Deutschland 2019 erweckt für viele den Eindruck, als flögen unserem Staat demnächst seine gesellschaftlichen Einzelteile um die Ohren. Tiefe Klüfte des Mißverstehens klaffen zwischen einem sich internationalistisch und links verstehenden Teil und einer Noch-Mehrheit deutsch und traditionell Denkender. Die Feindseligkeit entlädt sich, wenn Redner niedergebrüllt, Autos angezündet und Andersdenkende ins Krankenhaus geprügelt werden.

Daß der Mensch des Menschen Wolf sein kann, wenn man ihn läßt, hatte der Staatsdenker Thomas Hobbes in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts schmerzlich beobachtet. Dem Staat als Hüter des inneren Friedens maß er die Aufgabe zu, den weltanschaulichen Haß einzuhegen. Er sollte seine Bürger vor Übergriffen Andersgläubiger schützen, mußte ihnen aber den Gehorsam abverlangen, selbst den Frieden der Gesetze zu wahren. Das neuzeitliche Staatsdenken bis zu unserem Grundgesetz sieht darin den Zweck des Staates und den Sinn des abgeforderten Verzichtes, über ungläubige Nachbarn herzufallen: Der innere Frieden soll jeden Bürger schützen und ruhig schlafen lassen.

Heute vermag nicht mehr jeder Bürger ruhig zu schlafen, weil er fürchten muß, der Staat könne es sein, der gerade schläft. Haben wir einen Nachtwächterstaat, der gelangweilt zusieht, wie die Gesellschaft sich in ihre Einzelteile zerlegt? Wer trägt die Verantwortung für die Integrität des Ganzen?

Faktisch niemand, da liegt das Problem. Es besteht in mangelnder Repräsentation des Interesses aller Bürger an einem funktionierenden Staatsganzen. Der Idee nach sollte dieses Interesse in der Person des Bundespräsidenten verkörpern. Dieser ist aber nicht durch direkte Wahl demokratisch legitimiert und hat auch keine nennenswerten Kompetenzen. Mangels nennenswerter verfassungsrechtlicher Machtkomptenz benötigt er auch keine Fachkompetenz. Und die Repräsentaten regierender Parteien schicken ihre Polizisten und Verfassungsschützer je nach ihrem parteipolitischen Gusto auf andere los oder eben nicht. Hundertschaften müssen machtlos zusehen, wie linke Rollkommandos mit Gewalt Vorträge verhindern, und nach dem Partei-Wechsel an der Spitze des Bundesamtes galt die Verfassung plötzlich von anderer Seite als gefährdet als zuvor.

Und unsere Volksvertreter? Das Grundgesetz erlaubt uns Bürgern, Vertreter zu wählen, die über uns herrschen. Anders als in einer buchstäblichen Demokratie entscheiden wir keine Sachfragen als Volk direkt. Parlamentarier nehmen uns das ab. Im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes sollen die Abgeordneten die verschiedenen Interessen verschiedener Wählerschichten repräsentieren und Gesetze geben. Das muß auch so bleiben. Wer aber repräsentiert das Interesse aller Bürger daran, daß dieser Staat nicht von inneren Kräften zerrissen wird? Die jeweilige Mehrheitskoalition im Bundestag ist selbst aus einer dieser Kräfte hervorgegangen. Wer garantiert den inneren Frieden, wer verhindert den ausgebrochenen geistigen Bürgerkrieg, wer hält bewaffnete Glaubenskrieger in Schach? Bundestagsabgeordnete mit Antifa-T-Shirt und als Geldgeber im „Kampf gegen Rechts“ sind erkennbar selbst Partei, sind geistige Kombattanten oder fördern schon lange extremistische Straßenkämpfer mit Steuergeldern.

