Den Zustand einer Kultur erkennt man daran, wie ein Volk mit seinen Toten umgeht
Wie ein Volk mit seinen Toten umgeht, sagt viel aus über seinen gesellschaftlichen Zustand. Kultur ist es, wenn ein Kopfjäger seinem Opfer den Schädel abschlägt, eine in Gold gefaßte Trinkschale daraus fertigt, sie mit zauberischen Runen versieht und sie rituell verwendet. Zivilisation ist es, wenn er dafür lebenslänglich ins Gefängnis muß.
In der Vorgeschichte hatte man ein lockeres Verhältnis zu menschlichen Überresten. Ritzspuren auf prähistorischen Knochenfunden verraten, daß sie manchmal geschätzt wurden, vor allem, wenn sie noch frisch waren. Wenn Körperteile nicht mehr frisch sind, kann man sie nicht mehr verwerten. Steinzeitköche wußten das ebensogut wie Transplantationsmediziner. Für sie sind Lebern oder Herzen in mehrfacher Hinsicht Herzenssachen: wertvoll für Patienten, wertvoll für die Wissenschaft und die Reputation des Arztes, und sie sorgten – bis zum Organspendeskandal – für “Chefarzt-Boni.” Das Universitätsklinikum Göttingen hat daraus Konsequenzen gezogen: Die Höhe der Ärzte-Gehälter ist seither nicht mehr an die Zahl der Transplantationen gekoppelt.
Der Skandal seit 2011 hat die Einstellung vieler Menschen zur Organspende signifikant gesenkt. Der Blickwinkel verlagerte sich vom bedürftigen Patienten zum potentiellen Spender. “Mein Bauch gehört mir!” Unter der Losung waren einst Abtreibungsfreunde angetreten. Seitdem darf man abtreiben. Gehören meine Leber und mein Herz auch mir? Oder gehören sie grundsätzlich dem Staat? Sind sie freie Verfügungsmasse für ein Organrecycling, wie es uns durch Mülltrennung, gelbe Säcke und dergleichen schon aufgegeben ist?
Die CDU- bzw. SPD-Politiker Spahn und Lauterbach wollten das so. Am 16.1.2020 sind sie im Bundestag mit dem Vorhaben gescheitert, Leichname grundsätzlich dem staatlichen Zugriff zu unterwerfen, um sie als eine Art menschliches Ersatzteillager zu verwenden. Natürlich sollte man widersprechen dürfen. Auf den Grundsatz kommt es aber an, die geplante Verstaatlichung unserer Leichname.
Ob jemand seine Organe spenden will oder eben nicht, ist eine sehr intime Entscheidung. Sie betrifft den innersten Kern der Persönlichkeit und ist ganz eng mit persönlichen Ängsten, biografischen Erfahrungen und religiösen, ethischen und politischen Einstellungen verbunden.
Volker Boehme-Neßler, Jens Spahns Plan ist verfassungswidrig und politisch dumm, ZEIT-Online 16.1.2020
Zwei Verständniswelten stoßen aufeinander, unterschieden durch verschiedene Verständnisse von menschlicher Würde. Diese ist ein zutiefst weltanschaulicher Begriff. Nach bürgerlichem Verständnis einer Person umfaßt sie den Leichnam.
Die in Art 1 Abs 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, endet nicht mit dem Tod.
BVerfG, Nichtannahmebeschluß vom 19. Oktober 2006 – 1 BvR 402/06 –
Unsere kulturelle Tradition mißt Leichnamen einen quasi metaphysischen Wert zu. Sie werden respektiert und würdevoll bestattet, manche sogar in Ehrengräbern. Seit hundert Jahren in deutschen Museen ausgestellte Schädel fliegt man in ihre vermuteten Herkunftsländer und übergibt sie mit viel Pomp ihren mutmaßlichen Nachkommen oder Verwandten. Bürgerliches Denken steht einem Leichnam in Ehrfurcht gegenüber. Selbst der eines Feindes wird nicht “geschändet”. In dem Wort zeigt sich der metaphysische Kern dieses Denkens.
Gegen die bürgerliche steht eine moderne Auffassung vom Menschen. Sie empfindet keine Ehrfurcht. Für sie sind menschliche Einzelteile nur Dinge. Diese tragen keinen metaphysischen Wert in sich, sondern allenfalls einen physischen, wenn sie als Sachen nutzbar gemacht werden können.
