Deutschland 2019 erweckt für viele den Eindruck, als flögen unserem Staat demnächst seine gesellschaftlichen Einzelteile um die Ohren. Tiefe Klüfte des Mißverstehens klaffen zwischen einem sich internationalistisch und links verstehenden Teil und einer Noch-Mehrheit deutsch und traditionell Denkender. Die Feindseligkeit entlädt sich, wenn Redner niedergebrüllt, Autos angezündet und Andersdenkende ins Krankenhaus geprügelt werden.
Daß der Mensch des Menschen Wolf sein kann, wenn man ihn läßt, hatte der Staatsdenker Thomas Hobbes in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts schmerzlich beobachtet. Dem Staat als Hüter des inneren Friedens maß er die Aufgabe zu, den weltanschaulichen Haß einzuhegen. Er sollte seine Bürger vor Übergriffen Andersgläubiger schützen, mußte ihnen aber den Gehorsam abverlangen, selbst den Frieden der Gesetze zu wahren. Das neuzeitliche Staatsdenken bis zu unserem Grundgesetz sieht darin den Zweck des Staates und den Sinn des abgeforderten Verzichtes, über ungläubige Nachbarn herzufallen: Der innere Frieden soll jeden Bürger schützen und ruhig schlafen lassen.
Heute vermag nicht mehr jeder Bürger ruhig zu schlafen, weil er fürchten muß, der Staat könne es sein, der gerade schläft. Haben wir einen Nachtwächterstaat, der gelangweilt zusieht, wie die Gesellschaft sich in ihre Einzelteile zerlegt? Wer trägt die Verantwortung für die Integrität des Ganzen?
Faktisch niemand, da liegt das Problem. Es besteht in mangelnder Repräsentation des Interesses aller Bürger an einem funktionierenden Staatsganzen. Der Idee nach sollte dieses Interesse in der Person des Bundespräsidenten verkörpern. Dieser ist aber nicht durch direkte Wahl demokratisch legitimiert und hat auch keine nennenswerten Kompetenzen. Mangels nennenswerter verfassungsrechtlicher Machtkomptenz benötigt er auch keine Fachkompetenz. Und die Repräsentaten regierender Parteien schicken ihre Polizisten und Verfassungsschützer je nach ihrem parteipolitischen Gusto auf andere los oder eben nicht. Hundertschaften müssen machtlos zusehen, wie linke Rollkommandos mit Gewalt Vorträge verhindern, und nach dem Partei-Wechsel an der Spitze des Bundesamtes galt die Verfassung plötzlich von anderer Seite als gefährdet als zuvor.
Und unsere Volksvertreter? Das Grundgesetz erlaubt uns Bürgern, Vertreter zu wählen, die über uns herrschen. Anders als in einer buchstäblichen Demokratie entscheiden wir keine Sachfragen als Volk direkt. Parlamentarier nehmen uns das ab. Im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes sollen die Abgeordneten die verschiedenen Interessen verschiedener Wählerschichten repräsentieren und Gesetze geben. Das muß auch so bleiben. Wer aber repräsentiert das Interesse aller Bürger daran, daß dieser Staat nicht von inneren Kräften zerrissen wird? Die jeweilige Mehrheitskoalition im Bundestag ist selbst aus einer dieser Kräfte hervorgegangen. Wer garantiert den inneren Frieden, wer verhindert den ausgebrochenen geistigen Bürgerkrieg, wer hält bewaffnete Glaubenskrieger in Schach? Bundestagsabgeordnete mit Antifa-T-Shirt und als Geldgeber im „Kampf gegen Rechts“ sind erkennbar selbst Partei, sind geistige Kombattanten oder fördern schon lange extremistische Straßenkämpfer mit Steuergeldern.
Das Strukturdefizit des Grundgesetzes besteht in einem Repräsentationsmangel. Der in ein gesellschaftliches Kräfteparallelogramm eingebundene Bürger bedarf der Repräsentation seiner Interessen gegenüber anderen gesellschaftlichen Mächten in einem pluralen Vertretungsorgan, dem Bundestag. Aber auch sein Fundamentalinteresse an der Integrität desjenigen Ganzen, das seine individuelle Freiheit schützt, müßte vertreten werden. Das eigentliche Problem besteht im Konflikt zwischen verschiedenartigen Einzelbelangen und ihrem möglichen Gegensatz zum umfassenden öffentlichen Interesse.
