Warum ist die offene Gesellschaft nicht mehr offen?
1945 schrieb Karl Popper ein vielbeachtetes Buch über „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Unsere staatlichen Politologen nahmen den Begriff begeistert auf. Politologen leben direkt oder indirekt von staatlichen Zuwendungen. Sie waren aus guten Gründen daran interessiert, das System zu legitimieren, von dem sie leben. Auch echte Überzeugungn gehörten zu diesen Gründen. Pluralismus und offene Gesellschaft wurde vielen zu überzeugenden Schlüsselbegriffen, mit denen sie sich gegen braunen und roten Totalitarismus abgrenzten.
Im Westen sind wir heute alle Kinder der real existierenden offenen Gesellschaft, die vom Kindergarten an unsere politische Lebenswelt prägte. Doch was blieb von der offenen Gesellschaft? Frißt sie nicht inzwischen uns als ihre Kinder? Nehmen staatliche Intoleranz und staatlich-medialer Meinungsdruck gegen Teile der Gesellschaft nicht immer stärker zu? Werden nicht wesentliche Teile des politischen Spektrums ausgegrenzt?
Der französische Revolutionär Pierre Vergniaud 1793 kommentierte die Hinrichtung anderer Revolutionäre mit den Worten: „Die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder.“ Danach kam er selbst an die Reihe. Der ehemalige Kommunist Wolfgang Leonhard lehnte sich 1955 mit seinem Buchtitel „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ an Vergniauds einprägsame Bemerkung an.
Frißt die offene Gesellschaft mittlerweile in diesem Sinne ihre Kinder, und wie offen ist sie dann überhaupt?
Das Dilemma des normativen Pluralismus besteht darin, daß er von Ungleichheit träumt, aber Gleichheit hervorbringt. Sein Ideal strebt nach einer heterogenen Gesellschaft, in der Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensentwürfen friedlich zusammenleben. Auf struktureller Ebene will er sich diesem Ziel durch eine sogenannte offene Gesellschaft annähern, die jedem Einzelnen Freiheit seiner Lebensgestaltung läßt und sich mit unbeschränkter Partizipation an den gesellschaftlichen Ressourcen und Institutionen verbindet.
Der Pluralismus stellt sich eine offene Gesellschaft pluraler Lebensentwürfe vor, in der alle friedlich miteinander harmonieren. Seine weltliche Utopie ähnelt damit strukturell der religiösen Utopie der Zeugen Jehovas.
Als Gegenbild dienen ihm von ihm so genannte geschlossene Gesellschaftsmodelle. Diese nähmen den einzelnen Bürgern die freie soziale Mobilität und begründeten dies mithilde eines intoleranten Menschen- und Gesellschaftsbildes, das jedem Menschen einen unveränderlichen sozialen Platz zuweise.
Freie Konkurrenz verschiedener Lebensentwürfe führe nicht nur zu einem Höchstmaß an individueller Freiheit. Sie erzeuge auch eine größtmögliche Vielfalt einander freundlich tolerierender Werte und Lebensstile.
In diese Idealvorstellung des Pluralismus drängt sich allerdings störend die reale Intoleranz der Nichtpluralisten. Das sind zum einen ganz realistisch denkende Menschen, die ihre Interessen in einer pluralistisch organisierten Gesellschaft nicht so gut aufgehoben fühlen wie in einem geschlossenen Gesellschaftssystem. Gerade auch geschlossene Gesellschaften haben ihre Nutznießer.
Die erbittertsten Gegner findet der Pluralismus aber in Menschen, die ihre spezielle Deutung der Welt und der Deutung des Menschen in der Gesellschaft mit dem Anspruch auf alleinige Wahrheit verbinden. Solche sind zahlreich in Deutschland und der Welt. Wo man sie läßt, gründen sie Gottesstaaten wie im Iran, eine Diktatur des Proletariats oder irgend eine andere unsympathische Gesellschaftsformation, die außer ihrer eigenen Doktrin keine anderen Lebensentwürfe neben sich duldet. Ich habe Zweifel, ob global die Anzahl der Anhänger offener, pluralistischer Gesellschaftsmodelle und die Anzahl der Staaten, die diesem Anspruch genügen, überwiegt.
