Am 6. November 2022 auf einer Anwaltstagung gehaltener Vortrag
2. Genügt die Fähigkeit zur Selbstbestimmung für “Würde”?. 4
4. Methodologischer Individualismus. 7
5. Ideologische Uminterpretation. 7
6. Versorgung aus der Wundertüte. 9
Die Menschenwürde fungiert heute als verfassungsrechtliche Wundertüte. Unsere obersten Verfassungshüter entnehmen ihr, was immer von der Politik nachgefragt wird und ideologisch jeweils erwünscht ist. Sie bildet die Einbruchstelle eines rechtsphilosophischen Ladenhüters in unser positives Recht: des Naturrechts. Dieses wiederum enthält beliebige Inhalte je nach ideologischer Haltung des Naturrechtlers. Es bildet das Gängelband, an dem man uns führt.
Der Verfassungsrechtler Duttge formulierte 2007,
die Menschenwürde als solche gelte inzwischen vielen »als mehr oder minder ausfüllbare Leerformel[1] mit gefährlich expansiven Zügen – eine Wanderdüne ohne Halt«, bedeutend und wohlklingend, als »Opium fürs Volk«[2] schnell in aller Munde, tatsächlich aber ohne greifbaren Sinngehalt, in Wahrheit eine »terra incognita«.[3]
Die unantastbare Menschenwürde zu achten und zu schützen sei oberste Aufgabe aller staatlichen Gewalt, gilt heute als Zentralnorm, aus der man alles weitere deduziert. Sie bildet das oberste Konstruktionsprinzip der Rechtsordnung.[4] Technisch gesehen enthält sie ein Verbot, die Menschenwürde nämlich staatlich nicht anzutasten, und ein Gebot, sie nämlich durch aktives staatlichen Handeln zu schützen.
Dieses Prinzip, die Fundamentalnorm unserer Verfassung, ist in ihrem materiellen Kern Religion, wie ich aufzeigen werde. Sie leidet unter dem handgreiflichen Widerspruch in sich, soweit als Gebot der Menschenwürde gilt, nicht zu einem Glauben gezwungen werden zu dürfen. Gleichwohl leiten Gerichte, vor allem der BGH und das BVerfG, verbindliche Rechtsfolgen aus ihr ab, was wir nämlich nicht öffentlich sagen dürfen. Zu solchem Unterlassen werden wir gezwungen, auch wenn wir das Gegenteil davon glauben oder für richtig halten. So ist jedem Bürger bei Meidung von Strafe nach § 130 StGB verboten, sich in einer Weise öffentlich zu äußern, die nach richterlicher Ansicht den nicht abwägungsfähigen Kernbereich der Menschenwürde einer Bevölkerungsgruppe verletzt, auch wenn der Bürger an eine Menschenwürde im religiösen Sinne gar nicht glaubt. Hier ist dem gesetzlichen Tatbestand der religiöse Kern bereits eingebaut.
Ein weiterer Widerspruch besteht zum Rechtsstaatsprinzip und seiner Forderung nach Normenklarheit. Eine Staatsfundamentalnorm, die im Kern Religion ist und deren Auslegung darum je nach religiöser oder ideologischer Haltung schwankt, kann keine Normenklarheit schaffen. Sie genügt ebensowenig rechtsstaatlichen Maßstäben wie eine Rechtsordnung, die zwar in sich konsistent ist, deren oberstes Prinzip aber zum Beispiel der Wille Allahs ist, wie Mohammed ihn verkündet hat. Solche Staaten legen alle weltlichen Gesetze in letzter Konsequenz theologisch aus, indem sie die unbestimmten Rechtsbegriffe im Zweifel „im Lichte der wertsetzenden Bedeutung“, so unsere ständige Rechtsprechung, der Menschenwürde auslegen. Über die Auslegung letzter, nicht hinterfragbarer Glaubenssätze entscheiden im Iran Mullahs und in Deutschland Bundesverfassungsrichter.
Wenn es im gesetzten Recht heißt (Art.1 GG),
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.,
wird die Paradoxie offen deutlich: Das Bekenntnis der angeblichen Verantwortung vor Gott und das Bekenntnis zu vorstaatlichen, also universellen und absoluten Menschenrechten ist ein klarer Nachweis der religiösen Grundlage, denn zu bloß von Menschem gesetztem positiven Recht „bekennt“ man sich nicht. Nun hätte man die frommen Sprüche als zeitgeistbedingt abtun und zur Tagesordnung der Rechtsanwendung übergehen können. Das Gegenteil ist aber der Fall. Immer engmaschiger und doktrinärer webt das BVerfG aus der Menschenwürde ein zutiefst ideologisches Richterrecht. Es besagt grundsätzlich formuliert:
Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 87, 209 <228>; 96, 375 <398>; 109, 133 <149>). Mit der Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen geschützt, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 45, 187 <228>; 109, 133 <149 f.>). Menschenwürde in diesem Sinne ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch “unwürdiges” Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>; 109, 133 <150>).
