Was uns von Juden trennte und verband

Dieser Tage hören und sehen wir wieder Politiker, die oft und gern über deutsche Geschichte reden. Dazu suchen sie sich geeignete Kapitel heraus. Als Gegenbild zu unserem heutigen Staat eignet sich das 3. Reich am besten. Hier können wir in unzähligen Fernsehproduktionen das Böse bei seinem unheilvollen Tun betrachten. Wir klopfen uns dann auf die Schulter und sind stolz, daß wir heutzutage so gut sind. Die für Feierstunden geschriebenen Reden kenne ich seit einem halben Jahrhundert auswendig.

Da ist es viel reizvoller, sich einmal mit dem Volk der Opfer zu befassen. Vielleicht finde ich ja etwas, das ich noch nicht weiß? Zahlenangaben oder Namen auf Gedenkplatten sind doch ziemlich fern und abstrakt. Aber wie waren sie wirklich, die unser damaliger – wie hieß er noch gleich? – so verabscheut hat?

Dieter Stein schrieb in der Jungen Freiheit:

„Wie mit einer Nabelschnur sind Deutschland und Israel durch den Holocaust verbunden. Es ist eine Illusion, den Schatten der Vergangenheit mit einem Schlußstrich oder 180-Grad-Wenden der Gedenkpolitik zu entkommen. Wie mit einer Nabelschnur sind Deutschland und Israel durch den Holocaust verbunden. Es ist eine Illusion, den Schatten der Vergangenheit mit einem Schlußstrich oder 180-Grad-Wenden der Gedenkpolitik zu entkommen. Genausowenig gelingt es, die deutsche Nation zu erledigen, indem man Auschwitz zum Endpunkt unserer Geschichte erklärt.“

Dieter Stein, Der lange Schatten, Junge Freiheit 23.1.2020

Wenn wir schon mit ihnen an derselben Nabelschnur hängen, sollten wir unsere neuen Verwandtschaft gut kennen. Dafür gibt es viele Gründe.

Es gibt aber nur wenig Anschauungsmaterial dazu. Heute empfehle ich Ihnen darum einen Film. Nein, natürlich nicht Fritz Hipplers Film „Der ewige Jude“. Dieser Film sagt uns viel darüber, als was die damaligen Antisemiten Juden sahen: als Ratten nämlich. Abgesehen von echten Filmaufnahmen aus jüdischen Gettos in Polen lernen wir über die Juden selbst nicht viel. Diese Gettos waren bekanntlich 1939 in deutsche Hand gefallen, was sofort Anlaß zu dem Film Hipplers gab. Viel Zeit war nicht mehr, denn bald gab es da nichts mehr zu drehen.

Der Dibbuk (1937)

Nein, es ist natürlich ein jüdischer Film, aus dem heraus ich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Juden begreifen will. Er heißt „Der Dibbuk“ und wurde 1937 in Polen von Juden gedreht. Er ist keineswegs ein Fantasy-Film, sondern beruht auf altem, jüdischen Volksglauben. Die Handlung faßt Wikipedia so zusammen:

„Das Drama spielt im Milieu jüdischer Kleinstädte (Schtetl) in Polen um 1880. Die werdenden Väter Sender und Nissn verabreden die Heirat ihrer Kinder, sofern es sich um ein Mädchen und einen Jungen handeln würde. Als Sender die Tochter Leje geboren wird und seinem Freund der Sohn Chonen, scheint die Verabredung in Erfüllung gehen zu können. Doch 18 Jahre später ist Sender zu Reichtum gelangt und will seiner Tochter eine lohnende Partie verschaffen. Leje und Chonen, den das Schicksal als Talmudschüler in Senders Haus geführt hat, verlieben sich ineinander. Als Sender Chonens Herkunft erkennt, hat er seine Tochter bereits einem anderen Bräutigam versprochen. Chonen stirbt, und seine Seele ergreift von der geliebten Leje Besitz. Bei dem Versuch, den Geist auszutreiben, stirbt auch Leje.“

Wikipedia

Die Filmidee beruht auf einem jüdischen Volksglauben: Ein Dibbuk ist ein böser Geist, der in einen Lebenden einfährt.

Die Juden Reb Sender und Nissen hatten sich in der Synagoge feierlich geschworen, ihre noch ungeborenen Kinder miteinander zu verheiraten. Nissn verunglückt aber, und sein Sohn gerät in Vergessenheit. Für Sender zählt nur eins im Leben, das er auch gern zählt: sein Geld. Darum verlobt er seine Tochter mit einem Bräutigam – einer guten Partie, nicht mit dem Sohn des toten Nissen.

Für Sender zählt nur Geld, sein in der Synagoge gegebenes Versprechen hat er vergessen.

Dieses Verhalten, seine Fixierung auf Geld, wird im Film so stark hervorgehoben, daß man es für typisch halten könnte. Der Film erzählt auch eine Geschichte davon, wie man sich richtig oder falsch verhält, meinetwegen gut oder böse. Um den Konflikt besonders herauszustreichen, zeichnet der Film ein Bild reiner Geldgier, dem Sender alles unterordnet.

Richtig hätte er sich verhalten, wenn er sein in der Synagoge gegebenes Versprechen eingelöst hätte. Nissens Sohn war freilich früh verwaist und ein armer Teufel. Gegenüber den Forderungen ihres Glaubens oder Aberglaubens gibt es aber keinen Pardon. Jüdisches Denken stellt sich hier selbst als streng, rigide und völlig humorlos dar. Unwandelbar und hart sind die in der Synagoge gelehrten Gebote. Von ihnen abzuweichen, muß ins Unglück führen.