Das Struk­tur­de­fizit des Grundgesetzes besteht in ei­nem Re­­­prä­­sen­ta­ti­ons­man­gel. Der in ein ge­sell­schaftliches Kräf­teparallelo­gramm eingebundene Bür­ger bedarf der Reprä­sen­ta­tion seiner Inter­es­­­sen ge­genüber ande­ren ge­sell­schaft­li­chen Mäch­ten in einem plura­len Ver­tre­tungsor­gan, dem Bundes­tag. Aber auch sein Fun­da­men­tal­in­­teresse an der Integrität desjenigen Ganzen, das seine individuelle Frei­­heit schützt, müßte vertreten werden. Das eigentliche Problem be­­­steht im Kon­flikt zwischen verschiedenartigen Einzelbelangen und ih­rem mög­li­chen Ge­gensatz zum umfassen­den öffentlichen Inter­es­se.

Der Parlamentarismus steht und fällt damit, daß sein Grundgedanke durchgeführt wird: die Repräsentation. Das ist in Deutschland, anders als in Frankreich und den USA, nicht der Fall. Dort repräsentiert der Präsident den Staat in ihrem Interessengegensatz zur Gesellschaft.

Je­der ein­zelne hat aber zwei Seelen in seiner Brust: Er hat ein In­teresse an einem mög­lichst gro­ßen Anteil an den volks­wirt­schaftlich verfüg­ba­ren Gü­tern, der im Geldzeitalter sei­nem in­ner­ge­sell­schaft­li­chen Rang ent­spricht; zu­gleich aber auch ein Interesse, das sich spe­zi­fisch auf den un­be­schädig­ten Fort­bestand des Ganzen gegen alle Teil­kräfte als sol­che und ge­gen­über anderen Ganzhei­ten richtet, also gege­n­über an­de­ren Staa­ten. Es geht also um Inter­essen von grund­sätzlich zwei­erlei Na­tur. Es gilt die durch den Staat organisierte Allgemeinheit durch andere Repräsentanten zu vertre­ten als die Ge­sell­schaft in ihrer wirtschaftlichen, re­gio­na­len, welt­an­schaulichen und po­li­ti­­schen Zersplitterung.

Dieses Fundamentalinteresse jedes einzelnen kann aber in einem in­teres­sen­pluralisti­sch or­gani­sierten Gremium nicht repräsentiert wer­den, sondern nur in einer Person. Diese reprä­sentiert das Ganze ge­gen­über seinen Teilen. Die Inter­essen des Ganzen und die sei­ner Tei­le können nicht in dem­selben Organ vertre­ten sein. Dieses müß­te sonst gleichzei­tig gegensätz­liche Inter­es­sen ver­treten, was es der Natur der Sache nach nicht kann. Das zeigt sich an der Per­son des Bundes­kanzlers, der, obwohl Partei­vorsit­zen­der, das Wohl des gan­zen Vol­kes zu­gleich mehren soll, also auch das der In­ter­­­essengegner seiner Partei. Im 18. Jahrhundert, der Epoche des ab­so­luten Staates, repräsentierte der König das Volk und verkörperte des­sen Einheit. In unserem Jahrhundert der absoluten Gesellschaft wählt es sich ein Par­la­ment voller kleiner Könige, die es in seiner plu­ralen Form als Ge­sell­schaft repräsentieren sollen. Es wird Zeit, wie­der beide Aspekte zwischenmenschlichen Daseins zugleich zu re­prä­sen­tieren.

Nach deutscher Verfassungstradition ist der berufene Ver­treter der Fun­da­mentalin­ter­es­sen aller Bürger der vom Volke direkt ge­wähl­te Bun­des­prä­si­dent. Dieser ernennt ei­nen nur von ihm ab­hän­gi­gen Kanz­ler, wie in Frank­reich und der Wei­marer Republik, oder er regiert selbst, wie in den USA. Sein Kanzler ist aber nicht vom Par­lament ab­hängig wie im Parla­mentaris­mus. Ihm wird ge­ra­de ge­gen­über dem Parlament, das auch künftig die Ge­sellschaft mit ihren Bin­nen­in­teres­sen vertritt, die notwendige Re­präsentati­on des zu den in­nergesell­schaftli­chen Interessen meistens quer lie­gen­den All­ge­mein­in­ter­es­ses ob­lie­gen, und als des­sen Ver­treter wird er mit staat­li­cher Re­gie­rungsmacht in ei­nem gewal­tentei­len­den Verfas­sungs­system dem ge­setz­ge­benden Par­la­ment eben­bür­tig gegen­über­stehen.