BVerfG, Beschluß vom 20. Juni 2012 – 2 BvR 1048/11 –, BVerfGE 131, 268-316, Rn. 70
1. Naturrecht
Dieses Richterrecht beruht auf Naturrecht. Es unterscheidet sich vom positiven, dem staatlich gesetzten Recht durch seine Behauptung, vorrechtlich zu sein. Es gelte absolut und universell selbst dann, wenn es durch keinen Gesetzgeber gesetzt, also nicht positiviert sei.
Anfang des 20. Jahrhunderts war das Naturrecht in der Rechtswissenschaft scheintot und wurde kaum noch vertreten. Herrschend war der Rechtspositivismus: Recht ist, was im Gesetz steht, punktum. Um post festum aber Gesetze wie manche aus dem 3.Reich oder der DDR zu Nichtrecht erklären zu können, nutzte man die Radbruch’sche Formel. Gustav Radbruch war in der Weimarer Zeit gemäßigter Rechtspositivist gewesen,[5] nach 1945 aber metaphysisch geläutert und bekannte sich dann zum Naturrecht.[6]
Der Radbruch’schen Formel zufolge hat sich ein Richter bei einem Konflikt zwischen dem positiven (gesetzten) Recht und der “Gerechtigkeit” immer dann – und nur dann – gegen das Gesetz und stattdessen für die “materielle Gerechtigkeit” zu entscheiden, wenn das fragliche Gesetz als „unerträglich ungerecht“ anzusehen ist oder die im Begriff des Rechts angeblich grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten „bewußt verleugnet“.[7] Wie wir sehen, stecken wir damit bereits tief im religiösen und damit metaphysischen Sumpf. Was nämlich konkret als unerträglich ungerecht gilt oder den Glaubensgegenstand der angeblich im Begriff des Rechts angelegten Gleichheit aller Menschen verletzt, läßt sich ohne religiöses oder sonst metaphysisches Vorurteil nicht feststellen.
Die Radbruch’sche Formel wird heute ohne weiteres von den Instanzgerichten angewandt.[8] Seit 1953 gilt mit dem BVerfG:
Ihr Ausnahmecharakter steht außer Zweifel und kommt zum Beispiel in der vorsichtigen Formulierung zum Ausdruck, die Radbruch in seinem Aufsatz “Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht”[9] wählt, wenn es dort (S. 353) heißt: “Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als “unrichtiges Recht” der Gerechtigkeit zu weichen hat.”[10]
Den Anknüpfungspunkt für solche Erwägungen bietet gewöhnlich die begrifflich nicht greifbare Menschenwürde, ein geistiges Spätprodukt der Naturrechtslehre. Was nun ist Naturrecht? Einer der ersten BGH-Präsidenten, Hermann Weinkauff, erkannte es als Grundlage unseres Verfassungsrechts und formulierte:
Nach naturrechtlicher Auffassung sind die äußeren, die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander, zu den Dingen und zu den grundlegenden gesellschaftlichen Einrichtungen durch eine letzte, objektive, aus sich selbst heraus geltende, in ihren Umrissen erschaubare, rechtliche Geordnetheit gekennzeichnet. Es handelt sich um einen Bereich objektiven rechtlichen Sollens, der einer vorgegebenen Ordnung der Werte entspricht, der mit dem Anspruch auf schlechthinige Verbindlichkeit auftritt, der den positiven Rechtsordnungen, die sich in seinem Rahmen halten, erst ihre innere Verbindlichkeit verleiht und der positive Rechtsnormen, die ihm grob widersprechen, ihrer rechtlichen Geltung entkleidet. [11]
Dieser angebliche Bereich einer letzten, objektiven Weltordnung ist klassische Metaphysik. Das geben ihre Vertreter auch offen zu. So formulierte Christian Starck
Eine metaphysische Grundlage der Menschenwürde bedeutet in ihrem rechtlichen Kern eine letzte Sicherung des Menschen vor einer toalen Verfügung durch staatliche oder gesellschaftliche Mächte.[12]
Die metaphysisch fundierte Menschenwürde ist der Schlüsselbegriff für das Verhältnis des Menschen zum Staat. Das Verhältnis des Staates zur Metaphysik ist ambivalent. Der Staat muß die metaphysische Dimension des Menschen durch die Rechtsordnung achten und schützen. Darüber hinaus hat der Staat nichts mit Metaphysik zu tun, insbesondere darf er weder Glauben noch Metaphysik zur Pflicht machen, noch sich selbst unmittelbar metaphysisch begründen.[13]
Philosophiegeschichtlich war Metaphysik erst als Transzendenzmetaphysik in Erscheinung getreten, in der Neuzeit dann als Immanenzmetaphysik. Man hatte eine universelle Geltung moralischer Grundsätze ursprünglich damit begründet, in einem transzendenten Jenseits wohne ein Gott, der die Geltung moralischer Gebote befiehlt. Als die geistige Entwicklung fortschritt und die Idee eines moralischen alten Herrn auf einem Himmelsthron unter gebildeten Menschen nur noch peinliche Verlegenheit hervorrief, mußte die Moral aber unbedingt gerettet werden, denn der Vorwurf des Amoralismus wog in der frühen Neuzeit noch schwer. So verlegte man sich auf den genialen Trick: Moral wird uns nicht aus einem transzendenten Jenseits geboten, sondern steckt in jedem Menschen immanent drin, denn Gott habe den Menschen bereits mit quasi eingebauter Moral geschaffen.
