Freiheit endet, wo Moralismus beginnt
Sie können das Wort „moralisch verpflichtet“ nicht mehr hören? Ich auch nicht mehr. Gerade darum sollten Sie aber weiterlesen. Es geht Ihnen nämlich wie dem Hund, der das Wort Maulkorb nicht mehr hören mag. Man muß sich zwangsläufig damit auseinandersetzen.
Vorgestern verstieg sich eine Kommentatorin im NDR dazu, Siemens dürfe „aus moralischen Gründen“ in Australien keine Signalanlagen bauen. Weiß man im NDR überhaupt, was das Wort Moral bedeutet? Ist es nicht ein auch moralischer Grundsatz, ein vertragliches Versprechen einzuhalten?
„Unmoralisch“ ist zur Killerphrase geworden. Man trägt sie als Waffe vor sich her wie einen Spieß, mit dem ein schlichter Landsknecht selbst den schönsten Ritter vom Pferd holen konnte. Killerphrasen haben keinen greifbaren Inhalt, sie sind leere Worthülsen. Über die Dummheiten, über alles und jeden die Einheitssauce des Moralischen auszugießen, müßte man kein Wort verlieren.
Linksextreme Taktik hat sich aber des Moralismus bemächtigt und benutzt ihn, um ihre strategischen Ziele zu erreichen. Wer nicht durchschaut, mit welchen Mechanismen das funktioniert, bleibt dagegen wehr- und hilflos. Es funktioniert, mit den Worten Zara Rifflers, so:
„Die gefühlte Bedrohung in Kombination mit der übertriebenen Political Correctness läßt die Moral in universitären linken Kreisen zu einer Hypermoral wuchern. Es wird moralisch entschieden, was „richtig“ sei. Eine solche moralisch „richtige“ Meinung wird absolut gesetzt, abweichende Meinungen hingegen als obsolet ausgesondert. Diese Hypermoral hat die Oberhand gewonnen und lässt kaum einen Diskurs zu, da andere politische Auffassungen unmittelbar verurteilt werden – denn diese entsprechen nicht den eigenen moralischen Prinzipien, daher gefährden sie den Kampf gegen die gefürchteten -ismen. Die Hypermoral ersetzt das Bewußtsein von der Relevanz der Meinungsfreiheit und blockiert jede Toleranz. Linke Gruppierungen haben sich an den Universitäten die Definitions- und Entscheidungsgewalt darüber erobert, welche Personen die Universität betreten, welche innerhalb der Räumlichkeiten reden dürfen und welche Inhalte noch erlaubt sind. Da sich die Hypermoral durch das Ausbleiben eines Diskurses mit Andersdenkenden verfestigt, wird der offene Diskurs unmöglich. Damit sind die Universitäten in eine politisch linke Wohlfühlzone geraten und im eigenen moralisierenden Wortgeklingel gefangen. Realität stört.“[1]
Zara Riffler, Diskriminierungsfreiheit statt Meinungsfreiheit, 14.1.2020
Vergewärtigen wir uns, was Moral eigentlich ist. Ihre spezifischen Unterscheidungsmerkmale lauten gut und böse. Das hört sich kindlich schlicht an und ist es auch. Es sind Wort-Seifenblasen ohne konkreten Inhalt.
Im Unterschied zur Moral lehrt die Ethik, welche konkreten Tugenden wie Treue und so weiter inhaltlich richtig sind und beachtet werden sollte.
Moral hat aber keinen bestimmten Inhalt. Gut und Böse sind die antithetischen Bestandteile jedes beliebigen Weltbildes und können nur aus dessen jeweiliger Perspektive als solche angesehen werden.[2] Mythen, Religionen und Ideologien sind im Grunde kollektive weltanschauliche Entscheidungen.[3] Das Gute und das Böse eines Christen ist darum inhaltlich etwas anderes als das Gut und Böse eines Linksextremisten.
Moralismus ist eine Angriffswaffe, die eigene Weltanschauung durchzusetzen, und eine Methode, Macht zu erringen und zu bewahren. Jeder kann sie benutzen.
Wer die Moral seiner Ideologie, „sein Gut und Böse“ verabsolutiert und als „das Gut und Böse“ schlechthin ausgibt, erhebt damit den Machtanspruch, an die Wertsetzungen seiner Weltanschauung habe sich alle Welt gefälligst zu halten. Es bietet sich „kein besserer Weg zur Durchsetzung eines Machtanspruchs an als der Kampf um den Sieg einer Norm, deren Vertretung und Interpretation sich der darum Kämpfende vorbehält.“[4]
Wie sehr sich linksextremistische Deutungsmuster an vielen Hochschulen durchgesetzt haben, zeigt die verbissene Intoleranz, mit der dort diejenigen Normen verteidigt werden, auf die der derzeitige Linksextremismus sich stützt. Diese Normen selbst bilden eine komplexe Ideologie, deren Versatzstücke in einem bestimmten Geschichtsbild, einer spezifischen Auffassung von der Gleichheit aller Menschen und ähnlichem bestehen. Wer die sich daraus ergebenden Normsetzungen mißachtet, gilt als böse, wer sie verinnerlicht hat, als gut. Bösen muß man aus dieser Perspektive nicht mit Toleranz begegnen.