Das wird dann im Ergebnis kein Par­la­mentaris­mus im engeren Sinne mehr sein, sondern ein Präsi­dialsy­stem, das im Prinzip so funk­tio­nie­ren wird, wie es auch bei unse­ren ame­rika­nischen und französi­schen Nach­barn funk­tio­niert. Nebenbei bemerkt wäre ein Präsidialsystem, wie hier vorgeschla­gen, mit der frei­heitli­chen de­mokra­tischen Grundordnung im Sinne des BVerfG ohne wei­te­res ver­einbar. Art.79 III und 20 GG verlangen nicht das rein par­la­men­ta­ri­sche Regierungs­system, sondern lassen ein präsidiales durch­aus zu (Roman Herzog, in: Maunz-Dürig, Kommentar zum GG, Art.20 GG II Rdn.81). Wün­schenswert ist dabei eine mög­lichst weitgehende Tren­­nung von Staat und Ge­sell­schaft in Form ei­ner völligen Unab­hän­gigkeit des Präsidenten und der Regierung vom ge­setz­ge­benden Par­lament.

Die Ironie der Geschichte des historischen Liberalismus bringt es mit sich, daß gerade das hier geforderte Re­gie­rungs­system einmal li­beralen Forderungen exem­plarisch entsprochen gehabt hatte: Bevor es Liberale 1918 und 1948 bevor­zugten, nach der ganzen Macht zu grei­fen und einen liberalen Parlaments­ab­so­lu­tis­mus zu errichten, sa­hen sie

“das Wesen des echten Parlamentarismus ge­rade darin, daß die Exekutive nicht das untergeordnete Instrument des Par­la­ments­wil­lens ist, sondern ein Gleichgewicht zwischen beiden Ge­walten be­steht.”

C.Schmitt, Verfassungslehre, 8.Aufl.1993, S.304, nach R.Redslob, Die parla­men­ta­rische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, 1918

Machtgleichgewichte verhindern ihrer Natur nach die ein­deutige Entscheidung zwischen zwei antagonisti­schen Prinzipien. Das hier eingeforderte Gleichge­wicht zwischen den reprä­sentier­ten In­ter­essen des Ganzen und denen seiner Teile ist aber notwendig, wenn ein Absolutismus der einen oder anderen Seite vermie­den wer­den soll.

Wenn man schon von der Vertretbarkeit von Interessen ausgeht, dann muß man auch konse­quent sein und mit dem Repräsenta­tions­ge­­dan­ken ernst ma­chen. Es ge­nügt dann eben nicht, die In­teres­sen der­jeni­gen in einem Parla­ment zu bün­deln, die sich aufgrund ihres Le­bensal­ters und ihrer Kraft über­haupt or­ga­nisie­ren kön­nen. Nur be­stimmte Eli­ten kön­nen die ge­ge­be­nen Be­tei­li­gungs­mög­lichkeiten aus­schöp­fen und dabei ihre Interessen ar­ti­kulie­ren (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, 1983, S.10). Aus ver­­bands­so­zio­­logi­schen Grün­den lassen sich vor allem ganz all­gemeine In­ter­es­­sen und die In­ter­­essen von Rand­grup­pen ohne Macht zur Konflikts­aus­tra­gung nicht or­ga­ni­sie­ren (Hans Herbert von Arnim, Wenn der Staat versagt, FAZ 13.7.1993.); und was nicht or­gani­siert ist, bleibt weit­ge­hend un­ge­schützt. Sind Par­ti­ku­­la­r­in­teres­sen regel­mäßig stär­ker organisiert, stellt von Arnim wei­ter fest, bleibt der Ap­pell zum All­ge­mein­in­ter­es­se auf der Strecke.