Naturrechtler verlegten damit diejenigen moralischen Qualitäten als angeborene Eigenschaften in den Menschen, um sie bei Bedarf als Sollensnormen wieder aus ihm hervorzuzaubern: „Der Mensch ist von Natur aus moralisch gut, also sollst du ein moralisch guter Menschen sein!”
Das Naturrecht erfordert also einerseits den Glauben an einen Gott als Schöpfer des qua Geburt moralischen Menschen und zweitens den Glauben eben daran, daß die Moral zu seinem Wesen gehört. Der Naturrechtler Samuel von Pufendorf 1673 formulierte:
„Das Wesen des Naturrechts […] erkennt man am besten aufgrund einer sorgfältigen Erforschung von Natur und Veranlagung des Menschen.“[14]
Zu dieser Natur gehört nach Pufendorf sein Verstand:
Es gereichnet zur größesten Würde des Menschen, daß er eine unsterbliche Seele hat, welche mit dem Liechte des Verstandes und mit dem Vermögen alle Sachen wohl zu unterscheiden und das Gute zu erwehlen, ja mit einer vortrefflichen Geschicklichkeit alle Künste und Wissenschaft zu erforschen begabet ist.[15]
Wer das Naturrecht als ohne Gott bestehend auffaßt und ein Gesetz ohne Gesetzgeber annimmt, schneidet ihm nach Meinung von Heineccius, 1737, den Lebensnerv durch.[16] Bis heute steht hinter allem Naturrecht bis hinein in Urteile der höchsten Bundesgerichte nach dem Eingeständnis des ersten BGH-Präsidenten “unausgesprochen die Vorstellung, das schlechthin Verbindliche der Ordnung der Werte und des daraus entspringenden naturrechtlichen Sollens beruhe auf göttlicher Setzung.”[17] Jede Rechtsnorm bedarf einer Rechtsquelle. Bei staatlichen Gesetzen ist das der Gesetzgebungsakt des legitimen Gesetzgebers. Im Naturrecht ist es Gott, der „den Menschen“ mit eben dieser Natur geschaffen habe, auf deren Boden die moralischen Pflichten wachsen. Völlig ohne Rechtsquelle geht es aber nicht, wenn man nicht im Zirkelschluß enden will: Etwas „solle“ so sein, weil es „so ist“.
Norbert Hörster spottete über den metaphysisch beflügelten Christian Starck:
Was Starck […][18] über die metaphysischen und religiösen Grundlagen der Menschenwürde schreibt, besteht großenteils aus unbegründeten Behauptungen (z.B. „Ohne Metaphysik wäre der Mensch restlos der überlegenen staatlichen Macht ausgeliefert.“) und leeren Worten (z.B. „Das Recht, das hic et nunc mit dem Menschn zu tun hat, muß das Unergründliche des Menschen in Betracht ziehen, also das Fenster zur Metaphysik offenhalten.“).[19]
Während der Metaphysiker Starck sich von Religion und Metaphysik die Rettung der Menschenwürde verspricht, lehrt uns historische Erfahrung, daß die schlimmsten Greueltaten nicht von den Menschen begangen worden sind, die mit höheren Mächten nichts zu tun hatten. Die grauenhaftesten Taten wurden gerade von Fanatikern begangen, deren religiöses oder sonst metaphysisches Sendungsbewußtsein sie mit gutem Gewissen tun ließ, was sie – ohne Metaphysik – allenfalls mit schlechtem getan hätten.
2. Genügt die Fähigkeit zur Selbstbestimmung für “Würde”?
Unter den Begriff Menschenwürde ist nach Ernst Forsthoff nichts subsumierbar.[20] Der einzige deskriptive Inhalt der Menschenwürde besteht darin, daß Menschen prinzipiell zur Selbstbestimmung fähig sind. Doch geht die herrschende Lehre heute viel weiter und billigt Menschenwürde auch Menschen oder werdenden Menschen zu, die das empirisch nicht mehr oder noch nicht können. Tieren hingegen spricht man generell die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ab, was bei heutigen Biologen heftigs Stirnrunzeln hervorruft.
Den geistigen Urvätern des Konstruktes “Menschenwürde” in der Renaissance fiel überhaupt nicht ein, jeder Hans und Franz habe eine Würde. Pico della Mirandola wußte 1496 nur zu gut, daß mancher,
„gelockt von den Verführungen der Wollust, als Sklave seiner Sinne lebt.“ Wer so lebt, „ist nur ein Tier kein Mensch.“[21]
Sich für ein Leben in moralischer Würde zu entscheiden, war für Pico della Mirandola 1496 aber nur eine Option, die jeder auch ablehnen kann. Dann hat er eben keine Würde.
