Politische Prozesse als Fortsetzung des Krieges oder Bür­gerkrieges mit ande­ren Mitteln

In ihrem Kern sind alle justizförmigen Prozesse politische Prozesse. Nur manch­mal bricht das elementar Politische des Prozesses grell ans Licht und wird für je­dermann deutlich: in Schauprozessen des Stalinismus oder in den Nürnberger Pro­zessen etwa. Doch selbst im Unterhaltspro­zeß vor dem Familienrichter kann das ge­sprochene Recht nur ein politisches Recht sein, weil es kein unpolitisches Recht gibt: Der Richter wendet nur die vom Ge­setzge­ber getroffene politische Entscheidung an, beispielsweise die: Der gehörnte Ehemann muß seiner Frau ohne Rücksicht auf Ver­schulden auch noch Unterhalt zahlen.

Jedes Gesetz beschützt eine willkürliche Wertsetzung: die Selbst­ver­wirklichung der Frau, die ökonomische Gleichheit, den Rechtsfrieden oder andere Werte. Men­schen schätzen ganz Unter­schied­liches als wertvoll ein. Ihre Ideen von Wertvollem oder Wertwidrigem: von ihrem Gut und Böse, ihrem Recht und Unrecht, begründen ihre unverwechselbare Identität. Wer die Macht über die Gesetze ausübt, schützt oder verwirklicht seine Wert­vorstellungen und mit ihnen seine persönliche Eigenart. Zugleich verwirft und unterdrückt er die Wert­schätzungen anderer Menschen. Darum gibt es in Deutschland Rechte und Gesetze, die es in China nicht gibt, und um­ge­kehrt.

Alle Lebensverhältnisse sind der Mög­lichkeit nach politisch. Ob etwa der Sport als etwas Politisches betrachtet werden muß, ist eine politische Ent­scheidung. In der Politik steckt etwas Elementares: der Kampf Mensch ge­gen Mensch. Vergan­gene Politik nennt man Geschichte. Wenn Menschen zu ihrer Selbstbehauptung Werte und Ideologien erfinden, wird aus dem elementaren Kampf ein geistiges Ringen. Seine Waffen sind die Ideen. Sie erklären sich selbst zum Wert und die feindliche Idee zum Unwert; das ei­gene Recht zum Recht und das feindliche Recht zum Un­recht, den eigenen Gott zum Gott und den feindlichen Gott zum Teufel.

Ele­mentare Er­eignisse wie Kriege sind in sich selbst sinnlos. Kriege sind Mittel, nicht Zwecke. Jede Partei führt Krieg nicht um seiner selbst, sondern um des Friedens willen: ihres jeweiligen Frie­dens. Der alt­germanische Zweikampf hatte noch für beide Kämpfer einen gemeinsa­men Sinn: das Gottesgericht. Heute wissen sich Krieg­führende nicht mehr eins unter den Augen desselben Gottes. Jeder streitet im Namen seines eigenen Sinnentwurfs. Vor dem Hintergrund der eigenen Welt­deu­­tung ist das eigene Verhalten im­mer sinn­erfüllt; das geg­nerische aber sinn­los oder sinn­wid­rig. Für unsere ideologisier­te Zeit gilt Krieg nicht als Elemen­ta­res oder Wert­neutrales: Im Feind verkör­pert sich das Bö­se. Er wird für den Krieg verant­wortlich gemacht; wenn der Krieg nicht selbst als das Böse an sich gilt. Krie­ge sind heute zu entsetzlich, als daß sie als elementare, bar jeden Sinnes sich entla­dende Ereignisse be­griffen werden könn­ten. Darum muß der Krieg nach sei­nem militärischen Ende symbol­haft noch einmal gewonnen werden. Das geschieht im Wege der Siegerju­stiz. Hier klagt der Sinn des Siegers den Sinn des Verlierers an und er­klärt ihn zum Un­sinn. Er macht die Welt­geschichte zum Tribunal: Muß es nicht ein ge­rechter, sinn­voller Krieg gewesen sein, da er doch ge­wonnen wurde?

Politischer Prozeß in der DDR 1950: Die Vernichtung des politischen Feindes

Ein militärischer Sieg ist erst gesichert, wo dem Feind die Weltdeutung des Siegers aufgezwungen und eingepflanzt wurde. Der Verlierer soll sei­nen Kampf rück­blickend als sinnlos verinnerlichen. Er soll sich des Be­siegtwordenseins sogar erfreu­en. An die Wiederaufnahme des Kampfes soll er noch nicht einmal mehr ohne Ge­wissensbisse denken dürfen. Im Lichte der Ideologie des Siegers gewinnt die Welt ganz andere Farben: “Hat er mich nicht von jenem alten Unsinn befreit?” Daß der alte Sinn ein Unsinn war, liegt auf der Hand – im Lichte des neuen Sinnes be­trach­tet. 