Der Parlamentarismus steht und fällt damit, daß sein Grundgedanke durchgeführt wird: die Repräsentation. Das ist in Deutschland, anders als in Frankreich und den USA, nicht der Fall. Dort repräsentiert der Präsident den Staat in ihrem Interessengegensatz zur Gesellschaft.
Jeder einzelne hat aber zwei Seelen in seiner Brust: Er hat ein Interesse an einem möglichst großen Anteil an den volkswirtschaftlich verfügbaren Gütern, der im Geldzeitalter seinem innergesellschaftlichen Rang entspricht; zugleich aber auch ein Interesse, das sich spezifisch auf den unbeschädigten Fortbestand des Ganzen gegen alle Teilkräfte als solche und gegenüber anderen Ganzheiten richtet, also gegenüber anderen Staaten. Es geht also um Interessen von grundsätzlich zweierlei Natur. Es gilt die durch den Staat organisierte Allgemeinheit durch andere Repräsentanten zu vertreten als die Gesellschaft in ihrer wirtschaftlichen, regionalen, weltanschaulichen und politischen Zersplitterung.
Dieses Fundamentalinteresse jedes einzelnen kann aber in einem interessenpluralistisch organisierten Gremium nicht repräsentiert werden, sondern nur in einer Person. Diese repräsentiert das Ganze gegenüber seinen Teilen. Die Interessen des Ganzen und die seiner Teile können nicht in demselben Organ vertreten sein. Dieses müßte sonst gleichzeitig gegensätzliche Interessen vertreten, was es der Natur der Sache nach nicht kann. Das zeigt sich an der Person des Bundeskanzlers, der, obwohl Parteivorsitzender, das Wohl des ganzen Volkes zugleich mehren soll, also auch das der Interessengegner seiner Partei. Im 18. Jahrhundert, der Epoche des absoluten Staates, repräsentierte der König das Volk und verkörperte dessen Einheit. In unserem Jahrhundert der absoluten Gesellschaft wählt es sich ein Parlament voller kleiner Könige, die es in seiner pluralen Form als Gesellschaft repräsentieren sollen. Es wird Zeit, wieder beide Aspekte zwischenmenschlichen Daseins zugleich zu repräsentieren.
Nach deutscher Verfassungstradition ist der berufene Vertreter der Fundamentalinteressen aller Bürger der vom Volke direkt gewählte Bundespräsident. Dieser ernennt einen nur von ihm abhängigen Kanzler, wie in Frankreich und der Weimarer Republik, oder er regiert selbst, wie in den USA. Sein Kanzler ist aber nicht vom Parlament abhängig wie im Parlamentarismus. Ihm wird gerade gegenüber dem Parlament, das auch künftig die Gesellschaft mit ihren Binneninteressen vertritt, die notwendige Repräsentation des zu den innergesellschaftlichen Interessen meistens quer liegenden Allgemeininteresses obliegen, und als dessen Vertreter wird er mit staatlicher Regierungsmacht in einem gewaltenteilenden Verfassungssystem dem gesetzgebenden Parlament ebenbürtig gegenüberstehen.
Das wird dann im Ergebnis kein Parlamentarismus im engeren Sinne mehr sein, sondern ein Präsidialsystem, das im Prinzip so funktionieren wird, wie es auch bei unseren amerikanischen und französischen Nachbarn funktioniert. Nebenbei bemerkt wäre ein Präsidialsystem, wie hier vorgeschlagen, mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des BVerfG ohne weiteres vereinbar. Art.79 III und 20 GG verlangen nicht das rein parlamentarische Regierungssystem, sondern lassen ein präsidiales durchaus zu (Roman Herzog, in: Maunz-Dürig, Kommentar zum GG, Art.20 GG II Rdn.81). Wünschenswert ist dabei eine möglichst weitgehende Trennung von Staat und Gesellschaft in Form einer völligen Unabhängigkeit des Präsidenten und der Regierung vom gesetzgebenden Parlament.
Die Ironie der Geschichte des historischen Liberalismus bringt es mit sich, daß gerade das hier geforderte Regierungssystem einmal liberalen Forderungen exemplarisch entsprochen gehabt hatte: Bevor es Liberale 1918 und 1948 bevorzugten, nach der ganzen Macht zu greifen und einen liberalen Parlamentsabsolutismus zu errichten, sahen sie
“das Wesen des echten Parlamentarismus gerade darin, daß die Exekutive nicht das untergeordnete Instrument des Parlamentswillens ist, sondern ein Gleichgewicht zwischen beiden Gewalten besteht.”
