Putin und seine absolute Republik

Putin bleibt an der Macht. Natürlich tut er das. Der Proteststurm im deutschen Blätterwald ist nur ein Säuseln, verglichen mit dem Entrüstungssturm, als CDU, FDP und AfD es in Erfurt wagten, einen FDP-Politiker zum Ministerpräsidenten zu ernennen.

Es überrascht eben niemanden mehr, daß der Moskauer Autokrat wieder Wege findet, an der Macht festzuhalten. Diese Mittel und Wege sind, rein verfahrenstechnisch und formal, gesetzliche Wege. Auch unsere alten Parteien regeln unsere Gesetze seit Jahrzehnten so, daß diese ihren eigenen Machterhalt begünstigen.

Jetzt, da die Duma den Entwurf der neuen Verfassung billigte, ist die Frage nach dem Jahr 2024 und einer Zeit ohne Putin beantwortet. Die wird es nicht geben, er wird wieder antreten. Die Lösung ist so einfach, dass es erstaunlich ist, wie wenig sie bisher im Fokus stand. Rußland bekommt eine neue Verfassung. Die alte Fassung mit den zwei Amtszeiten gilt dann nicht mehr. Das neue Grundgesetz aber kann nach herkömmlichem juristischen Verständnis nicht rückwirkend angewandt werden.

Frank Herold, Der Tagesspiegel 10.3.2020

Auf einem gesetzlichen Weg hatte auch in Deutschland von 1933 jener, Sie wissen schon wer, die Macht ergriffen. Wie heute bei Putin war 1933 im Reichstag dafür gesorgt, daß die entscheidenden Parlamentarier treue Gefolgsleute ihres Parteiführers waren.

Eine Mehrheit der Russen will offenbar heute weiterhin Putin, gerade so wie eine relative Mehrheit der Deutschen 1933 dasselbe wollte wie die Braunhemden im Reichstag. Darin liegt ein demokratietheoretisches Problem. Das Grundgesetz trat diesem Problem entgegen, indem es die tragenden Verfassungsgrundsätze für unabänderbar erklärte. Für eine gänzliche neue Verfassung gälte das freilich nicht, die das deutsche Volk sich kraft seiner Souveränität geben könnte, ohne an das Grundgesetz gebunden zu sein.

Unsere Presse malt sich Putin gern und zu Recht wie einen Monarchen aus.
(Leipziger Volkszeitung 9.8.2019)

Die oberste Regelungsmacht hat in einer Demokratie immer das Volk. Dazu gehört jedenfalls die verfassunggebende Gewalt. Ein Staat bewährt sich oder scheitert als Demokratie, wenn jemand anderes diese oberste Regelungsmacht besitzt und ausübt. Im 19. Jahrhundert hatte es in Deutschland eine Reihe oktroyierter Verfassungen gegeben: Von Königen in Unruhezeiten einseitig erlassene Verfassungen. Sie regelten die Machtverhältnisse im Staat so, daß die Könige ihre Macht behielten.

Die Macht hat, wer die Re­geln re­gelt. Es geht nicht Macht vor Recht; sondern: Wer die Macht hat, macht das Recht. Nur er ist wahrhaft frei von Bindun­gen: er bindet selbst.

Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.64.

Souveränität ist die höchste, von niemandem abgeleitete Herrschaftsmacht über ein bestimmtes Volk auf einem bestimmten Gebiet. Hat das Volk diese Macht, spricht man von einer Demokratie, hat sie ein König, von einer Monarchie, hat sie ein Gremium Mächtiger, von eine Oligarchie. Wenn eine bestehende Verfassung diese Machtfrage offen läßt, kann es zu Konflikten kommen. In Preußen beschloß das Abgeordnetenhaus den Haushalt gesetzlich mit Zustimmung des Königs. 1862 konnten sie sich nicht einigen. Für diesen Fall schwieg die Verfassung.

