Der grüne Gott

In ohnmächtiger Wut verteidigen linke Rodungsgegner Forsten wie den Hambacher Forst und vormals manchen anderen. Für nüchtern rechnende Planer schlagen sie ihre Schlachten gegen die Polizei ohne Sinn und Verstand.

Dabei haben sie einen rechten literarischen Vorgänger. Der ostpreußische Kriegsheimkehrer Ernst Wiechert hatte 1922 in der Romangestalt des Henner Wittich sein Alter Ego geschaffen. Hauptmann Wittich war im Felde ein harter Hund. Er kehrt der modernen Welt mit ihrer mechanisierten Menschenvernichtung den Rücken und zieht sich in seinen ostpreußischen Urwald zurück. Wer sich unbefugt hineinwagt, riskiert sein Leben.

Es ist der städtische Bürokrat Dr. Plurr. Durchdrungen von Machtgier und egalitärem Sendungsbewußtsein will er den Wald für alle öffnen, Teile roden und arbeitslose Städter ansiedeln. Wie in der Legende von Avalon erreicht man Wittichs Haus im Wald rudernd über einen großen See. Von weitem sieht man die staatliche “Kommission” schon kommen. Der Konflikt entlädt sich im dramatischen Finale eines Waldes, den Wittich lieber ansteckt als ihn entweihen zu lassen.

Hundert Jahre vor der modischen Schnapsidee des Konstruktivismus sah der Dichter Ernst Wiechert im Wald nicht nur beliebig zusammenstehende Bäume: Er sah den Wald wie eine beseelte Kraft: seinen „grünen Gott“.

Er hielt die Totenwacht für den gestorbenen Wald. Er hatte nicht sein Bruder sein können, er wußte nicht, ob er sein Herr sein würde, er stand nur wie vor der Leiche eines Königs, das blanke Schwert in  der Hand, und er wußte, daß er niemals das steinerne Antlitz aus seinem Leben verlieren würde. Er wußte auch, daß niemand die Leiche rauben würde, solange er lebte. Und wenn er sie verbrennen müßte, aber keine Menschenhand sollte an die heiligen Züge rühren. Es würde sein, als ob er seinen Gott tötete, aber über dem Tode würde heiligend das Wort des Franziskus stehen: „Hüte  den Wald!“, und der Tod war besser als die Tempelschändung. Und er wußte, daß die Erde blieb, die den Wald trug, daß er aus dem sterbenden Walde den Samen des grünen Gottes hinausnehmen konnte in seinen Händen, ihn säen und pflanzen in andere Erde.  

Ernst Wiechert, Der Wald, 1922, 2.Auf.2021, Lindenbaum-Verlag, ISBN: 978-3-938176-91-7, S.137.

Wie heute grüne Rodungsgegner lieber am Wald herumsägen und aus seinem Holz Baumhäuser oder Barrikaden bauen, zerstört auch Henner Wittig zuletzt lieber, was er liebt, als es „schänden“ zu lassen. Modernen „grünen“ Rodungsgegnern dürfen wir nicht einfach unterstellen, sich über die tiefsten seelischen Gründe ihres Hasses auf Rodung, Staat und Gesellschaft klar zu sein. Ihre Verachtung speist sich aber aus denselben Motiven wie Henner Wittichs: Die Gesellschaft erscheint krank, und der gesunde, natürliche Wald ist ihr Gegenentwurf.

Der Wald ist biologisch ein zusammenhängendes Gefüge; aus transzendenter Sicht Ernst Wiecherts ein “grüner Gott”[1]

Mythos Wald

In ihm verdichten sich namenlose Wirkkräfte. Mit Kategorien unserer nüchternen Moderne sind sie nicht zu fassen. Doch wer selbst oft und gern im Wald ist, wird sich ihnen schwer entziehen können. Der bloße Anblick von Wäldern und Hügeln stimmt uns feierlich. Grün hat psychologisch eine beruhigende Wirkung. Geborgen im Wald fühlen wir uns sicher. Bevor aufklärerische Verstandesschärfe die bunten Seifenblasen der Transzendenz platzen ließen, traten sie anstelle alten Götterglaubens.

Das numen ist im Gegensatz zum deus (Gott, wie er in der Folgezeit aufgefaßt wurde) weder ein Wesen noch eine Person, sondern eine nackte Kraft. die durch ihre Fähigkeit, Wirkungen auszulösen, zu handeln und in Erscheinung zu treten, definiert wird. Das Erfühlen der tatsächlichen Gegenwart solcher Kräfte, solcher numina, als etwas Transzendentes und doch in allem Innewohnendes, als Wunderbares und gleichzeitig Furchterregendes, stellte das Wesen der ursprünglichen Erfahrung des «Heiligen», des «Sakralen»  dar.

Julius Evola (1898-1974), Revolte gegen die moderne Welt, 1969, 2.deutsche Auflage 1993, S.73.

