In der französischen Revolution gab es eine Phase des Tugendterrors. Auch 2019 hat das Moralisieren wieder Hochkonjunktur. Wie jede Herrschaftstechnik ist es nicht das einfache Volk, das heute moralisiert. Dieses vergnügt sich hedonistisch und ohne moralische Bedenken. Es hat nichts anderes gelernt.
Heute wird uns die Moral tagtäglich von oben eingeseift: Auf hohem Roß und mit erhobenem Zeigefinger duckt man uns rund um die Uhr im Fernsehen und anderen Medien in den Büßerstuhl und predigt uns, wen wir lieben müssen und wen wir nicht hassen dürfen. Da lohnt sich ein Blick weit zurück in eine Zeit, in der zölibatäre Stubengelehrte in jeder Frau eine moralische Gefahr sahen.

Schon damals diente Moral der Errichtung und Aufrechterhaltung konkreter Herrschaftsstrukturen. Wer sich aus moralischer Fremdbestimmung befreien möchte, sollte wissen, wie sie schon immer funktionierte und heute noch funktioniert.

Es gab immer schon krasse Fälle allgemeinen Frauenhasses. Wer sich moderne Frauenfeindlichkeit anschaulich vor Augen führen will, benötigt bloß das Internet. In einschlägigen Foren enttäuschter oder hintergangener Männer wird er die Stereotypien aller Epochen versammelt finden. Diese machten schon vor den heiligen Hallen frommer Mönche nicht halt. Bevor Hildegard von Bingen 1147 bis 1151 vom Kloster Disibodenberg in ihr eigenes, reines Frauenkloster Rupertsberg zog, machten ihr Disibodenberger Mönche die Hölle heiß. In einem Brief an den Abt Helenger beklagt sie sich bitter darüber:

“Ich kam an jene Stätte, wo Gott Dir den Hirtenstab seiner Stellvertretung gegeben hat. Einige aus der Schar Deiner Brüder tobten wider mich wie gegen einen finsteren Vogel und ein schreckliches Untier. Und sie spannten ihre Bogen gegen mich, damit ich vor ihnen fliehe” .

Hildegard von Bingen

Das Generalkapitel des Prämonstratenserstiftes Marchtal beschloß 1273, keine Frauen mehr aufzunehmen. Bis dahin hatte es vielfach Doppelklöster gegeben, in denen, von den Mönchen getrennt, Nonnen lebten. Konrad von Taugendorf war 1266-1275 Probst in dem Kloster. Er begründete den Beschluß, wenn die spätere Überlieferung so stimmt, mit den Worten:

„Die Bosheit der Frauen übertrifft alle Bosheiten, die es auf der Welt gibt, und es gibt keinen Zorn, der so wild wäre wie der einer Frau, und das Gift von Nattern und Drachen ist für den Mann heilsamer und angenehmer als Vertrautheit mit Frauen” .

Konrad von Taugendorf 1273

Mit dem Begriff der Bosheit war das moralische Schwert gezückt, denn nach Meinung von Moralisten teilt sich die Welt ein in gut und böse. Frauenfeinde wünschten sich darum schon vor einem halben Jahrtausend eine ideale Frau: Sie hält den Mund.

Spöttisch zeigt uns ein Druckblatt von 1525 diese “weise Frau” mit Vorhängeschloß vor dem Mund – und mit Pferdefüßen geradezu als einen gezähmten Satansbraten. Der Nürnberger Wolffgang Resch schnitt die Vorlage in Holz nach einem Bild des berühmten, in Köln lebenden Zeichners Anton Woensam (1500-1541). Die ins Bild gesetzte Allegorie zeigt uns moralische Bevormundung auf einem historischen Gipfelpunkt.

Anton Woensam, Allegorie der weisen Frau          
Holzschnitt des Formschneiders Wolffgang Resch, Nürnberg 1525

Wie bei vielen Allegorien ist auch hier manches bewußt mehrdeutig. Der Pferdehuf ist einerseits das traditionelle Attribut des Teufels. Woensam spielte aber mit der ikonographischen Tradition seiner Zeit, in der das Pferd als Gegenbild zum Pfau für die standhafte Frau im Gegensatz zur eitlen stand. Die Erläuterung im Text des Druckblattes lautet:

“Auf Pferdes Füßen soll ich gehn, daß ich in Ehren fest kann stehn, auf daß ich nicht in Sünde fall, ist süß, wird bitter als ein Gall.”

Anton Woensam 1525

Als “biederes Weib” gürtet sie sich mit männerabweisenden Schlangen und hütet sich “vor böser Lieb und Affenspiel.”

Philippe de Navarres wegweisende Mahnung aus dem 13. Jahrhundert, Frauen sollten lieber den Mund halten, hat die allegorische “weise Frau” des 16. Jahrhunderts voll verinnerlicht:

“Von Gold trag ich vor meinem Munde ein Schloß, Tag, Nacht und alle Stunde, auf daß er unnütz Red vermeid und niemand nicht sein Ehr abschneid.”

Statt sich eitel im Spiegel zu beschauen, blickt die weise Frau auf ein Kruzifix statt der Spiegelung.

Die Allegorie der Frau mit dem Vorhängeschloß versinnbildlicht hier den normativen Machtanspruch derer, die ein Interesse an der sexuellen Treue ihrer Frauen hegen, diese durch Verhaltensregeln einfordern und diese Forderungen in Form allgemeinverbindlicher moralischer Gebote kleiden. Die in der Allegorie von Woensam sichtbare Moral war 1525 aber nicht allgemeingültig. Sie setzte sich auch nie völlig durch. Es gab auch gegenläufige Tendenzen. Wie weit sie auch auf dem Lande überhaupt von Frauen verinnerlicht wurde, wissen wir nicht. Die meisten Frauen lasen keine Tugendbücher.

1525 verbrannten bereits seit fünfzig Jahren Frauen als Hexen. Gelingt es Moralisten, eine Moral zur allgemeinen Anschauung zu machen, liegt nahe, sie in einem nächsten Schritt zum staatlichen Gesetz zu machen und Übertretungen zu bestrafen. Viele erst nur für unmoralisch gehaltene Handlungen wurden am Ende strafbar. Bis heute ist das Moralisieren eine erprobte Herrschaftstechnik. Sie redet den Beherrschten ein schlechtes Gewissen ein, wenn diese den Interessen der Beherrschenden zuwiderhandeln. Hinter jeder an die Macht gelangten Moral wandelt in letzter Konsequenz das Richtschwert.

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Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen,
Von der Vormundschaft zum Genderismus,
2019,
ISBN 978-3-938176719