Wie wir subkutan infiziert werden
Russische Romane liest man anders. Die 17 Millionen Deutschen in der früheren DDR vermochten so etwas bald ebenso gut wie die Russen. In einer Diktatur muß man immer zwischen den Zeilen lesen. Die Kritik verbirgt sich vielfach verhüllt und verkleidet, gerade wie bei einer russischen Matrjoschka-Puppe die kleineren paßgenau in den größeren stecken.
Rußland kann auf eine jahrhundertelange autokratische Tradition zurückblicken. Die Russen sind wohlvertraut mit allen Techniken von Herrschaft und Machterhalt. Daß man seine Regierung und ihr System besser nicht kritisiert, weiß man dort oder lernt es bald, früher tief in Sibirien, heute im Gefängnis,
In der DDR hatte eine verlogene Parole der SED-Propaganda gelautet: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“ Heute können wir von Rußland lernen, wie man zwischen den Zeilen liest. Viele Deutsche üben das schon erfolgreich. Wer es nicht kann, ist allen Techniken von Herrschaft und Machterhalt hilflos ausgeliefert. Wer unsere Regierung und ihr System des Machterhalts kritisiert, lernt es kennen, wenn seine Maßnahmen auch ganz andere sind als in Rußland.
Die Obrigkeit in Form einer Roman-Utopie zu kritisieren ist eine traditionelle Methode. Auch Ernst Jünger bediente sich ihrer im 3. Reich. Wer bestehende Verhältnisse angreifen und vor gefährlichen Tendenzen warnen will, tut gut daran, die Kritik scheinbar in die Ort- und Zeitlosigkeit zu hüllen und sich damit unangreifbar zu machen.
Der heute führende russische Science-Fiction-Autor Sergej Lukianenko schreibt Millionenauflagen. In Rußland wird er verstanden – wirklich verstanden. In Deutschland wird er als Gesellschaftskritiker offenbar noch nicht wahrgenommen.
Tänze auf dem Schnee
Sein Roman „Tänze auf dem Schnee“ erschien unter diesem Titel 2004 in Rußland. Wer auf Schnee tanzt, bricht durch die harschige Kruste schnell ein. Eine verschneite Landschaft ist doppelbödig: oben der Boden der Schneedecke, unter ihr der Erdboden. Der für den deutschen Markt bestimmte Titel der Übersetzung, „Das Schlangenschwert“, nimmt diese Doppelbödigkeit aus dem Blick, zu spitzfindig für deutsches Lesepublikum?
Wir sollten sie erlernen: schnell und gründlich. Selbst denken ist gefragt. Am Schluß des Romans appelliert der Ich-Erzähler an den Leser:
„Alle gehen – und du bleibst. Klar? Denke selbst! Handle nach deinem Gewissen! Übe keinen Verrat! Sei nicht feige! Mach dich nicht zur Masse!“
Sergej Lukianenko, Das Schlangenschwert, 2007, S.632.
Als Masse, geradezu wie Vieh, sehen in dem Roman die über mehrere Planeten Herrschenden ihre Menschen an. Diese bilden die utopische Kulisse für Lukianenkos Gesellschaftskritik. Der russische Leser weiß dabei immer, welches Land eigentlich gemeint ist, tragen die Protagonisten doch durchweg russische Namen.
Einen anderen Planeten erobern diese Herrschenden ganz unblutig: Auf allen von Menschen besiedelten Planeten läßt man sich über dem Ohr einen winzigen „Neuroshunt“ implantieren: einen „internettauglichen“ Kleincomputer mit direktem neuronalen Zugang zum Gehirn. Mit seiner Hilfe kann jeder beliebig „im Kopf“ online gehen, fernsehen und vieles mehr.
Ein friedlicher und reicher Planet heißt Neu Kuweit. 40% der Männer sind mit mehr als einer Frau verheiratet.
Die beliebte technische Errungenschaft wird zum Einfallstor feindlicher Übernahme: Wie bei einer Art Staatstrojaner kann die Bevölkerung eines ganzen Planeten beeinflußt werden: Schon Zeichentrickfilmen für Kinder, dann Vorabend-Seifenopern für kindische Große, werden von den späteren Eroberern heimlich Verhaltensprogramme unterlegt. Sie werden dem Nutzer nicht bewußt. Über Monate speichern sie sich aber im Gehirn ab, um durch einen auslösenden Befehl schließlich aktiviert zu werden. Beim nächsten Aufwachen ist der Beeinflußte ein glühender Fan der neuen Herrscher und ihrer Weltanschauung. Es folgt eine kleine Volksabstimmung. Dem demokratischen Wunsch der Bevölkerung entsprechend gibt der Planet seine bisherige Freiheit und Selbständigkeit auf und wird zur Provinz.
Die in den harmlosen Vorabendserien enthaltenen Subprogramme haben es in sich: Aktiviert ändern sie tiefgreifend Motivationen und Verhaltensmuster der Beeinflußten. Nach der Machtübernahme stirbt die Mehrehe in Neu Kuweit aus. In der Kultur der Eroberer ist sie nicht Mode. Auch mit der Friedlichkeit ist Schluß. Jetzt ist jeder bis zum Kleinkind kampfbereit gegen die Feinde der geliebten neuen Herrscher.
