelt bringt in der Evolution von Mensch und Tier ähnliches Verhalten hervor. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die ein Team um den Ökonom Toman Barsbai von der University of Bristol in »Science« veröffentlicht hat. Demnach bestimmen die Umweltbedingungen unter anderem mit, wie Menschen und Tiere ihr Zusammenleben organisieren.
Christiane Gelitz, Menschen verhalten sich ähnlich wie ihre tierischen Nachbarn, Spektrum 15.1.2021.
Die Relativität gilt absolut
Das alles gilt ähnlich für Verhaltensweisen von Mensch und Tier, aber auch einzelner Menschen und ganzer Menschengruppen. Dem Renaissance-Denker Niccolo Machiavelli fiel schon auf: Wer seine Bestrebungen nicht mit den Zeitverhältnissen in Einklang bringt, muß notwendig scheitern. Im heutigen Deutschland ein Königtum von Gottes Gnaden einführen zu wollen, wäre so unmöglich wie ein Parlamentarismus im Zeitalter Friedrich Barbarossas.
Nicht nur an die Umstände seiner Zeit muß jeder sich anpassen oder scheitern, auch an die örtlichen Gegebenheiten. Ein deutscher Pionier im wilden Westen benötigte völlig andere Verhaltensstrategien und Tugenden, als er in seinem friedlichen deutschen Geburtsdorf einst gelernt hatte.
Auch wer sich mit den schütteren historischen Kenntnissen begnügen muß, die ihm das derzeitige Schulsystem vermittelt, braucht sich nur bei ARD oder ZdF in die angeblich 1. Reihe zu setzen: Selbst dort wird er sehen, wie sich in der Ukraine binnen weniger Monate ein friedfertig vor sich hin werkelnder Bevölkerungsmischmasch in eine heroisch kämpfende Nation verwandelte. Vorher waren sie Ukrainer oder Ruthenen, Tataren und Zigeuner, Russen und Russischsprachige. Wie Kaiser Wilhelm nach Ausbruch des 1.Weltkriegs sagte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“, kann heute Selenski als Jude formulieren: „Ich kenne keine Völkerschaften mehr, ich kenne nur noch Ukrainer!“ Unter dem Kanonendonner russischer Geschütze formte sich eine Nation, bildeten sich heroische Tugenden und Opferbereitschaft bis in den Tod.
Die äußeren Umstände hatten sie dazu gemacht. Zu nationalpolitisch bewußten, heroischen Deutschen wurden wir erst nach der Eroberung durch Napoleon, bis die Niederlagen von 1918 und 1945 unser Heldentum physisch und zuletzt psychisch auslöschte. Es hatte sich in einer Welt aus Blut und Eisen herausgebildet als Antwort auf deren Herausforderungen: Kämpft, oder werdet erobert, unterjocht und ausgeplündert!
Friedenszeiten benötigen kein Heldentum. In ihnen kann jeder sich ausruhen, zum Beispiel auch in einer sozialen Hängematte. Im Kriege aber geht es um Leben und Tod, und die ideologischen Parameter verändern sich. Existenzkämpfe haben ihre spezielle Wertordnung, in der das eigene Leben ganz oben steht. Zu diesem eigenen Leben zählen Eltern auch das ihrer Kinder.
Die Geschichte durchdeklinieren
Wir können die gesamte Weltgeschichte so durchdeklinieren und werden immer auf denselben Ursachenzusammenhang stoßen: Durch Klima, Geografie, Nachbarschaft, Bevölkerungszahl und technische Entwicklung bewirken andere Lebensverhältnisse eine Art Schub, auf den eine qualitative Anpassung der kollektiven Ideologie folgt.
Die sinnliche Erfahrung der physischen und sozialen Umwelt geht immer ihrer Deutung als sinnhaft voraus. Erst erleben wir etwas, dann machen wir uns einen Reim darauf. Am Anfang war das Feuer, seine Deutung als von metaphysischem Walten erfüllt schloß sich an. Er mußten der Blitz einschlagen und es donnern, dann erst konnten der blitzschleudernde Zeus und der donnernde Donar erfunden werden. Erst in gemäßigten Breiten gab es Jahreszeiten, Kornanbau und Fruchtfolgen, worauf die wiedererwachende Mutter Natur in unseren Köpfen göttliche Gestalt annahm. Wo Menschen ganzjährig Bananen in den Hals wachsen, die sie nur pflücken müssen, hätten Kulturleistungen wie eine Fruchtbarkeitsreligion nicht gedeihen können.
Für die Germanen hatten ursprünglich Fruchtbarkeitsgötter die größere Rolle gespielt. In den Jahrhunderten der Kämpfe gegen die Römer wurden die kriegerischen Götter wie Ziu (Tyr) und Wotan (Odin) immer wichtiger. Die religiöse Vorstellungswelt paßte sich den Erlebniswelten der Menschen an.