Die Moderne ist die Epoche der industriellen Massengesellschaft. Die innere Logik der Massenproduktion und des Massenkonsums führte zu einer angepaßten Weltsicht: Wie man in einer Ziegelei völlig gleiche Ziegel herstellen, aber jedes beliebige Gebäude daraus errichten konnte, stellte man sich jetzt die menschliche Gesellschaft vor als ein Gebilde aus untereinander gleichen Grundbausteinen, den einzelnen Menschen. Alle Menschen wurden für grundsätzlich “gleich” erklärt und können jederzeit zu einer neuen Gesellschaft neu kombiniert werden.
Die geistigen Bemühungen richteten sich darauf, die Gesellschaft zu “analysieren” – das heißt wörtlich übersetzt “aufzulösen”: in Einzelmenschen als Bausteine analog den fabrizierten Ziegeln, aus denen man alles machen kann. Das ist die Ideologie hinter modernen Forderungen des Genderismus, für den Mann und Frau gleich sind, des Sozialismus, für den es wegen der Gleichheit aller Menschen ungerecht ist, wenn nicht alle gleich viel vom Kuchen abbekommen und anderen Ideen.
Für dieses analytisch-kombinatorische Denkmodell gibt es gar keine substanziellen Unterschiede zwischen Menschen, darum gebe es auch keine Familien und keine Völker. Das seien nur Konstrukte. Väter und Mütter wurden abgeschafft und durch “Bezugspersonen” ersetzt. Wenn man aber keine substanzielle Ungleichheit und Einzigartigkeit von Menschen anerkennt und sich die Gesellschaft quasi atomisiert denkt, aufgelöst in einzelne menschliche Nur-Individuen, die alle gleich sind, liegt nahe, auch diese einzelnen Menschen noch zu analysieren und aufzulösen in miteinander austauschbare Einzelteile.
Während für bürgerliches Denken stets ein Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile, ist es das für analytisch-kombinatorisches Denken gerade nicht. Bürgerliches Denken sieht ein Volk, modernes Denken sieht eine Gesellschaft vieler Einzelmenschen.
Bürgerliches Denken sieht einen Leichnam, modernes Denken sieht ein Ersatzteillager, dessen Teile beliebig in jeden lebenden Menschen verpflanzt werden dürfen. So wird der Leichnam zum wiederverwertbaren Fundus, zum begehrten “Wertstoff”. Die Assoziation eines Haufens herausgebrochener Goldzähne und eines Haufens abgeschorener Haare zur industriellen Wiederverwertung drängt sich auf. Ist das Herz noch in Ordnung? Wer benötigt eine Leber?
Mit Schaudern mag ein nicht mehr zu rettender Patient in einem klaren Moment auf den ins Krankenzimmer lugenden Arzt von der Transplantationsmedizin blicken. Als was sieht er mich? Ob er mir wohl Genesung wünscht oder meine Leber?
Gegen Transplantationen habe ich nichts einzuwenden. Die Idee aber, jeden Menschen grundsätzlich, also bis zum Beweis des Gegenteils, als staatlich verfügbares Ersatzteillager anzusehen, ist eine Schnapsidee. Sie würdigt ihn zum bloßen Objekt herab und ist mit der staatlichen Pflicht, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, unvereinbar. Würde sie zu staatlichem Gesetz, träfe sie jeden von uns zunächst als Lebenden. Wenn wir tot sind, merken wir ja nichts mehr davon. Aber wir müßten mit dem Bewußtsein leben, quasi dem Staat zu gehören und ihm an Ende körperlich zur Verfügung zu stehen.
Das wäre eine gesellschaftliche Bewußtseinsverschiebung, die sicherlich von manchen Leuten freudig begrüßt werden würde. Es sind diejenigen, die ohnehin mehr gesellschaftliche Pflichten und Reglementierungen für den Einzelnen wünschen: höhere Steuern, langsameres Fahren, Pflanzen essen. Eigentum verpflichtet und soll auch der Allgemeinheit dienen. Manche Leute wollen unsere Körper sozialpflichtig machen.
Man muß nicht gerade ein weltanschaulicher Liberaler sein, um das abscheulich und mit dem Bedürfnis nach Freiheit und Würde unvereinbar zu finden.
Der Staat greift erstmals verdeckt in das hochsensible Zentrum der Persönlichkeit ein. Das ist verfassungsrechtlich unzulässig und politisch dumm.
Volker Boehme-Neßler, ZEIT-Online 16.1.2020
Mit der Schutzpflicht für die menschliche Würde hätte die Widerspruchslösung Art. 1 des Grundgesetzes und damit die Staatsfundamentalnorm unserer Verfassung verletzt. Die Verfassungsfeinde haben am 16.1.2020 im Bundestag eine schwere Niederlage erlitten.
Schreibe einen Kommentar