C.Schmitt, Verfassungslehre, 8.Aufl.1993, S.304, nach R.Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, 1918
Machtgleichgewichte verhindern ihrer Natur nach die eindeutige Entscheidung zwischen zwei antagonistischen Prinzipien. Das hier eingeforderte Gleichgewicht zwischen den repräsentierten Interessen des Ganzen und denen seiner Teile ist aber notwendig, wenn ein Absolutismus der einen oder anderen Seite vermieden werden soll.
Wenn man schon von der Vertretbarkeit von Interessen ausgeht, dann muß man auch konsequent sein und mit dem Repräsentationsgedanken ernst machen. Es genügt dann eben nicht, die Interessen derjenigen in einem Parlament zu bündeln, die sich aufgrund ihres Lebensalters und ihrer Kraft überhaupt organisieren können. Nur bestimmte Eliten können die gegebenen Beteiligungsmöglichkeiten ausschöpfen und dabei ihre Interessen artikulieren (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, 1983, S.10). Aus verbandssoziologischen Gründen lassen sich vor allem ganz allgemeine Interessen und die Interessen von Randgruppen ohne Macht zur Konfliktsaustragung nicht organisieren (Hans Herbert von Arnim, Wenn der Staat versagt, FAZ 13.7.1993.); und was nicht organisiert ist, bleibt weitgehend ungeschützt. Sind Partikularinteressen regelmäßig stärker organisiert, stellt von Arnim weiter fest, bleibt der Appell zum Allgemeininteresse auf der Strecke.
Mit Recht hat Böckenförde (am angegebenen Ort) darauf hingewiesen, daß der politische Ort zur Austragung von Fundamentalkonflikten fehlt, wenn konstituierte Interessengruppen die einzigen Faktoren der politischen Willensbildung sind. Diese Konflikte würden verdrängt, und sie wären nur bei einer Mobilisierung der Gesamtheit aller Bürger artikulationsfähig. Diese Mobilisierung bedürfe staatlicher Leitungsorgane. Ein solches Organ wäre der Bundespräsident mit der Komptenz, die Regierung zu berufen. Das strukturelle Defizit des derzeitigen Modells liegt darin, daß er diese Befugnis nicht hat. Das ist ein Repräsentationsmangel, der die jeweilige Majorität der Gruppeninteressen durch den Bundestag uneingeschränkt herrschen läßt und dem Gemeinwohl keine wirksame Vertretung zugesteht. Diese Vertretung ist eine Bedingung, ohne die Staat und Gesellschaft nicht voneinander geschieden werden können.
Anders als heute wird und muß das Volk doppelt repräsentiert sein: In seiner Erscheinungsform als bürgerliche Gesellschaft mit pluralen Interessen in einem Parlament abgeordneten Vertreter dieser Einzelinteressen; als ganzes Volk hingegen in einer vom Volke direkt gewählten Einzelpersönlichkeit, die den Staat verkörpert und durch ihren Kanzler die Belange des Ganzen vertritt. Jeder hat ein unmittelbar selbstbezogenes Eigeninteresse und ein manchmal damit konkurrierendes Eigeninteresse am Bestand der Gruppe hat, zu der er gehört und die ihn schützt.
Das präsidiale Regierungssystem wie in den USA und Frankreich gilt in Deutschland gewissen linksradikalen Publizisten als rechtsradikal. Indem es die „Krise der Repräsentation“ benenne, bleibe „rechtsradikales Staatsrechtsdenken konzeptionll jedoch im Rahmen dessen, was in der“ 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts gedacht worden und vor allem mit dem Werk Carl Schmitts verbunden sei.
„Skeptisch dem Vermögen gegenüber, mit den Mitteln menschlicher Ratio eine bessere Weltordnung zu entwerfen, neigen seine Protagonisten nicht selten mehr dazu, das Bild von der Vergangnheit zurechtzurücken, als eine Zukunft zu entwerfen.“
Julika Rosenstock, Vom Anspruch auf Ungleichheit, 2015, S.155 ff.
Nun mag es enttäuschend für eine linksradikale Erwartungshaltung sein, in dem konservativen Buch „Der totale Parteienstaat (1994) keinen großen, visionären Wurf für eine bessere Welt und keine umstürzlerischen Forderungen vorzufinden. Ein Mehr an demokratischer Repräsentation kann man schlechterdings nicht mit rechtlichen Argumenten als außerhalb der freiheitlichen demokatischen Grundordnung bezeichnen, und das Entwerfen weltverbessernder Utopien ist eher Sache der Linken.