Das frühe Christentum war, aus sozialer Sicht, zunächst eine Religion der Sklaven. Es löste sich vom Judentum mit seinem Sonderbewußtsein, ein von Gott auserwähltes Volk zu sein, deutete das „diesseitige“ Leben als ein Jammertal und versprach „ewiges Heil“ in einem jenseitigen Paradies. Doch „eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel kommt.“ So geht es Menschen immer darum, ihre vorfindlichen Lebensumstände als sinnhaft zu deuten und zu erleben. Ändern diese sich grundlegend verlieren die alten Deutungsmuster ihre Plausibilität und Anhängerschaft.
Ideologien sind Anpassungsleistungen
Der Liberalismus ist ein Kind der Städte und des Handels. In seinen Prämissen stellt er eine geistige Anpassungsleistung an das dem Individuum maximal Nützliche in der städtischen Massengesellschaft dar.
Hier „sammelt sich eine Masse wurzelloser Bevölkerungsteile an, die außerhalb jeder gesellschaftlichen Bindung stehen.“
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918 in zwei Bänden, hier zitiert nach der einbändigen Ausgabe nach dem Druck von 1923, Anaconda-Verlag 2017, ISBN 978-3-7306-0453-3, 2. Band, 4. Kapitel, II., S.1271.
Es ist weitgehend anerkannt, wie sehr weltanschauliche Standpunkte vom gesellschaftlichen Standort einer Person abhängen. Ideologien sind geistige Konstrukte. Bei veränderten Verhältnissen sind sie das Ergebnis geistiger Anpassungsleistungen. Wie wir im Schwimmbad andere Spielregeln benutzen als beim Fußball, mußten sich auch die zwischenmenschlichen Verhaltensregeln im Laufe geschichtlicher Entwicklungen zwangsläufig verändern.
In jeder Ideologie verdichten sich die Verhaltensanforderungen an die Einzelnen und die gesamte Gesellschaft zu strikten Sollensforderungen, zu allgemeinen Verhaltensmaximen. Sie spiegeln in der ideellen Sphäre die realen Funktionsvoraussetzungen einer jeweiligen Gesellschaft.
Im Ergebnis verändert sich die jeweils herrschende Ideologie eines Landes mit der Zeit. Sie kann jahrhundertelang konstant bleiben wie im agrarisch geprägten Mittelalter mit seiner Lehnspyramide. Der Wandel begann in Städten wie Köln: Hier entmachtete das neue Phänomen des städtischen Bürgertums schon im 11. Jahrhundert seine adlige Oberschicht. Es entstand eine neue, städtisch geprägte „Ideologie”, geprägt von Bürgerstolz, Lokalpatriotismus und der Hochschätzung der städtischen „Freiheit”, nur nominell dem Kaiser und Reich verpflichtet: „Halt faß am Rich, do kölsche Boor, et fall söß ov soor!” So ist es heute noch am Eigelsteintor in Köln in Stein gemeißelt.
Jahrhunderte vor den Bauernkriegen waren Stadtbürger bereits „frei”. Es gab gleichzeitig und nebeneinander unterschiedliche gesellschaftliche Spielregeln, weil die materiellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in einer engen Stadt völlig andere sind als auf dem Dorf. Bis heute sind demoskopisch signifikante Unterschiede der politischen Einstellungen in unseren Ballungszentren gegenüber dem „flachen Land” festzustellen: eher urban, fortschrittlich, kosmopolitisch hier, hingegen zäh am Hergebrachten hängend dort.
Seit dem 19. Jahrhundert wuchsen die Städte in Größenordnungen hinein, wie wir sie seit dem alten Rom nicht mehr gekannt hatten. Die Massengesellschaft erforderte die massenhafte Produktion industrieller Güter und ihren stetigen Absatz. Gleichzeitig war diese industrielle Produktion bereits eine Voraussetzung für das sich beschleunigende Wachstum der Städte. Hygiene, Kanalisation und Impfschutz ließen die Kindersterblichkeit drastisch sinken, während die Geburtenrate zunächst hoch blieb.
Von den alten Bauerntugenden zur Bürgerideologie
Es wäre unverständlich, wenn alle diese einschneidenden Veränderungen keine Spuren in der Mentalität bewirkt hätten. Solange einer Bauernfamilie fünf von acht Kindern irgendwann starb, war jedes Kind ein Segen. Wenn in einer Berliner Mietkaserne des 19. Jahrhunderts einer Arbeiterfamilie aber sieben von acht Kindern durchkamen, wandelte sich der Segen zum Fluch der bitteren Armut. Die Eltern wirtschafteten nicht mehr gemeinschaftlich auf ihrem Hof, sondern es ging vielleicht der Mann in die Fabrik, während die Frau sich als Dienstmädchen verdingte.