In diese emotionale Welt flüchtete sich Hauptmann Wittich. Sein Dichter Ernst Wiechert kam vor hundert Jahren noch ganz ohne den blöden Anglizismus des flash backs aus, wenn er schildert:

Henner blieb allein. Wie Nebel aus dem gepflügten Feld stiegen aus der aufgerührten Tiefe seiner Seele die Bilder der letzten ruhelosen Jahre, flüchtig und ineinander fließend, aber alle unter dem strengen, scharfen Licht, unter dem seine kühlen Augen auch diese großen Jahre betrachtet hatten, das wenige Liebliche leise verschönt, das Finstere und Grausige leise gemildert. Eine Poesie des Krieges hatte es niemals für ihn gegeben, nur daß der ruhige Atem der Selbstverständlichkeit zuzeiten sich bei ihm zum Sturmwind einer wilden Größe und Erhabenheit beflügelte, wenn das scheinbar Unerträgliche ihm zum Erträglichen wurde, das scheinbar Übermenschliche zum Menschlichen; wenn er auf sich selbst wie auf eine Erzfigur blickte, von kühlster Künstlerhand geschaffen und rein und schlackenlos die Feuerprobe überstehend. Aber mit Erbitterung und Zähneknirschen dachte er an die Hölle des letzten Jahres, wo der Mensch aufgehört hatte, als Mensch zu gelten und zu kämpfen; wo der Feind nicht Faust, nicht Auge, nicht Blöße hatte, sondern einer unendlichen, rohen, wilden, unirdischen Erzmasse glich, die von fremden Riesen geschleudert wurde; die sinnlos und wahllos zerschmetterte, und vor der man ohnmächtig stand, als ob man mit dem blanken Schwerte in der Faust ein Gebirge granitner Felsen zum Zweikampf herausfordern sollte. Er hatte sich beugen müssen, und nicht Gott noch Menschen gab es, denen er das hätte vergeben können.

Ernst Wiechert, Der Wald, 2.Auf.2021, S.60.

Wittich irrt durch seinen Wald, immer wieder heimgesucht von Erinnerungsbildern:

Die Kampfgräben waren wirr und endlos. Überall lagen die Toten. Er ging im Kreise und fand keinen Ausweg. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn. „Wo ist Gott?“, rief er voller Angst. „Im Walde!“, rief es übers Feld. „Im Walde! Im Walde!“ Die Stimmen schwollen an, näher und ferner, als Stimmen der Toten. Am Horizont sah er den Wald. Er sprang aus den Gräben und lief und lief, schwer, langsam, qualvoll. Der Mond ging auf, blutigrot hinter Fichtenwipfeln. Zwei Augen funkelten aus dem Dickicht. Er stand still, gelähmt von kaltem Entsetzen. Ein grauer Wolf kauerte am Waldrande und blickte ihn an, erhob sich lautlos und verschwand im Dunkel. Die Zweige schlugen zusammen, und alles war totenstill …

Ernst Wiechert, Der Wald, 2.Auf.2021, S.36.

In der bürgerlichen Gesellschaft findet sich der Kriegsheimkehrer nicht mehr zurecht. Er war ausgezogen und verteidigte die Welt, die ihm wertvoll erschienen war. Was er nach dem Krieg in Deutschland vorfindet, ekelt ihn an:

An der Straßenbiegung am Dorfteich verhielt der Wanderer zum ersten Male den Schritt. Über zwei hellen Fenstern erschien im Mondlicht eine schwarze Inschrift: „Gasthaus zum Redlichen Preußen! Restauration!“ Die Töne eines Grammophons klangen frech und aufreizend in das Brausen des Frühlingssturmes, und als sie verklungen waren, fiel ein johlender Chor ein, aus dem sich allmählich und in Bruchstücken die Worte lösten: „Licht aus! … Messer raus! … Schlagt den … Zähne aus!“ Plötzlich, wie ein Spuk, versank alles, bis ein einziger wilder Schrei in die Nacht drang. Die Türe flog auf, schleuderte Licht und Lärm auf die Straße, und eine heisere Stimme brüllte in Haß und Wut: „Du Hund! Die Republik soll leben! Verstehst du, Hund?“ Eine Gestalt flog die Treppe hinunter bis auf die weiße Straße, schlug hart auf das Pflaster, raffte sich taumelnd auf, die Arme von sich gestreckt, und rannte, dem Sturm entgegen, in den Mondschein hinaus, während ihr riesiger Schatten, in der Mitte geknickt, an den Hauswänden hinauflief und unter dem First der Dächer gespenstisch hinter ihr herjagte

Ernst Wiechert, Der Wald, 2.Auf.2021, S.8.

Das ist seine Welt nicht mehr. Wittich wird zum Waldgänger. Fraglos muß Ernst Jünger den „Wald“ von Wiechert gelesen haben. Hauptmann Wittich bildet den Prototyp der später von Jünger so genial ausgemalten Waldgängers. Er steht der Gesellschaft mit größtmöglicher innerer Distanz gegenüber.