Wir sind geboren worden unter der Bedingung, daß wir das sein sollen, was wir sein wollen. Darum muß unsere Sorge vornehmlich darauf gerichtet sein, daß man uns jedenfalls nicht nachsagen kann, wir hätten, als wir im Ansehen standen, keinen Verstand gezeigt, dem Vieh und vernunftlosen Tieren ähnlich. Vielmehr soll jener Ausspruch des Propheten Asaph für uns gelten: ‚Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle‘[22], damit wir nicht den freien Willen, den er uns verliehen hat, mißbrauchen und ihn gebrauchen statt zu unserem Heil, zu unserem Schaden.[23]
Die heute herrschende Lehre begründet die besondere menschliche Würde mit der Entscheidungsfreiheit des Menschen als sogenanntem sittlichen Wesen, selbst dann, wenn er ein unsittlicher Mensch mit geistigen Defiziten ist, die ihm keine Entscheidungsfreiheit lassen. Sie verbindet die Würde mit der christlichen Gottesebenbildlichkeit, denn wenn ein Gott Würde aufweise und den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, gehöre zu dieser Ebenbildlichkeit auch seine göttliche Würde. Diesen Gedankengang bezeichnet der ehemalige BVerfG-Richter Udo di Fabio zu Recht als Gotteslästerung.[24]
Mirandola war dabei aber gerade nicht der Meinung, die Würde folge schon aus der Willensfreiheit. Er sah sie erst als Konsequenz der richtigen, Entscheidung, nämlich für das moralisch Gute: Er legt Gott die an Adam gerichteten Worte in den Mund: „Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.“[25]
Es bedurfte darum eines Paradigmenwechsels, um auch den notorisch Unmoralischen zu einem Subjekt der Menschenwürde erklären zu können mit dem Satz: Nicht erst die moralisch richtige Entscheidung begründet die Würde, sondern allein die Eigenschaft, Mensch zu sein. Damit sind wir bei Kant, auf den sich die grundgesetzliche Interpretation der Menschenwürde maßgeblich stützt.
3. Kants Objektformel
Das Bundesverfassungsgericht war 1959 dem Verfassungsrechtler Dürig gefolgt[26] und hatte zur Konkretisierung der Menschenwürde auf christliche Vorstellung der dignitas[27] und die Moralphilosophie Kants zurückgegriffen:
„Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. …
Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“(GdMdS, 1785)[28]
Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.
So weit Kant, den hier sein Scharfsinn leider verlassen hatte. Tatsächlich gibt es einen Wert an sich ebensowenig wie eine Würde an sich oder irgend ein anderes Ding an sich. Bewerten ist eine Tätigkeit, die ein bewertendes Subjekt und ein bewertetes Objekt voraussetzt. Es gebe etwas über allen Preis Erhabenes ist typische Metaphysik. Werte stecken immer nur in den Köpfen der Bewerter, niemals in den bewerteten Objekten. Dagegen folgt das BVerfG Kant mit den Worten:
Es widerspricht daher der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen (vgl BVerfGE 27, 1 (6) mwN). Der Satz, “der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben”, gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.
BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 – 1 BvL 14/76 –, BVerfGE 45, 187-271, Rn. 145
Gegen Kant hatte schon Schopenhauer eingewendet, daß diese Objektformel in der praktischen Anwendung inhaltleer ist:
Aber dieser von allen Kantianern so unermüdlich nachgesprochene Satz, »man dürfe den Menschen immer nur als Zweck, nie als Mittel behandeln«, ist zwar ein bedeutend klingender und daher für alle die, welche gern eine Formel haben mögen, die sie alles fernern Denkens überhebt, überaus geeigneter Satz; aber beim Lichte betrachtet ist es ein höchst vager, unbestimmter, seine Absicht ganz indirekt erreichender Ausspruch, der für jeden Fall seiner Anwendung erst besonderer Erklärung, Bestimmung und Modifikation bedarf, so allgemein genommen aber ungenügend, wenig sagend und noch dazu problematisch ist.[29]
Schopenhauer wandte ergänzend ein, daß dann die Abschreckungswirkung einer Kriminalstrafe als Strafzweck ausscheiden müßte, weil der Verurteilte hierbei als bloßes Mittel oder Objekt gebraucht werde.
Die rechtsphilosophische Kritik hat sich vielfach den Überlegungen angeschlossen, daß die moralisierende Formel Kants juristisch unbrauchbar ist. Horst Dreyer meint, Kants Formel sei
nicht ohne weiteres von der Sittenlehre in die Rechtsphilosophie übertragbar; in der juristischen Auslegung sollte man sich von einer philosophischen Schule lösen; Kants Begriff von Würde kann gar nicht verletzt werden, da er von empirischen Momenten frei sei.[30]
Nach Meinung von Norbert Hörster ist der Würdebegriff eine Leerformel, die nur durch persönliches, moralisches Werturteil gefüllt werden kann; an.[31] Der Verfassungsbegriff der Menschenwürde sei darum ohne moralisches Werturteil gar nicht anwendbar, anders als Begriffe wie Leben und körperliche Unversehrtheit.
Auch Herdegen merkte zu Kant an, „daß die Anerkennung des hohen Werts sittlicher Eigenverantwortung und die darauf gegründete Würde keinen zuverlässigen Maßstab liefern, um die Grenzen staatlicher Zumutung an die Selbstbestimmung des Einzelnen zu bestimmen.[32] Und der Philosoph Franz Josef Wetz schreibt über Kant.