Der Wert des Zusammenhaltes und das Bewußtsein des hohen Wertes von Familie und Kindern mußten zwangsläufig abnehmen, wenn es ökonomisch und gesellschaftlich nicht belohnt wurde. Jeder Mensch schätzt als wertvoll hoch ein, was in seinem Interesse liegt und seine Bedürfnisse erfüllt. Ein Wertewandel muß sich zwangsläufig immer dann einstellen, wenn sich die Lebensbedingungen grundlegend ändern.
Damit wird der Kausalverlauf deutlich: Geänderte äußere Umstände ziehen Wertewandel nach sich. Dagegen führt nicht umgekehrt ein Wertewandel, von einem klugen Mann in seinem Studierzimmer ersonnen, gradlinig und kausal zu einer Umkrempelung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Von der Scholastik in die Postmoderne
Ein Gedanke kann noch so klug, eine Ideologie noch so brillant ersonnen sein: Wenn die Zeit nicht reif für sie ist, verhallen sie folgenlos im gesellschaftlichen Nichts. Reif ist die Zeit für eine Idee immer dann, wenn stark geänderte Lebensumstände die früher hochgehaltenen Ideale abwerten und überflüssig machen, während neue Maximen funktionabler erscheinen.
In den vergangenen Jahrhunderten versuchte man sich in großartigen, abstrakt ausgeklügelten Weltmodellen und utopischen Entwürfen. Schon die christliche Scholastik war oberhalb des tiefen Fundaments, auf dem ihr Glaube ruhte, in sich eine sehr rational durchdachte Lehre. Der Marxismus als Ersatzreligion gab sich ebenso „wissenschaftlich“: Abgesehen von dem einen oder anderen falschen Axiom und seinen utopischen Phantastereien bemühte er sich, in sich kohärent und rational aufzutreten.
Inzwischen herrscht die noch modernere, die selbsternannte Postmoderne. Sie glaubt nicht mehr an die menschliche Fähigkeit, in einem grandiosen, intellektualistisch ausgekügelten Entwurf „der Wahrheit“ der menschlichen Existenz auf den Grund gehen zu können. Sie verdächtigt die pure Vernunft, nur wieder neue, protototalitäre Universalismen zu erfinden. Darum möchten ihre Anhänger durch die Verfahrenstechnik des immerwährenden Diskurses auf ein für alle hinnehmbares Ergebnis hinarbeiten, eine Art Ersatz für die ausrangierten Glaubensgewißheiten.
Indes wollen solche „Verkünder postmoderner Werte […] nicht recht einsehen, daß ihre angeblich spielerisch-humane Skepsis keine Grundlage zur Regelung menschlichen Zusammenlebens überhaupt und als solchem bilden kann, sondern eine ideologisch sublimierte Projektion von Einstellungen und Mentalitäten darstellt, die für die massenhaft konsumierende und permissive Massendemokratie kennzeichnend sind – vom apolitischen Hedonismus bis zur resignierten Gleichgültigkeit und zur intellektuellen Narrenfreiheit.“
Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, 1991, S.5.
Der mentale Unterschied zwischen bodenständiger Landbevölkerung und oft entwurzelten, sozial atomisierten Stadtmenschen läßt uns die ideologische Kluft zwischen traditionell denkenden und von Staatsversorgung abhängigen Schichten besser verstehen. Die seit Jahrzehnten fortschreitende Liberalisierung aller Lebensbereiche war ökonomisch hocheffizient und produktiv. Sie führte gleichzeitig dazu, daß immer mehr Menschen nicht mithalten konnten und als unproduktiv staatlicher Versorgung anheimfielen. Der soziale Versorgungsstaat bildet die notwendige Unterseite des frei waltenden Kapitalismus.
In ihm orientiert sich ein zunehmender Anteil vor allem der Stadtbevölkerungen an Staatshilfen, wird von ihnen abhängig, wählt entsprechende Parteien und nimmt ideologische Positionen ein, die gleiche Verteilung der verfügbaren Ressourcen und weitestgehende hedonistische Freiheiten fordern.
Konrad Lorenz hatte einst vor einer Verhausschweinung des Menschen gewarnt, abhängig von sozialer Alimentierung, unfähig zu selbständiger Leistung und bar aller sozialen und ethischen Bindungen. Es leuchtet ohne weiteres ein, welche Bevölkerungskreise heute welche Parteien und ihre Galionsfiguren wählen, die idealtypisch für die selbstverschuldete Unmündigkeit des abhängigen Versorgungsempfängers stehen.
Lesen Sie gern hier weiter:
im Kapitel “Ideologien sind Anpassungsleistungen”.
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