Der Ausnahmefall war eingetreten. Der König entschied ohne sein Parlament. Damit war klar: Er war der Souverän, nicht das im Abgeordnetenhaus repräsentierte Volk. Der Staat war eine Monarchie. Hätte sich das Abgeordnetenhaus durchgesetzt, wäre die Machtfrage anders ausgegangen.

Souverän ist, wer über den Aus­nah­me­­zu­stand ent­schei­det.

Carl Schmitt, Politische Theologie, S.11.

Das Volk in Preußen liebte seinen König mehr als seine Abgeordneten. Eine Volksabstimmung hätte vermutlich dem König Recht gegeben. Auch heute scheint das russische Volk mehrheitlich hinter Putin zu stehen. In beiden Fällen ändert das nichts an der Feststellung: Eine Demokratie ist es nicht, wenn das Volk keine reale Macht und damit keine Souveränität hat. Das ist keine Frage persönlicher Beliebtheit des Herrschers oder der Angst des Volkes vor dem Chaos, wenn anscheinend nur der Herrscher Ordnung garantiert.

Zweifellos wird Putin durch die in seinen Händen liegende reale Macht den Weg zu einer neuen Staatsverfassung so regeln, daß der Buchstabe der alten nicht verletzt wird. Legalität ist aber etwas anderes als Legitimität. Aus demokratischer Sicht handelt Putin legal. Die von ihm eingefädelten neuen Regelungen sind aber aus demokratischer Sicht nicht legitim.

Sie verfestigen nur ein Staatswesen, von dem wir alle wissen, daß es eine Autokratie in demokratischen Formen ist. Diese Autokratie würde man Monarchie nennen, wenn Putin sich formell zum Alleinherrscher aufschwingen würde, vielleicht irgendwann gefolgt von einem Sohn. Die russische Autokratie ist aber eine Republik. Das ändert nichts an ihrem autokratischen Charakter: Bei allen scheindemokratischen Formalien herrscht tatsächlich nur einer.

Im heutigen Rußland hat der von Putin gelenkte Staat die Gesellschaft verschluckt. Er bestimmt, wer sich gesellschaftlich organisieren und artikulieren darf. Der Staat beherrscht die Gesellschaft, wo und wie immer er will und es für notwendig hält. Ein solches Staatswesen mit einem gekrönten Monarchen nannte man absolute Monarchie. Rußland tendiert zur absoluten Republik.

Was uns daran am meisten stört, ist das fehlende Machtgleichgewicht von Staat und Gesellschaft. Während wir in Deutschland eine fast absolute Gesellschaft haben, die sich einen Reststaat hält wie der Bauer seine Milchkuh, läuft in Rußland die Gesellschaft am Gängelband des Staates.

Das hat historische Gründe in den 1990er Jahren. Viele Russen hatten diese als Chaos erlebt, in denen ihr Staat nicht mehr funktionierte. Wenn die Bürger diesen Eindruck haben, besteht die Gefahr

der Ent­wicklung des Staates zu einer über der Gesell­schaft stehenden, sich ihr im­mer mehr entfremdenden Macht. “Daß das in sei­ner Natur der kon­stitutio­nel­len Mon­archie entspre­chende Mo­dell einer sich auf ‘Sachzwänge’ grün­­den­den, in ei­nem tech­nokra­tischen Re­gime und seiner Bürokratie ver­kör­perten, von der Notwen­dig­keit ge­sell­schaftlicher Legitimation entbun­den­en Staa­tes von gerin­ger […] Ak­tualität […] wäre, wird angesichts der be­kann­­­ten Schwie­rigkei­ten mo­derner De­mokratie kaum ange­nom­men wer­den kön­nen.”

Konrad Hesse, Bemerkung zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, Die öffentliche Verwaltung (DöV) 1975, 439.

warnte der Staatsrechtler Hesse schon 1975. Diese Gefahr hat sich heute in Rußland verwirklich und droht auch uns. Zu Recht will unsere Regierung darum jeden Eindruck vermeiden, uns drohe ein Chaos, wie es 2015 viele Bürger bereits empfunden hatten. Weitsichtige Publizisten haben schon lange vor solchen Lagen in Deutschland gewarnt.