Sein vernunftphilosophisches Würdekonzept bleibt ein nicht allgemeingültiges metaphysisches Relikt, das noch von religiös-christlichen Vorstellungen zehrt, ohne diese beim Namen zu nennen und ausdrücklich zu verteidigen. Es ist ein „Säkularisat“ des christlich-metaphysischen Menschenbilds und als solches verkappt weltanschaulich imprägniert.[33]
4. Methodologischer Individualismus
Der geistesgeschichtliche Rückgriff des BVerfG auf Kants Formel, keinen Menschen als bloßes Mittel zum Zweck zu benutzten, kam nicht von ungefähr. Das Grundgesetz ist rechtlicher Ausdruck eines extremen philosophischen Individualismus. Damit ist kein emotionales Gefühl gemeint, sondern es geht um einen methodologischen Individualismus. Dieser besteht darauf, daß nur Individuen real seien, keine Personengesamtheiten. Ein Volk kann er sich nicht anders vorstellen als eine Ansammlung Einzelner, niemals aber als eigenständige Entität oder Wesenheit, die als solche eigenen Gesetzlichkeiten unterliegt.
Wenn ein Staat aber nach dieser liberalen Ideologie nur die Summe von Einzelnen ist und nicht mehr als die Summe seiner menschlichen Teile, darf man sich keine menschliche Person als für den Staat existierend vorstellen. Es gilt nach unserem Grundgesetz immer das Gegenteil: Der Staat ist für das Individuum da, nie aber der Bürger für den Staat. Das hat erhebliche Konsequenzen, die alle an der Vorstellung von Menschenwürde andocken.
So entschied das BVerfG[34], § 14 des vorgesehenen Luftsicherheitsgesetzes sei verfassungswidrig. Er hatte vorgesehen, die Luftwaffe dürfe ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abschießen, wenn es zum Beispiel im Anflug auf ein voll besetztes Fußballstadion sei. Die entführten Passagiere würden dadurch zum bloßen Objekt gemacht und deshalb ihrer Menschenwürde beraubt.
LuftSiG § 14 Abs 3 steht darüber hinaus auch im Hinblick auf die Menschenwürdegarantie des GG Art 1 Abs 1 auch materiell mit GG Art 2 Abs 2 S 1 nicht in Einklang, soweit er es den Streitkräften gestattet, Luftfahrzeuge abzuschießen, in denen sich Menschen als Opfer eines Angriffs auf die Sicherheit des Luftverkehrs befinden.
BVerfG, Urteil vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05 –, BVerfGE 115, 118-166
aa. Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des LuftSiG § 14 Abs 3 greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer . Eine solche Behandlung mißachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten . Sie werden dadurch, daß ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht.
Otto Depenheuer kommentiert das mit den Worten:
Da ein Abschuß aber verfassungsrechtlich verboten ist, bleibt den Terroristen volle Tatherrschaft und dem Staat nur ohnmächtiges Beobachten der sich anbahnenden Katastrophe. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde wird derart zum absoluten Reflexions- und Handlungsstopp staatlicher Selbstbehauptung. Steht die Menschenwürde auf dem Spiel, so hat der Staat nach Auffassung des Gerichts sein Recht auf Selbstbehauptung verfassungsrechtlich verloren, muß sich seiner grundrechtlichen Schutzpflicht entledigen und das Lebensrisiko seiner Bürger in einer Situation privatisieren, in der diese seiner Sorge am meisten bedürfen: Fiat iustitia, pereant homines![35]
5. Ideologische Uminterpretation
Zu Problemen bei der Anwendung einer Verfassung kommt es unweigerlich, wo ihr Wortlaut schweigt oder vieldeutig ist. Das ist schon bei unbestimmten Rechtsbegriffen der Fall und erst recht bei unbestimmbaren Begriffen aus Religion und Metaphysik. Je nach Laune kann man alles und jedes in sie hineininterpretieren. Das geschieht auch durch jeweils den, der die Macht dazu hat.