Mit Recht hat Böckenförde (am angegebenen Ort) darauf hingewiesen, daß der poli­ti­sche Ort zur Austra­gung von Funda­mentalkonflikten fehlt, wenn kon­sti­tu­ierte Interes­sen­gruppen die einzi­gen Faktoren der politi­schen Wil­lens­­bil­dung sind. Diese Kon­flikte würden ver­drängt, und sie wären nur bei einer Mobilisierung der Ge­samt­heit aller Bür­ger ar­ti­kulati­ons­fä­hig. Diese Mobili­sie­rung bedürfe staat­li­cher Lei­tungs­organe. Ein solches Or­gan wäre der Bun­despräsi­dent mit der Komptenz, die Regierung zu berufen. Das struk­tu­rel­le Defizit des derzeitigen Mo­dells liegt darin, daß er diese Be­fug­nis nicht hat. Das ist ein Re­prä­sen­tati­ons­man­gel, der die je­weilige Ma­jorität der Gruppenin­ter­es­sen durch den Bun­destag un­ein­ge­schränkt herr­schen läßt und dem Ge­mein­wohl keine wirk­same Ver­tre­tung zu­ge­steht. Diese Ver­tre­tung ist eine Be­din­gung, oh­ne die Staat und Gesell­schaft nicht vonein­an­der ge­schie­den werden kön­nen.

Anders als heute wird und muß das Volk doppelt repräsen­tiert sein: In sei­ner Er­schei­nungs­form als bürgerliche Ge­sellschaft mit plu­ralen Interessen in ei­nem Par­lament ab­ge­ordneten Vertreter die­ser Einzelin­teressen; als gan­zes Volk hin­gegen in einer vom Vol­ke direkt ge­wähl­ten Einzelper­sön­lichkeit, die den Staat ver­kör­pert und durch ihren Kanzler die Belange des Ganzen vertritt. Jeder hat ein unmittelbar selbst­be­zo­ge­nes Ei­gen­in­ter­es­se und ein manchmal damit kon­kurrierendes Eigen­interesse am Be­stand der Gruppe hat, zu der er gehört und die ihn schützt.

Das präsidiale Regierungssystem wie in den USA und Frankreich gilt in Deutschland gewissen linksradikalen Publizisten als rechtsradikal. Indem es die „Krise der Repräsentation“ benenne, bleibe „rechtsradikales Staatsrechtsdenken konzeptionll jedoch im Rahmen dessen, was in der“ 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts gedacht worden und vor allem mit dem Werk Carl Schmitts verbunden sei.

„Skeptisch dem Vermögen gegenüber, mit den Mitteln menschlicher Ratio eine bessere Weltordnung zu entwerfen, neigen seine Protagonisten nicht selten mehr dazu, das Bild von der Vergangnheit zurechtzurücken, als eine Zukunft zu entwerfen.“

Julika Rosenstock, Vom Anspruch auf Ungleichheit, 2015, S.155 ff.

Nun mag es enttäuschend für eine linksradikale Erwartungshaltung sein, in dem konservativen Buch „Der totale Parteienstaat (1994) keinen großen, visionären Wurf für eine bessere Welt und keine umstürzlerischen Forderungen vorzufinden. Ein Mehr an demokratischer Repräsentation kann man schlechterdings nicht mit rechtlichen Argumenten als außerhalb der freiheitlichen demokatischen Grundordnung bezeichnen, und das Entwerfen weltverbessernder Utopien ist eher Sache der Linken.

Wenn wir uns schon im Zeitalter der Massendemokratie aus praktischen Gründen so organisieren, daß wir Interessen für vertretbar und repräsentierbar halten, muß das Repräsentationserfordernis auch für den Bestand des Ganzen gelten, nicht nur für gesellschaftliche Einzelinteressen. Ausschließlich parteigebundene Interessen – im Bundestag – repräsentiert zu sehen, hatte zu einem totalen Parteienstaat und einer Parteienoligarchie geführt. Deren Alleinherrschaft könnte durch ein präsidiales Regierungssystem ausbalanciert werden, in dem das Volk seinen Präsidenten direkt wählt.

Seitdem sich der frühneuzeitliche Staat mit dem absoluten Monarchen an der Spitze historisch herausgebildet hatte, stand er im Gegensatz zur (damals ständisch gegliederten) Gesellschaft. Diesen Konflikt löste er, indem der absolute Staat die Zivilgesellschaft überwältigte. Unterdessen kristallierten sich drei Modelle heraus, den Interessengegensatz zwischen Staat und Gesellschaft zu lösen: den absoluten Staat, die absolute Gesellschaft oder eine verfassungsrechtliche Machtbalance zwischen beiden. Diese ist zu bevorzugen, wenn weder das Interesse an einem effektiven Ganzen geschmälert werden soll noch die bürgerlichen Rechte seiner gesellschaftlichen Teile.