Wenn im kommenden Jahrhun­dert ganze Völker von Über­schwem­mungen bedroht sind, sagte 1993 Wolfgang Venohr voraus, das weltweite Ozonloch nur noch einen 15minütigen Auf­enthalt im Frei­en er­laube, die Wälder gestorben und die Böden aus­gedörrt seien, wenn täg­lich in der Welt nicht mehr nur Tausende, sondern Mil­lionen ver­hun­gern und die Heer­scharen der Halbver­hungerten in die land­wirt­schaftlich noch produzie­ren­den Länder ein­strömen, dann kön­ne man nicht mehr nach dem In­ter­esse des Einzel­nen fragen und habe auch keine Zeit mehr, parteipoli­tische Bera­tungsgremien dis­ku­tieren zu lassen. Der Frei­heitsraum des Einzel­nen kann nicht mehr das höch­ste aller Güter sein, wenn die Existenz ganzer Völ­ker auf dem Spiel steht. Im Innern des Staates werden dann schnell dra­ko­ni­sche Maß­nah­men getroffen wer­den müssen, die den Ein­zel­nen emp­find­lich tref­fen, um die Ge­mein­schaft zu retten.

Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1994, S.153.

Als ich den vorstehenden Absatz 1998 in meinem Buch “Der totale Parteienstaat” schrieb, dachte ich noch nicht einmal an den Corona-Virus, der uns heute genau diesen Punkt veranschaulicht.

“Eine neue Zeit kün­digt sich an. Um in ihr zu beste­hen, werden sich ins­be­sondere die Deut­schen an ein großes Vorbild erin­nern müssen, an eine öf­fentli­che Haltung, in der Diszi­plin, Die­nen und Ein­ord­nung mit Tole­ranz, Sitt­lichkeit und Be­schei­denheit ver­schmolzen wa­ren, kurz: Die Deut­schen, wenn sie überle­ben wollen, wer­den sich in eine preußi­sche Façon versetzen müs­sen.”

Wolfgang Venohr, Der Öko-Staat kommt bestimmt, in: Junge Freiheit 5/1993, S.23.

Die Einschränkungen persönlicher Freiheit durch die derzeitige Epidemie rechtfertigen natürlich keine verfassungsrechtlichen Änderungen.

Ein absoluter Staat eignet sich für uns zur Zeit nur als Denkmodell zur Erläuterung etatistischer Denkweise. Es geht über die bloße Trennung von Staat und Ge­sell­schaft weit hin­aus und stellt eine Kampfansage des Staates an die Gesell­schaft dar, ein Programm zu ihrer Do­mestikation und Beherr­schung. Er eig­net sich als ex­treme Gegenposition zum Partei­enstaat besonders zur exem­pla­ri­schen Er­klärung rein etatistischer Denk­weise. Gesellschaftliche Freiheitsrechte wären so stark eingeschränkt, daß ein solcher Staat nur zur Abwendung sonst drohenden Chaos mehrheitsfähig wäre. Die zugrundeliegende Idee der absoluten Republik habe ich darum schon 1994 abgelehnt als:

Mo­dell ei­nes streng dis­zi­pli­nie­ren­den Machtstaates, das nur zur Zeit nicht aktuell ist, ei­nes Staates, den man nicht liebt und nach dem sich si­cher­lich auch nur we­nige seh­nen, der aber dereinst einmal die Ultima ratio sein könn­te, wenn die Alter­native zu ihm nur noch das Chaos ist.

Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1. Aufl. 1994, S.148 und Blogbeitrag 10.11.2019.

Die absolute Republik in Rußland folgt aber diesem Staatsmodell. Mit ihm liebäugelt nur, wer unter Berufung auf sonst drohenden Weltuntergang an die Macht will: Das sind zur Zeit zum Beispiel Klimahysteriker. Wir werden gut unterscheiden müssen zwischen realem Chaos und solchem, das uns nur propagandistisch als Teufel an die Wand gemalt wird.

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