Dieses schreitet schnell, und zwar in geistiger Person des verunglückten Nissen. Dessen Sohn rief nämlich in seiner Verzweifelung den Teufel um Hilfe an, ihm seine Braut zu geben.

Chonen ruft den Teufel an, ihm seine versprochene Braut zu verschaffen.

Der hört auch zu – das Böse lauert schließlich immer – gehorcht aber nicht nach Wunsch. Der Geist seines verstorbenen Vaters Nissen ergreift Besitz von seiner Frau. Als Besessene stirbt sie bei einem Exorzismus, Chonen auch. So hat er sie – in gewisser Weise.

Es gibt den Film bei Youtube in verschieden untertitelten Versionen. Sehen Sie sich die mit englischen Untertiteln an. In der Version mit deutschen Untertiteln quatsch ständig ein lauter Übersetzer in irgendeinem polnischen Platt dazwischen, was die emotionale Wirkung völlig ruiniert.

Diese Wirkung ist stark. Verzweifelung eines Liebenden und Geliebten, wenn der geldgierige Vater die Tochter einem anderen geben will. Dem Urmotiv tragischer Handlung kann man sich nicht entziehen.

Vertraut und doch fremd

Wichtig zu sehen ist der Film für uns aber aus einem ganz anderen Grund. Der Film ist in jiddischer Sprache gedreht. Man kann sich da einhören. Es klingt fremd, und doch so vertraut. Wiegt die Mutter ihr Kindlein mit den Worten: „Schau mein Kindel, schau mein Täubele“ empfindet man mit und fühlt sich kulturell auf vertrautem Boden. Daran ändert nichts, daß sich die Juden im 19. Jahrhundert in einer polnischen Kleinstadt keineswegs als Deutsche verstanden und auch keine waren. Der Film wirkt durchweg rührend.

Man empfindet aber etwas Vertrautes – Dieter Steins „Nabelschnur“? Durch die Annahme der deutschen Sprache hatten sich die Ostjuden schicksalhaft mit den Deutschen verbunden, sich in einem östlichen Kultur-Großraum „integriert“, in dem Deutsch die Verkehrssprache und kulturell maßgebend war.

Nicht nur die Juden haben von den Deutschen genommen, auch umgekehrt. Der Film bildet eine Folge abergläubischer Vorstellungen ab, die nicht ursprünglich in Deutschland beheimatet waren. Kürzlich fand ein Forscher auf einer assyrischen Keilschrifttafel (um 1200 v.Chr.) die älteste bekannte Einritzung eines Dämons, ein richtiges kleines Teufelchen mit gespaltener Zunge. Sogar Hörner trägt er. Dämonenglauben kannten die Germanen in dieser Form nicht. Der Dibbuk ist ein solcher Dämon. Aus dem Orient und der Phantasie seiner Völker drang die Vorstellung nach Norden.

Man läßt, abergläubischer Vorstellung nach, eine Braut nicht allein auf einem Friedhof. Das Schicksal schreitet schnell. Als die junge Braut sich auf dem Friedhof bei ihrer Mutter ausheult, läßt sich ihr Schicksal nicht mehr abwenden. Der Geist fuhr in sie.

Etwas rückständige Religionen glauben heute noch an Dämonen und Exorzismen. Der Versuch der versammelten Männer in den Synagoge schlug jedenfalls entsetzlich schief. Man konnte sich mit dem Geist des toten Nissen gut unterhalten, wurde sich aber nicht einig. Er wollte einfach nicht ausfahren.

Man läßt, abergläubischer Vorstellung nach, eine Braut nicht allein auf einem Friedhof. Das Schicksal (rechts im Bild) schreitet schnell.

Durch jahrzehntelangen Abusus von Hollywood-Produktionen sind viele Deutsche nicht mehr hinreichend dafür sensibilisiert, welche Vorstellungen oft hinter Horror-Filmen stehen und welche subkutanen Botschaften sie verbreiten. Gerade im religiös bigotten Amerika kommen alle Grundideen wie im Film vom Dibbuk auf die Leinwand. Im Dibbuk lautet die Moral: Lebe streng synagogisch nach den Schriftrollen. Dann kann dir nichts passieren. Für bibeltreue Sektenchristen in den USA klingt das sympathisch.

Wenn nicht, rollt ein böses Schicksal unaufhaltsam über dich hinweg. Manchmal stellt Hollywood es auch als grundsätzlich übermächtig dar: Das Omen und viele andere Horrorfilme enthalten Dämonen, lebende Toten und ähnliche Requisiten. Wir erkennen jetzt, woher sie geistig stammen.

Der Film macht traurig. Wenn man für kulturelle Vielfalt eintritt, kann man sich an jedem Yanomami-Indianer oder Hottentotten erfreuen, wenn sie ihre ethnischen Besonderheiten pflegen, sind glücklich, daß es sogar so etwas wie Eskimos gibt, von zauberhaften Kulturen wie derjenigen der alten Samurai ganz zu schweigen. In diesem Kontext gesehen ist mit der jiddischen Kultur des Ostraumes etwas verloren gegangen. Die Juden lebten dort – auf ihre ganz eigene Art.

Sie waren in so vielem ganz anders als wir, teilweise aber auch gleich oder recht ähnlich. Sehen Sie sie sich einfach einmal selbst an. Nur dann können sie künftig mitreden, wenn Sonntagsreden gehalten werden. Sie werden die tiefgreifenden Unterschiede ebenso sehen wie Gemeinsamkeiten. Sie werden dann Juden besser verstehen – und Deutsche vielleicht auch.

Das Band ist zerschnitten, weil die jiddische Kultur nicht mehr besteht. Irgendwann wird halt jeder – abgenabelt.