Ein absoluter Staat, wie er sich inzwischen in Rußland abzeichnet, eignet sich für uns zur Zeit nur als Denkmodell zur Erläuterung etatistischer Denkweise. Es geht über die bloße Trennung von Staat und Ge­sell­schaft weit hin­aus und stellt eine Kampfansage des Staates an die Gesell­schaft dar, ein Programm zu ihrer Do­mestikation und Beherr­schung und eig­net sich als ex­treme Gegenposition zum Partei­enstaat besonders zur exem­pla­ri­schen Er­klärung rein etatistischer Denk­weise. Gesellschaftliche Freiheitsrechte wären so stark eingeschränkt, daß ein solcher Staat nur zur Abwendung sonst drohenden Chaos mehrheitsfähig wäre. Die Idee der absoluten Republik habe ich darum schon 1994 abgelehnt:

„Es bleibt mit der Idee der preußi­schen, der abso­luten Republik das Mo­dell ei­nes streng dis­zi­pli­nie­ren­den Machtstaates, das nur zur Zeit nicht aktuell ist, ei­nes Staates, den man nicht liebt und nach dem sich si­cher­lich auch nur we­nige seh­nen, der aber dereinst einmal die Ultima ratio sein könn­te, wenn die Alter­native zu ihm nur noch das Chaos ist.“

Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1. Auf. 1994, S.148.

Dieses Chaos könnte zum Beispiel ein Klima-Chaos oder Klimanotstand sein, der, aus Sicht einer radikal klimaphoben Regierung, Anlaß zu einem kalten Staatsstreich geben und in eine Öko-Diktatur münden könnte. Auch das wäre eine Verwirklichungsform einer absoluten Republik, der Öko-Republik.

Wenn Pfahl-Traughber (Konservative Revolution und Neue Rechte, 1998, S.173) behauptet, ein Staatsabsolutismus sei das Modell meiner Wahl, begreift er den Sinn der ganzen Darstellung nicht. Zwar spart er nicht mit vergiftetem Lob, innerhalb der Neuen Rechten erreichten nur meine Arbeiten das Niveau meiner „Vorbilder aus der Weimarer Republik“ (a.a.O. S.233), ein Kompliment, das ich ihm fachlich leider nicht zurückgeben kann. Er reißt aber gern zitierte Sätze sinnentstellend aus dem Kontext und arbeitet wissenschaftlich nicht sauber.

Wir brauchen das Präsidentenamt nämlich nicht, um einen „starken Machtstaat“ zu errichten. Wir benötigen es vielmehr konstruktiv für eine ausgewogene Machtbalance, für die ge­wal­­tenteilen­de Tren­nung von Staat und Gesellschaft und um das Re­prä­sen­ta­tions­de­fi­zit bezüglich des Gemeinwohls zu füllen. Das kann das Amt nach heuti­gem Verfas­sungszu­stand nicht leisten. Zu konstitutionell-monarchischen Zeiten rechtfertigte sich die Idee der parla­menta­ri­schen Re­gierungsform als syste­müberwindendes Kampf­­­­­­­instru­ment ge­gen die Idee der mon­ar­chi­schen Sou­ve­rä­ni­tät: Dem Monarchen sollte die Ver­ant­wort­lichkeit für die Re­gie­rungsge­walt entwun­den werden, weil er keine demo­kra­tische Legitimation be­saß. Nach 1918 wurde die Idee der parla­menta­ri­schen Re­gie­rungs­form mit den Wor­ten des früheren Bundesverfassungs-Richters und Bundespräsidenten Ro­man Herzogs “in die demo­kratische Epo­che herüberge­schleppt”, die Exekutive “demokra­ti­siert”, ihr je­de Tätig­keit oh­ne Grundlage eines parlamenta­risch be­schlos­se­nen Geset­zes unter­sagt und darüber hinaus noch die parlamentari­sche Abhän­gig­keit der Re­gierung “in exzes­siver Form ein­ge­führt.” (Roman Herzog, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Art.20 GG, V., A. Rdn.28.) Hier gilt es den He­bel an­zuset­zen. Die fossilen Über­bleib­sel aus der Epoche des Par­la­ments­kampfes gegen die Krone müs­sen beseitigt und eine direktdemokra­tisch ge­wählte Vertretung des Gesamtinteresses gegen die Parikularinteressen einge­setzt werden.