Die Aporie des Pluralismus besteht darin, daß geschworener Nichtpluralisten jedes plurale System sprengen müssen. Sie können nicht die Toleranz aufbringen, die der Pluralismus ihnen abverlangt. So steht dieser hilflos zwischen den sich widersprechenden Forderungen, eine freie und tolerante Gesellschaft zu gewährleisten, gleichzeitig aber allen denjenigen intolerant die Freiheit zu nehmen, die nicht im pluralistischen Verständnis tolerant sind. Er begegnet dieser logischen Ausweglosigkeit mit der bekannten Losung: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“, oder „Keine Toleranz den Feinden der Toleranz!“
Als Feind der Toleranz gilt, wer sich an eine Werteskala hält, in der Toleranz nicht ganz oben rangiert, sondern unterhalb anderer, maßgeblicher Werte.
„Auch die pluralistische westliche Massendemokratie, in der solche Ideologeme günstigen Boden finden, muß die Bremse ziehen, sobald der grundsätzlich propagierte Pluralismus der Werte bzw. der Rationalitäten in vollendete Anarchie auszuarten droht. Die Vielfalt der Werte wird toleriert unter dem Vorbehalt der ausschließlichen Geltung des Wertes der Toleranz und außerdem jener Werte (z.B. Menschenwürde), die diesen tragen sollen.“[1]
Panajotis Kondylis 1991
Den jährlich erscheinenden Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder zufolge sind die Feinde der offenen Gesellschaft zahlreich. Und weil sie so extrem unpluralistisch sind, bezeichnet der Pluralismus sie als Extremisten. Offenbar geht von ihnen quantitativ und qualitativ eine so erhebliche Gefahr für die offene Gesellschaft aus, daß sie mit hohem, Behördenaufwand überwacht und bekämpft werden müssen.
Der Pluralismus tröstet sich über die Kluft zwischen seinem erklärten Ziel der Toleranz und seiner intoleranten Bekämpfung von Intoleranz mit zwei Überlegungen hinweg. Beidedeuten auf den utopischen Gehalt der Pluralismusidee hin.
Ersten Trost spendet die innere Gewißheit, die Feinde der offenen Gesellschaft und erklärten Gegner des Pluralismus seien nur ein paar irgendwie fehl- oder irregeleitete Extremisten, die man mithilfe volkspädagogischer Bemühungen irgendwann Pluralismus und Toleranz beibringen oder sie wenigstens damit versöhnen könne. Auf dem Weg zum Zweck und Endziel des Pluralismus, wenn Toleranz und Pluralismus sich vollständig verwirklicht haben würden, bilde der bisher real verwirklichte Pluralismus nur eine notwendige Zwischenetappe, in der man halt auch mal intolerant sein müsse.
Wir kennen diese Argumentationsstruktur aus dem Marxismus, der das utopische Endziel einer klassenlosen Gesellschaft freier Menschen ausgerechnet auf dem Weg über eine sozialistische Zwischenphase verwirklichen wollte, in der noch die Gesetze von Unterdrückung und Klassenkampf herrschen. Der utopische gute Endzweck soll die auf dem Weg dorthin angewandten Mittel heiligen, und zwar auch dann, wenn ihre Anwendungen mit den Prinzipien und Grundsätzen der Utopie selbst in unauflöslichem Widerspruch steht.
Unausweichlich sind derartige logische Aporien immer dann, wenn ein einzelnes gesellschaftliches Gestaltungsprinzip als Utopie absolut gesetzt und entgegen der sich dagegen heftig sträubenden Realität verwirklicht werden soll. So betrachtet trägt der Pluralismus als Idee den Keim zu seinem eigenen Extremismus bereits in sich.
Soweit er den Wunsch nach
Vielfalt und insoweit nach Ungleichheit enthält, ist gegen seine Wünsche nichts
einzuwenden. Sucht er seine Wünsche und Träume aber als alleinige gesellschaftliche
Gestaltungsprinzipien durchzusetzen, muß er sich mit ihnen selbst in
Widerspruch setzen.
[1] Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch, 1991, S.562.,
Schreibe einen Kommentar