Entkleidet man den Vorgang seiner technischen Attribute, wird der regierungskritische Kern des russischen Autors sichtbar: Wer die Subtexte der massenhaft konsumierten Vorabendserien steuert, schreibt die Verhaltensprogramme für die Zuschauer. Die Steuerung der Einstellungen und Motivationen seiner Bürger ist für jedes autoritäre Herrschaftssystem eine Überlebensfrage. Dissidenten gibt es immer und überall, aber die Masse läßt sich willig lenken.
Wer sie zu lenken vermag, meint zu wissen:
„Man muß einem Menschen nicht für ewig das Gehirn zurechtrücken. Es reicht aus, wenn er begonnen hat, ein anderes Leben zu führen, andere Ideale zu schätzen, auf eine andere Flagge schwört, einem anderen Glauben anhängt. Wenigstens ein bißchen – und er gewöhnt sich daran.
Weißt du, weshalb? In Wirklichkeit interessiert es niemanden, wer regiert. Für niemanden ist es von Bedeutung, ob die neue Macht die alte auf ehrliche oder unehrliche Weise besiegt hat. Die Hauptsache ist, daß im Teller Suppe und in der Suppe ein Stück Fleisch ist, man ein Dach über dem Kopf hat, im Fernsehen die geliebte Serie läuft und sich auf den Straßen nicht allzu viele Diebe und Rowdys herumtreiben.“
Sergej Lukianenko, Das Schlangenschwert, S.589 f.
Jedes politische System hat seine eigenen Funktionsbedingungen. Der Machterhalt russischer Autokraten und ihrer Finanzoligarchien gehorcht anderen Regeln als der Machterhalt des deutschen Parteiensystems und der Finanzoligarchien, die es stützen und die von ihm profitieren.
In Deutschland genügen Vorabendserien nicht, wenn sich ihre Subtexte beschränken würden auf ein russisches „Geh morgens zur Arbeit, bleib ruhig und gehorsam und liebe deine Obrigkeit!“
Wo man uns den Kopf hindreht
Die Funktionsbedingungen unseres System sind Teil eines globalen Finanzsystems, daß anscheinend nur mit Wachstum funktioniert, ausschließlich finanziellen Gesichtspunkten gehorcht und auf massenhafte Produktion und massenhaften Konsum ausgelegt ist. Optimal funktioniert es global, wenn potentiell jeder Mensch mit jedem anderen beliebig austauschbar ist und nur noch sein Funktionswert zählt.
Nicht nur unsere Vorabendsendungen enthalten als Subtext immer wieder die gleichen Botschaften: Wir sollen uns für global austauschbar halten. Es soll sich tief in unsere Persönlichkeit eingraben, daß es zwischen uns als Individuum und der globalen Welt keine vermittelnde Identität, keine verbindliche Instanz mehr gibt. Wir sollen unsere Identität, zum Beispiel als Deutsche, möglichst ablegen.
Kollektive Identitäten sind Hemmschuhe auf dem Weg zur One World als globalem „freien“ Markt. Darum sollen wir glücklich sein und es als Bereicherung empfinden, wenn alle Menschen global schön bunt durcheinandergemischt werden. Wer sensibel für Subtexte ist, durchschaut Produktionen unseres Fernsehens schon lange als das, was sie sind: mentale Staatstrojaner, die etwas in uns abschalten und uns neu programmieren sollen.
Die neu programmierten Deutschen haben wirklich Lust darauf, jederzeit beiseite zu treten oder sich gleich ganz austauschen zu lassen. Jeder Wille, die eigene Identität als Nation zu bewahren, wird systematisch verunglimpft. Einem ausschlaggebenden Teil unseres Volkes wurde bereits vollständig der Kopf verdreht.
Bei Lukianenko liest sich das in einem Dialog des Protagonisten mit „Oma Ada“, seiner Gegenspielerin, so:
„Aber die Macht muß ehrlich gewählt werden“, gab ich zu bedenken. „Die Menschen selbst müssen den Wechsel des Machthabers wünschen.“
Sergej Lukianenko, Das Schlangenschwert, S.579 f.
„Das Volk entscheidet niemals und nichts selbst“, entgegnete Oma Ada. „Das Volk wählt die Macht, die ihnen am besten die Köpfe verdrehen kann.“
„Auch wenn eine Macht betrügt und Versprechungen gibt“, wandte ich ein, „nimmt sie nicht die Fähigkeit zum Denken!“
„Die Mehrheit der Menschen hat niemals von dieser Fähigkeit Gebrauch gemacht.“, meinte Oma Ada. „Und diejenigen, die wie auch immer denken können, sie waren und sind die Macht.“
Dem Zynismus der Macht können wir vielleicht noch entkommen. Es ist in unserer vernetzten Informationsgesellschaft immer noch möglich, von der Fähigkeit des eigenständigen Denkens Gebrauch zu machen.
Nur eins müssen wir dabei ausschalten: den kleinen Staatstrojaner im Kopf. Dafür gibt es ein Knöpfchen auf unserer Fernbedienung.
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