Die Bundestagsdrucksache 12/6000 vom 5.11.1993 enthält den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission. Dort finden wir bundestagsamtlich den offenherzigen Satz:
“Probleme der Verfassung und der Verfassungsreform sind letztlich politische Machtfragen.”[36]
Einer dieser Mächtigen war der Mainzer Ordinarius Friedhelm Hufen, als er 2008-2016 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz war. Er vertritt die Theorie, daß die „in einer bestimmten historischen Situaton formulierte Menschenwürdegarantie […] nicht auf dem Stand von 1949 zu fixieren sei, sondern „sich, wie alles Verfassungsrecht, aufgrund neuer Herrschaftsformen fortentwickeln müsse.“ [37]
Hufen ist mir einmal als Prozeßgegner in einem Verfahren Republikaner ./. Rheinland-Pfalz begegnet: Es komme darauf an, schrieb er dort,
“normative Begriffe wie freiheitliche demokratische Grundordnung und Menschenwürde nicht statisch zu interpretieren.”[38]
Seiner Ansicht nach müsse man heute alles in diese Begriffe hineininterpretieren, was für das friedliche Zusammenleben von Menschen in einer multikulturellen Gesellschaft notwendig sei;
„Den sozialen Hintergrund bildet die heutige Verfassungswirklichkeit, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen und Rassen, gegensätzlicher Auffassungen und Werte friedlich zusammenleben. Gerade das republikanische Prinzip des Artikel 20 GG sowie die Achtung vor den Menschenrechten macht diese heutige Bedeutung der ‚freiheitlichen demokratischen Grundordnung‘ verständlich. […] Die explizite Absage an das Zusammenleben von Kulturen, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz gefährden insofern die freiheitliche demokratische Grundordnung unter heutigen Bedingungen“[39]
So tauschte man eine „frühere Bedeutung“ der FdGO und ihrer Zentralnorm flugs gegen eine angebliche heutige aus und erklärte Gegner des Multikulturalismus zu Verfassungsfeinden. Der Wortlaut der unter Ewigkeitsgarantie stehenden Norm bleibt, ihr Sinn aber wurde geändert. Damit bedient man sich derselben Methodik wie der NS-Staat, der „die Weimarer Reichsverfassung zwar nicht formell, aber faktisch“ außer Kraft gesetzt hatte. „Eine neue ungeschriebene politische Grundordnung des Reiches« wurde zur Verfassung, womit im wesentlichen das Parteiprogramm der NSDAP gemeint war.“[40] Auch der Verfassung der DDR war die Staatsideologie der herrschenden Sozialisten eingebrannt, und ganz offen folgte ihr (am 7.10.1949) ein Gesetz über den Staatssicherheitsdienst auf dem Fuße. Heute ist es die jeweils herrschenden Programmatik der jeweils regierenden Parteien, die dem Grundgesetz untergeschoben wird.
In dieser Methode liegt ein Abschied von der Fiktion der unverbrüchlichen “Herrschaft des Gesetzes”. Wer das Gesetz durch einen Vorbehalt wechselnder ideologischer Auslegungen relativiert, verändert die Natur des politischen Konflikts: Er wird nicht mehr mit rechtlichen, sondern mit ideologischen Waffen ausgetragen.[41] Es ist auch undemokratisch, weil die vorgesehenen demokratischen Prozeduren für Verfassungsänderungen nicht durch Uminterpretation umgangen werden dürfen.
Peter Graf Kielmannsegg warnte im „Cicero“ von Oktober 2022 vor dieser zunehmenden normativen Aufladung des GG:
Die „Tendenz, immer mehr normative Substanz in die Verfassung hineinzuinterpretieren“, verändere deren Wesen. Ursprünglich habe sie vom Bürger nur gefordert, „Regeln des Zusammenlebens“ zu respektieren. Der „Kampf gegen Rechts“ habe das Grundgesetz hingegen zu einem „Bekenntnistext“ gemacht und fordere vom Bürger, „sich zur Verfassung als einem Kodex von Werten bekennen“. Loyalität gegenüber der Verfassung werde damit „zu einer Sache nicht des Verhaltens, sondern der Gesinnung“ und das Gemeinwesen zu einer pseudoreligiösen „Glaubens- und Bekenntnisgemeinschaft“, welche die Menschen ausgrenze, die linksutopischen Ideologien nicht folgten.[42]
Es gilt dann neben dem geschriebenen Gesetzeswortlaut ungeschrieben alles Metaphysische, was hineininterpretiert wird. Einfallstor für diese normative Aufladung ist die Denkfigur der Menschenwürde, zu der alle sich bekennen sollen. Weil die Menschenwürde zur Blankettformel für ideologische Beliebigkeit je nach Gusto des angeblichen Zeitgeistes verwendbar ist, macht es dann keine Mühe, mit Christian Starck zu formulieren:
Die Menschenwürde verlangt weiter, daß Reden und Schreiben, welches die Würde anderer Menschen verletzt, verboten und strafrechtlich sanktioniert wird.[43]
So wird ein Maulkorb für freies Reden und Schreiben, das selbst für ein menschenwürdiges Dasein erforderlich sein dürfte, gegen dieses würdige Dasein selbst gewendet. Wenn nämlich etwas zum Kern menschlicher Würde gehören dürfte, dann die geistige Äußerungsfreiheit unabhängig von zeitgeistigen Uminterpretationen der jeweils Herrschenden. Was nämlich Klassenhetze als Straftatbestand im 3. Reich war, staatsfeindliche Hetze in der DDR oder Volksverhetzung heute, hängt nicht von normenklaren Begriffen ab, sondern beruht letztlich auf weltanschaulicher Willkür.
„Es ist nicht mehr und nicht weniger als das Vehikel einer moralischen Entscheidung über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit möglicher Formen der Einschränkung individueller Selbstbestimmung“[44] und greift insoweit selbst in die moralische Entscheidungsfeiheit ein, die als Bestandteil der Würde doch eigentlich unantastbar sein sollte.
