Mit Moralisten kann man nicht diskutieren. Ebensogut könnte man mit Zeugen Jehovas über ihre Schöpfungsgeschichte und ihre Propheten streiten. Wie alle Extremisten sind beide im Käfig ihres Glaubens vernagelt, nur sind Moralisten aggressiver. Der Gott der Christen kennt noch die Barmherzigkeit und die Vergebung. Ein Moralist verzeiht nie.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt der Moralismus als tot, mumifiziertes Fossil des finsteren Mittelalters. Mit dem 30jährigen Krieg um Religion, Konfession und wahre Moral sollte er abgetan sein, zermalmt unter den Argumenten französischer Aufklärer, gevierteilt und der Lächerlichkeit preisgegeben durch Friedrich Nietzsches Werk „Jenseits von gut und böse“.

Er ist wieder auferstanden. Als Wiedergänger sucht er in sozialen Foren nach Dominanz. Sachbezogene Argumente kann man ausknipsen wie mit einem Lichtschalter. Es wird sofort dunkel, sobald einer mit gerunzelter Stirn anhebt: „Das ist aber unmoralisch!“ – Gestern ging es in einem Archäologie-Forum um sogenannte Leugnung historischer Tatsachen wie der türkischen Morde an Armeniern und die neue Internet-Meldestelle.[1] Auf den Witz: „Ich leugne, daß die Tibetaner die Italiener ausgerottet haben. Muß ich mich jetzt irgendwo melden?“, raunte ein kluges Köpfchen: „Ich finde Intelligenz Wissen und Moral sollten eine Einheit bilden – bei dir ist das offensichtlich ein wenig verschoben, oder?“

Fettfleckartig breiten sich moralisierende Deutungsmuster in allen Bereichen aus, manchmal auch, wo sie gar nicht hingehören. Zur Frage, ob der Arzt heilen kann, tritt die Vorfrage, ob er es in probater Weise darf oder ob seine Technik böse ist. Moralisiert ist die Pädagogik. Der Physik warf man schon lange die Erfindung der Atomkraft vor. Doping im Sport wird unter „unmoralisch“ rubriziert. Alles muß vor Moral triefen. Es soll auch keine wertfreie wissenschaftliche Erkenntnis mehr geben. In der Geschichtsforschung ist es zuweilen unmoralisch, über andere als die schon lange „historisch feststehenden“ Deutungen auch nur nachzudenken. Darf ein Biologe noch männlich von weiblich unterscheiden, oder ist er dann – genderistisch gesehen – böse?

Das Internet wird überschwemmt von moralischen, hypermoralischen und pseudomoralischen Schweigegeboten, Phrasen der Beschwörung des Guten und Beschimpfungen des Bösen. Wer sonst kein Argument hat, wird moralisch. Und er findet Gehör – die Gemeinde wächst. Sie stachelt sich selbst zu immer größerer Aggressivität auf. Arnold Gehlen hatte Recht, daß die Radikalisierung jeder Ethosform Aggression freisetzt.[2] Rigoros fährt man Ungläubigen über den Mund.

Extremisten erkennt man daran, daß sie mit absolutem Wahrheitsanspruch auftreten, die Welt aus einem einzigen Prinzip heraus erklären, dieses absolut setzen und daneben nichts gelten lassen. Dem Politologen Harald Bergsdorf zufolge erhebt der Extremist erstens den Wahrheitsanspruch, mit seiner Doktrin die einzig wahre Weltsicht gefunden zu haben. Darum kämpft er zweitens mit besonderem Rigorismus gegen andere Interessen, Lebensformen und Wertvorstellungen. Weil Freund-Feind-Denken und Haß die Hauptantriebskräfte extremistischer Politik seien, seien sie heterophob und wollten demokratischen Pluralismus nicht akzeptieren.[3] Moralisten dürfen auf dem schmalen Grat zwischen Fanatismus und Extremismus keinen falschen Schritt tun. Ein Pluralismus verschiedener Moralen ist ihnen fremd.

Der Ästhet sieht das Schöne. Die Welt des Moralisten besteht aus gut und böse.
(Caspar David Friedrich, Mann und Frau, den Mond betrachtend, um 1830, Ausschnitt)

Wie alle Prinzipien kann man auch moralische Prinzipien verabsolutieren. Dann glaubt man an die reale Existenz eines konkreten, universellen Gut und Böse und schwingt sich zum Propheten, Ankläger, Richter und Vollstrecker auf – des Guten, versteht sich. Neben seiner Moral duldet der Moralist nichts. Andere Menschen erklären die Welt aus Sicht anderer Sachgebiete: der Naturwissenschaftler zum Beispiel auf Grundlage der Chemie und Physik. Für ihn ist eine Aussage richtig oder falsch. Der Ästhet betrachtet die Welt, und was er sieht, findet er schön oder häßlich.

Der Philosoph weiß: Die Welt ist aus jeder Perspektive immer dieselbe. Klugerweise muß man bei einer Entscheidung abwägen, ob sie zugunsten der Ästhetik, der Moral oder der Nützlichkeit ausfällt. Jeder kann danach handeln, was seine Moral ihm sagt, wenn er das möchte und gegen andere Optionen abgewogen hat.

 Nur der Moralist sieht nichts außer moralisch Relevantem. Wegen eines nackten Busens will er ein Gemälde im Museum abhängen, er fordert seiner Moral zuliebe solle der Staat Geld ausgeben, das er gar nicht hat, und wenn sich jemand über seine Moral lustig macht: „Nieder mit ihm!“

Die potentielle Aggressivität moralischer Verbote ist unübertrefflich. Wer ohnehin aggressiv ist, kann erst recht auftrumpfen, wenn er sich zuvor moralisch bewaffnet. Die Empörung ist der typische Gestus des Moralisten. Unsere vom Internet und sozialen Medien dominierte Gesellschaft wird von einer Empörungswelle nach der anderen heimgesucht. Schiet-Stürme fegen durchs Land und brechen sich oft erst an den Innenwänden der jeweiligen Echokammern.