Der Kampf um die Durchsetzung der ei­genen Idee von der Gerechtigkeit ist Teil der Politik. Nur scheinbar kämpfen Ideen gegen Ideen. Auch bei aufmarschierten Heeren kämpfen ja nicht die vorneweg ge­tragenen Fahnen gegeneinander. Sie flat­tern nur als Symbole für die wirklichen Kom­bat­tan­ten. Eine feindliche Idee als verbrecherisch zu verurteilen, wiegt so schwer wie eine feindliche Fahne in den Schmutz zu werfen. Mit ihr zerstört der Mensch symbolhaft den Feind selbst in seiner Identität. Das Wesen des politischen Prozesses besteht darin, die eigene Ideen­welt offiziell für gut und gerecht zu erklä­ren, die gegnerische aber für böse und ver­brecherisch. Mit dem Amt des Richters ver­bindet sich die Vorstellung von un­be­ding­ter Unparteilichkeit, von vor­ur­teils­frei­er Prüfung und unbestechlicher Red­lich­keit. Der politische Prozeß ist eine ideelle Kampf­handlung, nimmt aber die Autorität schein­barer Rechtlichkeit in Anspruch. Un­ter dem Mantel der Ge­rech­tigkeit sucht sie den Feind in seinem Selbst­­verständnis zu vernichten.

Für sich genommen ist der Feind bloß Feind im existentiellen Sinne, sonst nichts. Er muß weder häß­lich, noch ungerecht, noch böse sein. Alle Menschen – selbst der Feind – halten sich aus eigener Sicht für gut und ihre Selbstbe­hauptung für ihr gutes Recht. Wer gegen sie ankämpft, muß also im Unrecht sein, und darum wird er ver­achtet und gehaßt. Der gemeinsame Haß auf einen Feind war historisch der Motor, der Gruppen zu in­grim­mi­gem Kampf an­stachelte. Der Feind muß Verbrecher sein, damit man ihn has­sen darf. Nicht nur die Liebe beflügelt die Kräfte – der Haß kann das auch. Seiner bedienten sich in der Moderne die erfolgreichsten po­litischen Bewegungen. Im Ruß­land nach der Okto­berrevolution sahen Rote und Weiße sich wechselseitig als Verbrecher an und kann­ten keine Gnade. November­verbrecher wa­ren aus Sicht Hitlers die Demokraten, die das Ver­sailler Diktat unterschrieben. Ver­brecher waren aus Sicht der 1945 siegrei­chen De­mokraten wieder die Nationalso­zialisten und später die Kommuni­sten. Zum Verbre­cher erklärten alle Parteien unseres ideo­logischen Jahr­hundert jeweils den Feind ih­res ei­genen Glaubens.

Die ideologische Feinderklärung wird verbrieft und besiegelt im politi­schen Pro­zeß. Ein solcher Prozeß ist die Fortsetzung des Krieges oder Bür­gerkrieges mit ande­ren Mitteln. Hat sich eine Macht in der Wirklichkeit durchgesetzt, dann er­legt sie dem Feind ihr Recht auf. In Prozessen wie dem Nürnberger Prozeß holt die Siegerseite symbolhaft in Prozeßform den Sieg noch einmal nach und hebt ihn auf eine geistige Ebene. Die menschli­chen Angeklagten sind Nebensache. Im Namen der Sieger­ideo­lo­gie werden ihre geistigen Prinzipien, wird der tiefste Grund ihrer menschlichen Iden­tität, wird die Verliererideologie für ver­brecherisch erklärt.

Ein kleiner Rechtsbrecher wie ein Dieb bestätigt die Eigentums­ord­nung indirekt, will er sich doch selbst fremdes Gut aneignen. Wenn er stiehlt, ist er nur dem Gesetz ungehorsam. Ganz anders der ideologische Feind einer Rechtsordnung: Sie ist aus sei­ner Sicht nicht legitim, er will sie insge­samt abschaffen, selbst wo er ihr äußerlich gehorcht. Er muß aus Sicht jeder Rechts­ordnung unterdrückt werden: Wer heute in China freie Meinungs­äu­ßerung fordert, ist der Feind. Er ist viel gefährlicher als der schlimmste Kriminelle, selbst wenn er niemandem etwas antut. Wenn sich in ir­gend­ei­nem politischen System ein Dut­zend junge Männer zusammentun und Auf­kle­ber druc­ken, die das System selbst an­­greif­­en, dann bilden sie allemal eine Ver­­­einigung, die je­des System um seines Selbsterhalts willen als kriminell ver­folgen muß. Das ist nicht nur in China so, und dieses Phäno­men gibt es nicht erst in unserem Jahrhun­dert. Es ist ein Erbe der französischen Re­vo­lutionszeit: Der Monar­chist konnte per­sön­lich ein noch so anstän­diger Eh­renmann sein – seine Ge­sinnung sprach ihm das To­desurteil. Politi­sches Straf­­recht ist Gesin­nungsstrafrecht.