„Nichts, aber auch gar nichts wür­de gegen diese Forderung die pole­mi­schen Be­haup­tung rechtfertigen, dieser wer­de ein starker Mann sein oder wie die alten Sprüche aus der radi­kal­li­be­ra­len Mot­ten­ki­ste noch lauten. Die Prinzipien und Wesensmerk­male der frei­heit­li­chen demo­kratischen Grund­ord­nung wä­ren mit­einander teil­wei­se unver­einbar, wenn man den Ehr­geiz hätte, jedes dieser Ge­stal­tungs­prin­zi­pi­en unein­geschränkt ver­wirk­li­chen zu wol­len. Dann würde es an­dere verdrän­gen. Jede Ver­fassungsordnung muß sich um ein Austarieren und auf­ein­ander Einwirken teils ge­gen­läu­fi­ger Wün­­sche bemü­hen. Die stärkere Betonung des ei­nen Merk­mals bewirkt unter Um­­ständen eine zwangs­läufige Ge­wichts­ver­rin­ge­rung ei­nes an­deren. So hat die Ein­setzung des Kanzlers durch den Präsiden­ten ein stark ge­waltentei­len­des Gewicht; ja ei­gent­lich entspricht nur ein solches Präsidial­sy­stem eini­ger­maßen dem Bild einer ge­waltenteilen­den Demokratie, in dem das Parla­ment die vom Präsiden­ten berufe­ne Regierung weder von Rechts wegen zu be­stä­tigen noch zu stürzen befugt ist. (Roman Herzog am angegebenen Ort).

Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1994, S.181.

Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen sogar ausdrücklich ausgesprochen:

Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Wie diesen Anforderungen entsprochen wird, ist für die Frage der Vereinbarkeit eines politischen Konzepts mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht entscheidend. So vermag die Ablehnung des Parlamentarismus, wenn sie mit der Forderung nach dessen Ersetzung durch ein plebiszitäres System verbunden ist, den Vorwurf der Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht zu begründen.
(BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 543)

BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 543.

Wenn selbst die völlige Abschaffung des Parlamentarismus und seine Ersetzung durch ein plebiszitäres System verfassungskonform ist, dann ist es seine Ergänzung – unter Beibehaltung der Gesetzgebungskompetenz des Bundestags – erst recht. Eine solche Ergänzung wäre die Direktwahl eines Bundespräsidenten durch das Volk, der die ihm verantwortliche Bundesregierung einsetzen würde.

Selbst die Einführung einer konstitutionellen Monarchie wie in England wäre hier ohne Verstoß gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung möglich:

Der Regelungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG geht über den für einen freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbaren Mindestgehalt hinaus. Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählen insbesondere nicht die von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Prinzipien der Republik und des Bundesstaats, da auch konstitutionelle Monarchien und Zentralstaaten dem Leitbild einer freiheitlichen Demokratie entsprechen können (vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 180; Meier, a.a.O., S. 317; Papier/Durner, AöR 128 <2003>, S. 340 <357>). Eine Partei, die sich für ein derartiges Verfassungsmodell einsetzt, begibt sich nicht in einen Widerspruch zu Grundsätzen der freiheitlichen Demokratie, der einen Ausschluss aus dem Prozess der politischen Willensbildung rechtfertigen könnte. Daher ist der Regelungsgehalt des Schutzguts “freiheitliche demokratische Grundordnung” in Art. 21 Abs. 2 GG – ungeachtet inhaltlicher Überschneidungen – eigenständig und unabhängig vom Regelungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG zu bestimmen.
(BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 537)

BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 537

Klaus Kunze zum 10.11.2019