6. Versorgung aus der Wundertüte
Wie sehr das von den jeweils Herrschenden ideologisch Gewünschte aus der Wundertüte der Menschenwürde hervorgezaubert werden kann, zeigt sich auch an der Rechtsprechung des BVerfG zur „Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“. Daß dieses Minimum gewährleistet werden muß, ergibt sich schon aus dem Verfassungsgrundsatz des Sozialstaatsprinzips und ist richtig. Wir wollen alle nicht in einem Staat leben, in denen auf der Straße Bettler verhungern.
Das BVerfG hängt die Sache aber eine Etage höher an der Menschenwürde auf und gelangt durch weiterführende Interpretation zu Ansprüchen bis hin zur Teilhabe am kulturellen Leben:
1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerläßlich sind.
2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muß eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.[45]
Doch ist das Haben konsumierbarer Güter wirklich notwendig, um menschliche Würde zu haben? Der Philosoph Panajotis Kondylis verneinte das:
Die These, menschliche Würde oder Selbstentfaltung müsse unter den Bedingungen materieller Entbehrungen leiden, konnte auf der Basis christlich-asketischer Grundsätze nicht ohne weiteres einleuchten und kommt in concreto der Auffassung gleich, der Einzelne solle zum Konsum von Waren fähig sein, um als ganzer Mensch gelten zu dürfen.[46]
Das BVerfG gibt darum zu:
Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben (vgl. BVerfGE 107, 275 <284>). Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 91, 93 <111 f.>). Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen (vgl. BVerfGE 115, 118 <153>).[47]
Es bestätigt damit indirekt, wie sehr die Interpretation von Menschenwürde „von den gesellschaftlichen Anschauungen“ abhängt, mit anderen Worten: eine von Ideologie auszufüllende Leerformel ist. Sie mit einer Wertung zu füllen, darf in einem Rechtsstaat nicht einer in Parteiproporz ausgekungelten Richterrunde überlassen bleiben, sondern muß vom Gesetzgeber selbst, wie etwa durch das Folterverbot geschehen, geregelt werden. Aus liberaler Sicht merkt Franz Josef Wetz an:
Eine religiös-metaphysische Verankerung der Menschenwürde steht darüber hinaus im Widerspruch zur verfassungsmäßig garantierten Neutralität unseres liberalen Gemeinwesens, wie sie durch die Artikel 3, 4, 33 und 140 verbürgt wird. Die religiöse Würdeauffassung überträgt auf den Menschen weltanschauliche Bestimmungen, die nicht verallgemeinerungsfähig sind und in einem liberalen Staat mit offener Gesellschaft niemandem aufgezwungen werden dürfen.[48]
Der GG-Kommentator Herdegen fordert als Konsequenz aller vorstehender Überlegungen:
Für die staatsrechtliche Betrachtung sind demnach allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich. Wer dies bestreitet, kann nur das Hohepriestertum seiner persönlichen Ethik und deren Überzeugungskraft in der Gemeinschaft der Würdeinterpreten setzen. Verfassungsauslegung mit prognostizierbaren Ergebnissen läßt sich so nur in einer religiös und weltanschaulich homogenen Gemeinschaft erreichen – oder mit Intoleranz gegenüber allen, denen der rechte Zugang zu Gewißheiten einer überpositiven Werteordnung versagt ist.[49]
Rechtstechnisch wäre dem voll zuzustimmen. Das unlösbare Dilemma besteht aber darin, daß die Verfassungsgeber uns mit der Menschenwürde ein Kuckucksei ins Nest gelegt haben, aus dem eine Chimäre schlüpfte: Ein unbestimmter Begriff ohne subsumtionsfähigen Inhalt, verständlich nur unter Hinzuziehung theologischer Dogmen und metaphysischer Spekulationen.
[1] Anm. von Duttge: In diesem Sinne bereits Schopenhauer, Preisschrift über die Gundlage der Moral, 1840, in: sämtliche Werke (hrg. Löhneysen, Bd.III, Kleinere Schriften, S.629,695: „hohle Hyperbel“…
[2] Anm. Duttge: [Franz Josef] Wetz, in: [Matthias] Kettner S.221 ff., 227: „spielt Menschenwürde in der Diskussion oft die Rolle einer benebelnden Droge.“
[3] Gunnar Duttge, Der Embryo: Ein „Niemand“?, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 5, 2007, 76 (78).
[4] Maunz-Dürig-Herzog, Bearbeiter Herdegen, 5 zu Art.1 I GG.
[5] Vgl. i.e. Ulfrid Neumann, Naturrecht und Positivismus im Denken Gustav Radbruchs, S.13 f., in: W.Härle/B.Vogel (Hrsg.), „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts, 2007, S. 11-32.
[6] Gustav Radbruch,´Der Relativismus in der Rechtsphilosophie, in: Gesamtausgabe (GRGA), Hrg.A.Kaufmann, Bd.3, Heidelberg 1990, S.22.
[7] Gustav Radbruch, a.a.O., S.89.
[8] Z.B.OLG Zweibrücken, Urteil vom 30. Juni 2022 – 4 U 2020/21 –, Rn. 41.
[9] Anm. des BVerfG; “(abgedruckt in Radbruchs “Rechtsphilosophie”, 4. Aufl. 1950, S. 347 ff.)”