Flucht in die Innenwelt

Sein Wald ist der Psychotherapeut des Traumatisierten. Auch Hermann Löns hatte ihn poetisch beschrieben. Wiechert übertrifft den Heidedichter noch und schreibt sich in einen Erzählrausch. Er mag die kalten Substantive nicht ohne Adjektiv und ungern einen Satz ohne Metapher lassen. So gelingt ihm eine ergreifende, ausdrucksstarke Schilderung einer Gefühlswelt: expressionistische Dichtkunst in Höchstform!

Der Wald stand in süßem, schwerem Zauber. Die Erde blühte. Goldnes Licht fiel rieselnd gleich schimmernden Körnern durch hohe Wipfelfenster in die gedämpfte Tiefe. Ferne Orgeln erklangen, eines Vögleins Lied hing wie Glockenton über Altären, Weihrauch entquoll den Tiefen der Erde, und unbekannte Götter wandelten mit goldener Monstranz über Tal und Hügel.

Ernst Wiechert, Der Wald, 2.Auf.2021, S.45.
“Goldnes Licht fiel rieselnd gleich schimmernden Körnern durch hohe Wipfelfenster in die gedämpfte Tiefe.”

Henner Wittich flüchtet sich aus der modernen Gesellschaft in seine Innenwelt, symbolisiert durch den Wald. Der ist ein Mysterium, ein Mythos, so daß selbst der örtliche Pfarrer verzweifelt: „Gott, hilf mir gnädig aus diesem Zauberwald!“ (S.45). Viele Kriegsheimkehrer haben damit gerungen, die Schrecken des Krieges literarisch zu verarbeiten: Ernst Jünger (In Stahlgewittern) floh in die emotonale Unbelangbarkeit des reinen Beobachters, Erich Maria Remarque versteckte sich im Gehäuse bürgerlich-pazifistischer Moral. Weniger Talentierte schufen mehr oder weniger banale Apologien eines Heldentumes, für das der Weltkrieg gar keine Gelegenheit mehr bot.

Das alles blendet Wiechert aus und widmet sich völlig der emotionalen Entwicklung des Kriegsheimkehrers. Wittich scheitert an dieser Entwicklung. Sie findet nicht statt. Hart und unbeugsam verteidigt er mit seinem Wald sein innerstes Ich. Von dem war nicht viel geblieben nach vier Jahren Materialschlacht. Lieben? Das konnte er nicht mehr. Liebe ist Schwäche: ein tapferer Soldat seines Regiments verliebte, verlobte und verheiratete sich – drei Fehler! Nur noch das Medaillon mit dem Bild seiner Geliebten vor Augen endete er als winselnder Feigling. Hauptmann Wittich ließ seine Liebesfähigkeit in sich ersterben.

In den Schützengräben des Weltkriegs starb in vielen Soldaten der Glaube an einen guten Gott, an die Gerechtigkeit, an den endlichen Sieg des Guten. Trostlos und einsam zog eine geschlagene Armee zurück in die Heimat, der sie innerlich nicht mehr zugehörten. Ernst von Salomon hat uns das in “Die Geächteten” (1930) in erschütternder Eindringlichkeit deutlich gemacht. Zwischen ihnen und der bürgerlichen Welt mit ihrem Gott gab es keine Verbindung mehr. Wo Generationen im Glauben an einen gütigen Gott erzogen worden waren, gähnte ein Vakuum.

Dieses Vakuum ist bis heute nicht überzeugend gefüllt. Ernst Wiecherts Roman markiert auch die Übergangszeit vom herkömmlichen Christentum zu einer Esoterik, die bis heute – rechts wie links – Viele unbewußt verinnerlicht haben. Sektenförmig verinnerlichter Klimaglauben und Ökokult sind ihre modernen Erscheinungsformen.

Hauptmann Wittich wurde zum Gläubigen seines eigenen Gottes, zum Hohepriester und schließlich zum Rächer des Waldes. Das Ende nahte:

Als der Wald zum ersten Male im Rauhreif stand, kam die „Kommission“ über den See, zwei Geheimräte aus dem Ministerium, ausgerüstet mit dem besonderen Vertrauen des Ministers, ein Forstrat von der Regierung des Bezirkes, Dr. Matthias Plurr und ein Mitglied des Arbeiterrates der Stadt. Dr. Plurr sprach von der Kraftquelle des Kreises, die ungenutzt versiegte, ein Schlag ins Gesicht der neuen Zeit! Die anderen schwiegen. Blutrot, in großartiger Einsamkeit, stand die Sonne über dem funkelnden Wald.

Ernst Wiechert, Der Wald, 2.Auf.2021, S.38.

Und es wurde schrecklich ….


[1] Auch auf diesem Bild ist ein Hund versteckt, aber wer würde den Kopf im Dickicht schon finden?

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