Der Kriminalprozeß bestraft nur den formalen Ungehorsam gegen das Gesetz. Es sucht den Täter in die Rechtsordnung wieder einzugliedern. Der politische Pro­zeß grenzt den ideologischen Feind aus: Er wird weggestoßen aus der Gemeinschaft der gut und gerecht Denkenden. Über seine tiefsten Gewissensgründe wird justizförmig der Stab gebrochen. Seine persönliche Weltdeutung, seine innerste Identität wer­den angeklagt vom Staatsanwalt als dem Vertreter seines ideologischen Feindes.

Sein geistiges Menschsein wird mit Ab­scheu verworfen von Richtern, die nicht unparteiisch sind. Wie der Ankläger selbst sind sie amtlich einge­schworen auf die Doktrin des dem Ange­klagten feind­li­chen Systems. Seit der noch relativ harmlosen Dreyfus-Affäre im Frankreich des 19. Jahrhunderts über die Prozesse vor dem Volksgerichtshof des 3. Reiches und die Rache­prozesse der DDR-Justiz verbindet der historische Rückblick den politischen Pro­zeß mit haßerfüllten, geifernden Anklä­gern oder Richtern wie Roland Freisler oder Hilde Ben­jamin. Der äußere Anschein der Justizförmigkeit konnte nicht darüber hin­wegtäuschen: Hier wurde Bürgerkriegs­feinden nur der juristische Gnaden­stoß ver­setzt.

Heute sind die geifernden Ankläger und Richter in Deutschland nahezu ausgestor­ben. Nichts geändert hat sich aber am Phä­nomen des politischen Prozesses. Ein Son­derstrafrecht für Feinde der Demokratie er­klärt die aktivsten Verfas­sungsfeinde für Kriminelle. Die Regierung und das Verfas­sungsgericht dürfen Grup­pen und Parteien verbieten, die aktiv kämp­fe­risch die frei­heitliche demokratische Grund­ordnung be­seitigen wollen. Wer ge­gen ein solches Verbot handelt und unter­gründig weiter agitiert, macht sich strafbar.

Ein Päckchen Aufkleber mit gewissen Runen­zeichen im Keller – ein paar Details der Zeitgeschichte öffentlich angezweifelt – schon ist es pas­siert: Rührige Behörden wie die Fach­kommissa­riate der poli­tischen Polizei durchsuchen Woh­nungen nach verbotenen Auf­kle­bern, be­­schlagnahmen Bücher und Broschüren und werten Computernetze aus. Es folgt der politische Strafprozeß un­ter den Videoaugen einer Medienöffent­lichkeit, die zur geistigen Lynchjustiz im­mer bereit ist. Unterdessen tun sich Spitzel des Verfassungsschutzes als Agents pro­vocateurs in Grüpp­chen pubertierender Jünglinge hervor, indem sie am lautesten von allen “Heil” schrei­en und zu Taten auf­stacheln. – Auch der freieste Staat auf deut­schem Bo­den duldet eben nur seine Frei­heit und nicht die Freiheit seiner Feinde.

Damit ist er von den Höhen seines mo­ralischen Anspruchs auf den nüchternen Boden des historischen Normalfalls zu­rückgekehrt. Den Typus des politischen Polizisten und den des Lockspitzels gibt es seit der französi­schen Revolution, und als Büttel im politischen Prozeß wird es sie geben, solange es weltanschauliche Feind­schaft geben wird. Keine Herrschaft ist dauerhaft, wenn sie ihr politisches System nicht gegen seine eigene Ab­schaffung ver­teidigt, das ist die bleibende Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Diese Re­publik fiel, weil sie ihren Feinden nicht den politischen Prozeß machte, sondern zu Wahlkämpfen einlud, denen sie nicht ge­wach­sen war.

Erfolgreiche Systeme ma­chen diesen Fehler nicht. Politische Pro­zes­se wird es geben, solange Menschen sich in Ge­mein­schaften zusammenfinden, die sie selbst ideologisch definieren. Jeder Verfas­sungs­­patriotismus hat ein Janusgesicht, und der politische Prozeß ist seine häßliche Rück­­seite.