Wenn wir uns schon im Zeitalter der Massendemokratie aus praktischen Gründen so organisieren, daß wir Interessen für vertretbar und repräsentierbar halten, muß das Repräsentationserfordernis auch für den Bestand des Ganzen gelten, nicht nur für gesellschaftliche Einzelinteressen. Ausschließlich parteigebundene Interessen – im Bundestag – repräsentiert zu sehen, hatte zu einem totalen Parteienstaat und einer Parteienoligarchie geführt. Deren Alleinherrschaft könnte durch ein präsidiales Regierungssystem ausbalanciert werden, in dem das Volk seinen Präsidenten direkt wählt.
Seitdem sich der frühneuzeitliche Staat mit dem absoluten Monarchen an der Spitze historisch herausgebildet hatte, stand er im Gegensatz zur (damals ständisch gegliederten) Gesellschaft. Diesen Konflikt löste er, indem der absolute Staat die Zivilgesellschaft überwältigte. Unterdessen kristallierten sich drei Modelle heraus, den Interessengegensatz zwischen Staat und Gesellschaft zu lösen: den absoluten Staat, die absolute Gesellschaft oder eine verfassungsrechtliche Machtbalance zwischen beiden. Diese ist zu bevorzugen, wenn weder das Interesse an einem effektiven Ganzen geschmälert werden soll noch die bürgerlichen Rechte seiner gesellschaftlichen Teile.
Ein absoluter Staat, wie er sich inzwischen in Rußland abzeichnet, eignet sich für uns zur Zeit nur als Denkmodell zur Erläuterung etatistischer Denkweise. Es geht über die bloße Trennung von Staat und Gesellschaft weit hinaus und stellt eine Kampfansage des Staates an die Gesellschaft dar, ein Programm zu ihrer Domestikation und Beherrschung und eignet sich als extreme Gegenposition zum Parteienstaat besonders zur exemplarischen Erklärung rein etatistischer Denkweise. Gesellschaftliche Freiheitsrechte wären so stark eingeschränkt, daß ein solcher Staat nur zur Abwendung sonst drohenden Chaos mehrheitsfähig wäre. Die Idee der absoluten Republik habe ich darum schon 1994 abgelehnt:
„Es bleibt mit der Idee der preußischen, der absoluten Republik das Modell eines streng disziplinierenden Machtstaates, das nur zur Zeit nicht aktuell ist, eines Staates, den man nicht liebt und nach dem sich sicherlich auch nur wenige sehnen, der aber dereinst einmal die Ultima ratio sein könnte, wenn die Alternative zu ihm nur noch das Chaos ist.“
Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1. Auf. 1994, S.148.
Dieses Chaos könnte zum Beispiel ein Klima-Chaos oder Klimanotstand sein, der, aus Sicht einer radikal klimaphoben Regierung, Anlaß zu einem kalten Staatsstreich geben und in eine Öko-Diktatur münden könnte. Auch das wäre eine Verwirklichungsform einer absoluten Republik, der Öko-Republik.
Wenn Pfahl-Traughber (Konservative Revolution und Neue Rechte, 1998, S.173) behauptet, ein Staatsabsolutismus sei das Modell meiner Wahl, begreift er den Sinn der ganzen Darstellung nicht. Zwar spart er nicht mit vergiftetem Lob, innerhalb der Neuen Rechten erreichten nur meine Arbeiten das Niveau meiner „Vorbilder aus der Weimarer Republik“ (a.a.O. S.233), ein Kompliment, das ich ihm fachlich leider nicht zurückgeben kann. Er reißt aber gern zitierte Sätze sinnentstellend aus dem Kontext und arbeitet wissenschaftlich nicht sauber.