Mit moralischem Mobbing versucht man, Argumente anderer zu unterdrücken.

„Es gibt im Leben den Rigorismus der einzelnen Werte. Er kann sich bis zum Fanatismus steigern. Jeder Wert hat – wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person – die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen, und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht material entgegengesetzt sind. […]

Solche Tyrannei der Werte zeigt sich schon deutlich in den einseitigen Typen der geltenden Moral, in der bekannten Unduldsamkeit des Menschen gegen fremdartige Moral; noch mehr im individuellen Erfaßtsein einer Person von einem einzigen Wert.

Nicolai Hartmann, Ethik, (1926) S.524 ff. = (1962) S.576.

Wer an eine alleinseligmachende Moral glaubt, sieht den Un­gläu­bi­gen als, bö­se, un­­­mo­ra­lisch und schlechthin ver­werf­lich an. Wie der Kirchenlehrer Au­gustin stellt er seine Mo­ral über Freiheit und Le­bens­recht An­ders­den­kender:

„»Es kommt nicht darauf an, ob jemand ge­zwungen wird, son­dern allein darauf, wozu er gezwungen wird, ob es nämlich etwas Gutes oder etwas Böses ist.«

Aurelius Augustinus, Ep.93 (V 16) ad Vicentinum

Dieser Satz, der wie bei Platon die sou­veräne Nicht­achtung der in­dividuellen Freiheit und subjektiven Mo­­ralität durch den, der sich im Besitze der abso­luten Wahr­heit glaubt, zum Ausdruck bringt, hat historisch zur Rechtfertigung der Ket­zerverfol­gungen gedient.“[5] Aus die­ser Geisteshaltung folgten die Gre­uel der Re­ligions­kriege, die Ro­­bespier­re’sche Guillo­tinenmoral, der Tugendterror und die Schrecken des Archi­pels GULAG.

Die Moralisten kommen – rette sich, wer kann! Sie sind brandgefährlich. Henning Hahn konstatiert dem „pathologischen Moralismus“ eine Tendenz zum „moralischen Terrorismus:

„Wer seine moralische Autonomie verabsolutiert und sie als vollständige Wirklichkeit seiner Freiheit mißversteht, entwickelt wiederum pathologische Verhaltensmuster. Er wird entweder zum Moralapostel oder zum moralischen Terroristen. Der Moralist krankt daran, daß er in seinen sittlich vorgegebenen Verantwortungsverhältnissen keinen Sinn mehr erkennt. Er kann sich nicht mit der konventionalisierten Wirklichkeit versöhnen, weil er der Fiktion eines ‚verbundenen Subjekts‘ anhängt, ‚welches all seine Grundsätze aus der Perspktive einer allgemeinen Menschheit gewinnen muß. So sucht der Moralist den moralischen Standpunkt  nicht nur dann auf, wenn ihm eine bestimmte Rollenanforderung zum Problem gworden ist, sondern führt sich permanent als unvoreingenommener Weltenrichter auf.“

Henning Hahn, Politischer Kosmopolitismus, Habilitationsschrift 2015, Berlin 2017, Ziff. 1.4.2.3.

„Im moralischen Terrorismus“, zieht der Philosoph Hahn Bilanz, mündet diese Verabsolutierung des moralischen Standpunkts dann in Gewalt.“ Nicht alle Moralisten werden Terroristen. Manche erwecken den Eindruck, ohne staatliche Aufsicht über Recht, Gesetz und Ordnung würden sie es gern werden.

Heutige Moralisten sind denken beschränkt in einem engen Gut-Böse-Korsett. Sie kennen nur die moralische Guillotine, manchmal auch eiserne. Die Freiheit, sich eine individuelle Moral auszudenken, gewährt sie nicht. Für eine Wert-Philosophie der Freiheit hingegen ist „nicht nur Freiheit der höchste Wert, sondern auch die Wert-Freiheit die höchste Freiheit.“[6]

Es wird vielfach bemerkt und beklagt, daß in den früher „westlich“ genannten Ländern eine Art Kulturkampf stattfindet, ein innerer Bürgerkrieg zweier Lager, die sich nicht mehr miteinander verständigen können. Zwischen ihnen steht eine unsichtbare Wand schallschluckende Wand, die keine Argumente mehr durchläßt. Diese Wand besteht aus Moral.

Es wird Zeit, sie niederzureißen, die moralischen Kettenhemden auszuziehen, den Gegnern in die Augen zu sehen und sich zu erinnern, daß sie auch Menschen sind und keine Inkarnation des Bösen.


[1] https://www.bka.de/DE/KontaktAufnehmen/HinweisGeben/MeldestelleHetzeImInternet/meldestelle_node.html?fbclid=IwAR0YClxG3BoC1yPx-8lUfEGv3eilWCm2lsFdwCAVtx1SE9cGj3gApFjAFPY

[2] Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, S.180.

[3] Harald Bergsdorf, in: Backes, Uwe und Eckhard Jesse (Hrg.), Gefährdungen der Freiheit, Extremistische Ideologien im Vergleich, Göttingen 2006, S.182.

[4] Aurelius Augustinus, Ep.93 (V 16) ad Vicentinum

[5] Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S.65.

[6] Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, 1967, S.51.

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