Wir sind alle Opfer. Nur: Wessen Opfer wir und wer die Übeltäter sind, darüber streiten wir erbittert. Deutschland ist in zwei sich teils hysterisch überbietende Lager gespalten. Bei nüchterner Betrachtung sind es alte Ängste, die immer wieder auch Haß gebären.

Die Epoche von 1933 bis 1950 hat ein zutiefst zerrissenes und in sich gespaltenes, ja auf Generationen traumatisiertes Land hinterlassen. Im wesentlichen zanken um den Glorienschein, Opfer zu sein, die Opfer kommunistischer und die Opfer nationalsozialistischer Gewalt. Alle möchten Opfer oder wenigstens Betroffener sein. Diese Ehrentitel genießen Kultstatus.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge schrieb heute eine Mail mit einem Spendenaufruf:

Der Volksbund hat mit HEINZELFILM eine Kooperation zu dem Film „Der Krieg in mir“ in Kassel gestartet. Welche Spuren hat die Kriegsgeneration in uns hinterlassen? Wie prägen sie uns bis heute? Und sind Streßerfahrungen genetisch vererbbar?

Mit diesen und weiteren spannenden Fragen begibt sich der Autor und Filmproduzent Sebastian Heinzel in seinem Dokumentarfilm “Der Krieg in mir”  auf die Suche nach Verbindungen zu seiner eigenen Familiengeschichte:

Zusammen mit seinem Vater, folgt er den Spuren seines Großvaters, der Wehrmachtssoldat in Weißrußland war.

Email des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge 5.3.2020

Der Volksbund stellt die richtigen Fragen. Wir müssen nach dem “Krieg in uns” fragen, um die neurotische und hysterische Atmosphäre unserer Tage zu verstehen.

Gut verstehen kann ich jeden, der selbst oder dessen Vorfahren oder Verwandte vor dem 8. Mai 1945 verfolgt, entrechtet oder gar ermordet wurden. Es liegt auf der Hand, daß der nationalsozialistische Staat auch nach seiner Niederlage Furcht einflößt, vor allem denjenigen, die schlaflose Nächte zubringen mußten und nicht wußten, ob sie morgen in der Frühe “abgeholt” werden würden.

Ich verstehe auch jeden, der selbst oder dessen Vorfahren oder Verwandte nach dem 8. Mai 1945 in der SBZ und DDR verfolgt, enteignet oder gar ermordet wurden. Es liegt auf der Hand, daß der sozialistische Staat auch nach seiner Niederlage 1989 Furcht einflößt, vor allem denjenigen, die schlaflose Nächte zubringen mußten und nicht wußten, ob sie morgen in der Frühe “abgeholt” werden würden.

Beide Seiten fühlen sich als Opfer. Ihrer Gegenseite traut jede Seite alle Schlechtigkeit der Welt zu. Dabei sind Überreaktionen und durch Traumatisierung hervorgerufene Ängste eingeschlossen, die eigentlich therapeutisch abgearbeitet werden müßten. Wer einmal Verbrechensopfer geworden ist, neigt dazu, quasi hinter jedem Busch einen Indianer zu sehen. Jede zwischen Blättern auftauchende Feder könnte zu einem Indianer gehören und bildet den Auslösereiz auch für irrationale Haßattacken.

Solche angsteinflößenden Auslösereize sind zum Beispiel rote Fahnen, und zwar für die einen diejenigen mit und für die anderen diejenigen ohne Hakenkreuz darin.

Wie sehr jede Seite sich aus einer wirklichen oder einer familiär tradierten Opferrolle heraus versteht oder definiert, wird mir bei meiner eigenen Familiengeschichte bewußt. Mein Urgroßvater war 1873 geboren und wurde in der schlesischen Stadt Oels am 21.7.1945 von Polen zu Tode gequält. Er war ein Opfer. Mein Großvater, geboren 1910, arbeitete als Reichsbahner. Er verlor seine Heimat in Schlesien und dem Krieg seine Arbeit in der Sowjetischen Besatzungszone, weil er vor 1945 Parteigenosse gewesen war. In den Westen geflohen, wählte er immer SPD. Auch er war ein Opfer.

Mein Vater war bei Kriegsende 12 Jahre alt, und verlor 1945 seine Heimat Schlesien. Die Bombennacht von Dresden überlebte er dort. Mit 18 Jahren war er linientreuer Kommunist und studierte die Schriften von Marx, Engels, Lenin und Stalin, bis ihm Bedenken kamen. Sein Physikstudium verbot ihm die SED, weil der Vater PG gewesen war. Dann bekam er als Parteisekretär der SED den Parteibefehl, Volkspolizeioffizier zu werden. Daraum floh er mit Frau und Kind in den Westen, wo meine beiden Eltern noch jahrelang in Albträumen von der Flucht träumten. Auch er ist ein Opfer.

Der Volksbund fragt mit Recht danach, welche Spuren die Kriegsgeneration in uns hinterlassen hat. Die Psychologie spricht von sekundären Traumatisierungen. Ein empathisches Kind übernimmt elterliche Ängste leicht. Mit mir an der Hand schlenderten meine geflüchteten Eltern durch Köln, als sie die roten Leuchtbuchstaben ZPK über einem Ladenlokal lasen. Sie rannten mit mir weg, weil sie im ersten Schrecken an ZK wie in „Zentralkomittee“ dachten. Ich finde es bis heute nicht witzig, wenn in einer Parteiversammlung der SED von der „Erschießung des ersten Prozents Reicher“ phantasiert wird, wie vor ein paar Tagen in Kassel. Die SED nennt sich heute „Linke“. Einen Aufschrei der Empörung gab es weder im Saal noch in der Medienöffentlichkeit. Stellen Sie sich vor, in einer AfD-Versammlung redete jemand von der Erschießung des ersten Prozents Moslems!