Wir brauchen das Präsidentenamt nämlich nicht, um einen „starken Machtstaat“ zu errichten. Wir benötigen es vielmehr konstruktiv für eine ausgewogene Machtbalance, für die gewaltenteilende Trennung von Staat und Gesellschaft und um das Repräsentationsdefizit bezüglich des Gemeinwohls zu füllen. Das kann das Amt nach heutigem Verfassungszustand nicht leisten. Zu konstitutionell-monarchischen Zeiten rechtfertigte sich die Idee der parlamentarischen Regierungsform als systemüberwindendes Kampfinstrument gegen die Idee der monarchischen Souveränität: Dem Monarchen sollte die Verantwortlichkeit für die Regierungsgewalt entwunden werden, weil er keine demokratische Legitimation besaß. Nach 1918 wurde die Idee der parlamentarischen Regierungsform mit den Worten des früheren Bundesverfassungs-Richters und Bundespräsidenten Roman Herzogs “in die demokratische Epoche herübergeschleppt”, die Exekutive “demokratisiert”, ihr jede Tätigkeit ohne Grundlage eines parlamentarisch beschlossenen Gesetzes untersagt und darüber hinaus noch die parlamentarische Abhängigkeit der Regierung “in exzessiver Form eingeführt.” (Roman Herzog, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Art.20 GG, V., A. Rdn.28.) Hier gilt es den Hebel anzusetzen. Die fossilen Überbleibsel aus der Epoche des Parlamentskampfes gegen die Krone müssen beseitigt und eine direktdemokratisch gewählte Vertretung des Gesamtinteresses gegen die Parikularinteressen eingesetzt werden.
„Nichts, aber auch gar nichts würde gegen diese Forderung die polemischen Behauptung rechtfertigen, dieser werde ein starker Mann sein oder wie die alten Sprüche aus der radikalliberalen Mottenkiste noch lauten. Die Prinzipien und Wesensmerkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wären miteinander teilweise unvereinbar, wenn man den Ehrgeiz hätte, jedes dieser Gestaltungsprinzipien uneingeschränkt verwirklichen zu wollen. Dann würde es andere verdrängen. Jede Verfassungsordnung muß sich um ein Austarieren und aufeinander Einwirken teils gegenläufiger Wünsche bemühen. Die stärkere Betonung des einen Merkmals bewirkt unter Umständen eine zwangsläufige Gewichtsverringerung eines anderen. So hat die Einsetzung des Kanzlers durch den Präsidenten ein stark gewaltenteilendes Gewicht; ja eigentlich entspricht nur ein solches Präsidialsystem einigermaßen dem Bild einer gewaltenteilenden Demokratie, in dem das Parlament die vom Präsidenten berufene Regierung weder von Rechts wegen zu bestätigen noch zu stürzen befugt ist. (Roman Herzog am angegebenen Ort).
Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1994, S.181.
Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen sogar ausdrücklich ausgesprochen:
Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Wie diesen Anforderungen entsprochen wird, ist für die Frage der Vereinbarkeit eines politischen Konzepts mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht entscheidend. So vermag die Ablehnung des Parlamentarismus, wenn sie mit der Forderung nach dessen Ersetzung durch ein plebiszitäres System verbunden ist, den Vorwurf der Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht zu begründen.
BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 543.
(BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 543)
Wenn selbst die völlige Abschaffung des Parlamentarismus und seine Ersetzung durch ein plebiszitäres System verfassungskonform ist, dann ist es seine Ergänzung – unter Beibehaltung der Gesetzgebungskompetenz des Bundestags – erst recht. Eine solche Ergänzung wäre die Direktwahl eines Bundespräsidenten durch das Volk, der die ihm verantwortliche Bundesregierung einsetzen würde.
Selbst die Einführung einer konstitutionellen Monarchie wie in England wäre hier ohne Verstoß gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung möglich:
Der Regelungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG geht über den für einen freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbaren Mindestgehalt hinaus. Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zählen insbesondere nicht die von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Prinzipien der Republik und des Bundesstaats, da auch konstitutionelle Monarchien und Zentralstaaten dem Leitbild einer freiheitlichen Demokratie entsprechen können (vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 180; Meier, a.a.O., S. 317; Papier/Durner, AöR 128 <2003>, S. 340 <357>). Eine Partei, die sich für ein derartiges Verfassungsmodell einsetzt, begibt sich nicht in einen Widerspruch zu Grundsätzen der freiheitlichen Demokratie, der einen Ausschluss aus dem Prozess der politischen Willensbildung rechtfertigen könnte. Daher ist der Regelungsgehalt des Schutzguts “freiheitliche demokratische Grundordnung” in Art. 21 Abs. 2 GG – ungeachtet inhaltlicher Überschneidungen – eigenständig und unabhängig vom Regelungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG zu bestimmen.
BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 537
(BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 537)
Klaus Kunze zum 10.11.2019
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