Auf der einen Seite stehen Vertreter des kritischen Rationalismus. Sie sind davon überzeugt, daß es feststehende Wahrheiten nicht gibt. Darum soll jeder Gesichtspunkt in eine freie Diskussion eingebracht werden dürfen. Jede Überzeugung muß sich ständig gefallen lassen, anhand neuer Fakten und Gesichtspunkte überprüft zu werden. Darum ist wissenschaftliche Erkenntnis ohne Freiheit von Forschung und Lehre nicht möglich. Fragestellungen sind Sachfragen, und um Sachfragen zu beantworten, haben Wissenschaftler die beste Kompetenz.
Auf der anderen Seite stehen die Vertreter geschlossener Weltbilder, die absolute Wahrheiten schon gefunden glauben. Wer ihnen widerspricht, ist böse – unmoralisch! Er muß darum am Forschen, Lehren und Reden gehindert werden, notfalls handgreiflich. Moralische Fragen zu beantworten, fühlen sich bereits Erstsemester für völlig kompetent.
In einer scharfsinnigen Analyse hat die Historikerin Sandra Kostner erkannt, daß hier ein Kampf um Macht stattfindet. Der Linksextremismus ist dabei, an den Universitäten „wissensbasierte Machtasymmetrien durch moralbasierte“ zu ersetzen.[5] In ihnen steht der wissende Professor wie ein dummer Junge hilflos neben dem krakeelenden Erstsemester, der für sich moralische Kompetenz und den Vorrang seiner Moral vor jeder wissenschaftlichen Kompetenz beansprucht.
„Moralbasierte Machtasymmetrien bilden die ideale Voraussetzung für Studenten, die das agendawissenschaftliche Programm radikalisieren oder einfach nur Macht über andere ausüben möchten. So haben es sich manche zur Aufgabe gemacht, Disziplinarmaßnahmen für Dozenten einzufordern, deren Lehrinhalte oder deren Sprachgebrauch von der «richtigen» Gesinnung abweichen. Die Anklage lautet stets: rassistisch, sexistisch, anschlussfähig an rechte Diskurse, femo-/homonationalistisch oder islamophob. Vorgebracht werden die Anschuldigungen über Social-Media-Accounts oder über Beschwerdebriefe an Leitungsebenen.“[6]
Sandra Kostner, Wenn Wissenschafter eine Agenda verfolgen: wie Macht und Moral an den Hochschulen die Erkenntnis ersetzen, Neue Zürcher Zeitung 13.1.2020.
Die Machtergreifung des Linksextremismus hat gerade in vielen geisteswissenschaftlichen Fakultäten bereits stattgefunden. Eine Freiheit der Wissenschaft kennt er nicht mehr, nicht mehr als normatives Ziel und bereits nicht in der wissenschaftlichen Methodik. Von Wissenschaft kann keine Rede mehr sein, wo die Resultate angeblich wissenschaftlicher Forschung von vornherein feststehen. Als wahre Resultate gelten dann nur noch diejenigen Hypothesen, die mit der dominanten Ideologie übereinstimmen.
Um diese in der gesamten Gesellschaft durchzusetzen, haben Linksextremisten quasi eine Agenda geschaffen, einen Plan schrittweiser Machtergreifung: den Marsch durch die Institutionen.
„Ursprünglich strebten Agendawissenschafter die soziale Revolution an. Aber schon in den 1970er Jahren verlagerten sie ihr Ziel: weg vom Empowerment der angeblich vom Kapital unterdrückten sozialen Klassen, hin zum Empowerment von Gruppen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer aussereuropäischen Herkunft, ihres nichtchristlichen Glaubens oder ihrer sexuellen Orientierung pauschal zu Opfern der von weiß-christlich-heterosexuellen Männern geschaffenen Machtverhältnisse erklärt wurden.“[7]
Sandra Kostner
Sie sind in der Wolle gefärbte Feinde unserer Verfassung, denn
(Art 5 Grundgesetz)
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. [..]
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Wer Vorlesungen sprengt und Wissenschaftler niederbrüllt, hat an einer Universität nichts zu suchen.
Moralismus ist eine Methode, ideologischen Machtansprüchen die scheinbare Weihe höherer Moral zu verleihen. Diese Moral mitsamt ihrer Weihe zu analysieren, sie auf ihren ideologischen und methodologischen Kern und ihre soziale Funktion zurückzuführen, ist auch eine Methode. Sie entlarvt solche Art Moral als ein ideologisches Konstrukt. Man nennt die Methode: Dekonstruktivismus. Mit einer dekonstruktivistischen Lanze kann man einen Ritter der Moral vom hohen Roß holen.
Soll doch mal einer sagen, man könne von seinen Gegnern nichts lernen – und sei es nur etwas Methodisches! Die Dummheit der ideologischen Moralisten besteht darin, daß sie ihren Gegnern nicht zuhören, sondern sie niederbrüllen. So können sie auch nichts von ihnen lernen.
Wären sie lernfähig, wären sie allerdings keine Moralisten mehr.
[1] Zara Riffler, Diskriminierungsfreiheit statt Meinungsfreiheit, 14.1.2020, https://www.tichyseinblick.de/meinungen/diskriminierungsfreiheit-statt-meinungsfreiheit/?fbclid=IwAR2tFI-KA9psT402IiGYA5o1yWLMlDzWkwBPWq9pdlOvwisrp-bETPWtH3g
[2] Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, 1984, S.23.
[3] Kondylis, am angegebenen Ort, S.43.
[4] Kondylis, am angegebenen Ort, S.43.
[5] Sandra Kostner, Wenn Wissenschafter eine Agenda verfolgen: wie Macht und Moral an den Hochschulen die Erkenntnis ersetzen, Neue Zürcher Zeitung 13.1.2020.
[6] Kostner am angegebenen Ort.
[7] Kostner am angegebenen Ort.
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