Der CDU-Generalsekretär verurteilt auf Twitter die linke Erschießungsphantasie.

Opfer zu sein, ist Teil meiner Identität. “Nie wieder!” oder “Wehret den Anfängen!” würde ich mitrufen. Als Antikommunist aus Familienerfahrung würde ich allerdings andere Anfänge meinen als die Erfinder dieser Losungen. Zwar bin ich nicht reich, aber Opfer einer linken Erschießung möchte ich auch nicht werden.

Aber die Phrase „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ gilt aus Perspektive derer, die vor rechtem Totalitarismus Angst haben, nicht gegenüber dem linken. Deutschland leidet an einem Mangel an Perspektivenübernahme: dem redlichen Bemühen, seinen Gegner wenigstens erst einmal zu verstehen. Wenn man seine eigenen sekundären Traumata analysiert und in Gedanken kurz die Perspektive der anderen Seite übernimmt, kann das theoretisch jeder.

Bei vielen Zeitgenossen heute haben sich aber sekundäre Traumatisierung und die Annahme einer hysterischen Angstreaktion zu einem unauflöslichen Amalgam verbacken. Einem fanatischen Doktrinär ist es unmöglich, seine eigene Sicht zu relativieren und auch seinem Gegner zuzubilligen, vielleicht aufgrund analoger Erlebnisse zu einer analogen Haltung zu gelangen: nicht identisch, aber gewissermaßen spiegelbildlich.

Den 2. Weltkrieg hat keine sehr große Anzahl von Opfern überlebt. Die meisten Überlebenden waren selbst Nationalsozialisten gewesen oder Mitläufer. Das Gros der heutigen selbsternannten Antifaschisten besteht nicht aus Menschen, die das 3. Reich als Opfer überlebt haben und ihren Nachkommen. Das Antifa-Milieu besteht vielfach aus Menschen, deren Antifaschismus nicht auf familiärer Erfahrung und Traumatisierung beruht. Verstehen kann ich auch sie: Unter der drückenden Last der Vorwürfe gegen uns Deutsche kann man dem moralischen Tribunal in zwei Richtungen entkommen: Man verneint die Gültigkeit einer Moral für sich selbst völlig – oder: man wird selbst zum Tribunal.

Dem Druck moralischen Selbsthasses versuchen auch Kinder oder Enkel sogenannter Täter dadurch zu entkommen, daß sie selbst zur verkörperten Moral werden und sich dadurch scheinbar unangreifbar machen. Als selbsternannte Weltmoral identifizieren sie sich dann natürlich nicht mehr mit dem von ihnen als Tätervolk bezeichneten eigenen Volk und suchen als Kosmopoliten Zuflucht in ihrer höchstpersönlichen moralischen Eigenwelt.

Doktrinär bebrillt entwickeln sich immer mehr Bürger zu Fanatikern. Ihr blanker Haß kostümiert sich als Gutmenschentum, und seine Waffe ist der Moralismus. Sie vermögen das Gemeinsame nicht mehr zu erkennen und als Verbindendes zu nutzen: das Schicksal, Kinder und Enkel eines erbarmungslosen geistigen und teils gewaltsamen Bürgerkrieges des 20. Jahrhunderts zu sein. Als entstiegen die Geister der verblichenen Kombattanten ihren Gräbern und kämpften in den Lüften ihren Haß aus, sind ihre Nachkommen begeistert von doktrinärem Haß und demselben Vernichtungswillen, mit dem schon nach dem 1. Weltkrieg rote Matrosen und Regimenter der Reichswehr aufeinander schossen. Seitdem sind die Geister der Vergangenheit nie wirklich begraben worden.

Wir sollten darum nicht unreflektiert politische Gegner als von Rachegeistern der Vergangenheit beseelt ansehen. An ihren Worten und Forderungen dürfen wir sie messen, nicht an unseren Ängsten. Wer in seinen Gegner nur hineinprojiziert, was an Angst nur im Betrachter gewachsen ist, produziert nur immer wieder neue Angst und zugleich potentiellen Haß.

Unzählige Menschen landeten im 20. Jahrhundert aus politischen Gründen hinter Stacheldraht. Die Hoffnung auf Freiheit bewahrten sie, aber Angst bis zum Haß werden selbst ihre Nachkommen oft nicht los.

Darum ist es Phantasterei, wenn Traumatisierte zum Beispiel beim Wort „AfD“ gleich die SA marschieren sehen. Und es wäre hilfreich, wenn ich schreiben könnte, daß nicht jeder SED-Linke noch oder wieder für Mauer, Stacheldraht, Minenfelder, Stasi, politische Gefangene und politische Morde steht und vielleicht sogar das Hobby aufgegeben hat, Bauern oder Geschäftsleute zu enteignen.

Ich werde das vorurteilsfrei beobachten und dann analysieren. Darum ist gut, daß der Verfassungsschutz mir die Last der Beobachtung der Kommunistischen Plattform in der Partei „Die Linke“ teilweise abnimmt.