[10] BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1953 – 1 BvL 106/53 –, BVerfGE 3, 225-248, Rn. 20.
[11] Hermann Weinkauff in der NJW 1960, 1689 (1690).
[12] Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, Juristenzeitung (JZ) 1981, 457-464, 458..
[13] Starck a.a.O., S.463 f.
[14] Samuel von Pufendorf, De officio hominis et civis juxta legem naturalem, 1673, Über die Pflicht des Menschen Hrg.Maier/Stolleis, Frankf. 1994, S.45.
[15] Samuel von Pufendorf, De jure naturae et gentium, lib. 2, Kap. I, § 5.
[16] Johann Gottlieb Heineccius, Elementa juris naturae et gentium, 1737, Hrg. Christoph Bergfeld, Frankfurt 1994, Kap.I, § 14 = S.31.
[17] Hermann Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke…, NJW 1960, 1689 (1691).
[18] … verstreut über seinen gesamten Aufsatz JZ 81, 457 ff.
[19] Hörster a.a.O. JuS 83, 95, Fn.14.
[20] Ernst Forsthoff, Der Staat, 8, 1969, 523 (523), Christoph Goos, Innere Freiheit, 2011, S.13 f.
[21] Pico della Mirandola, De dignitate hominis, 1496, S.11.
[22] Bibel, Psalm 86, Vers 6 (Anm. d. Verf.)
[23] Pico della Mirandola, De dignitate hominis, 1496, bei Reclam, S.13.
[24] Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit (2005), S.114, ebenso Herdegen (2005), Art. 1 I GG Rdn.7.
[25] Della Mirandola, a.a.O., S.9.
[26] „Darüber hinaus fordert die Würde der Person, daß über ihr Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt wird; der einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein“ (BVerfG, Beschluß vom 8. Januar 1959 – 1 BvR 396/55 –, BVerfGE 9, 89-109, Rn. 22)
[27] Nachweise bei Christoph Goos, Innere Freiheit, Eine Rekonstruktion des grundgesetzlichen Würdebegriffs, 2011, S.22, Fn.58.
[28] Zit. nach Stefan Martini, Vortragsskript eines im WiSem 2005/06 gehaltenen Referats im Rahmen des rechtsphilosophischen Seminars “Die aktuelle Werte-Debatte” bei Prof. Klaus Adomeit (Freie Universität Berlin).
[29] Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, § 62, Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Cotta in Stuttgart 1899, 3. Band mit dem 3. und 4. Buch, S.213.
[30] Horst Dreier, Art. 1, ders., GG-Kommentar, Rn. 13, ztt. nach Martini a.a.O.
[31] Norbert Hörster, Zur Bedeutung des Prinzips der Mnschenwürde, JuS 1983, 93 ff., 95.
[32] Herdegen, M-D-H 11 zu Art. 1 I GG
[33] Franz Josef Wetz, Menschenwürde – eine Illusion?, in: Wilfried Härle, Bernhard Vogel (Hrg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, S.27 ff. (36).
[34] BVerfG, Urteil vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05 –, BVerfGE 115, 118-166.
[35] Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S.81.
[36] Bundestag, 12.Wahlperiode, BT-Drucksache 12/6000 vom 5.11.1993, S.14.
[37] Hufen JZ 2004, 313.
[38] Prof.Dr.Friedhelm Hufen, ord. Prof. f. öff. Recht an der Uni Mainz, hier: Schriftsatz vom 16.2.1998 an das VG Mainz, Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des VG Mainz vom 10.12.1997 7 K 102/94.Mz, S.16.
[39] Berufungsbegründung des Landes Rh.-Pfalz vom 6.8.1998 gegen Urteil des VG Maint vom 10.12.97, OVG Koblenz -12 A 11774/98-, S.3 f., Sachbearbeiter Prof.Dr.Friedhelm Hufen, Mainz.
[40] Ferdinand Weber, Staatsangehörigkeit und Status, Tübingen 2019, S.153 mit Einzelnachweisen.
[41] Klaus Kunze, Geheimsache Politprozesse, 1998, S.8.
[42] Peter Graf von Kielmansegg: „Die halbierte Demokratie“, Cicero, Oktober 2022, S. 42–47, https://www.cicero.de/comment/349200, hier zit. nach Renovatio 27.10.2022.
[43] Starck a.a.O., JZ 1981, 458.
[44] Hörster a.a.O. JuS 83, 96.
[45] BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260.
[46] Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, 1991, S.190
[47] BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260, Rn. 138.
[48] Franz Josef Wetz, Menschenwürde – eine Illusion?, in: Wilfried Härle, Bernhard Vogel (Hrg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, S.27 ff. (35).
[49] Matthias Herdegen, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Lieferung 44, 2005, Kommentar zu Art. 1 I GG, Rdn.17.
Jeder Blogbeitrag hier greift einen Einzelaspekt auf und setzt dabei viele Denkgrundlagen bereits voraus. Wer etwa innig an Seelenwanderung oder die reale Existenz von Donald Duck glaubt, wird hier schon im Grundsätzlichen widersprechen. Lesen Sie dieses Grundsätzliche gern hier:
Das Vermächtnis Apollons
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