Die immerwährende Versuchung

“Es wär‘ so schön, Anarch zu sein” So summe ich über dem „Eumeswil“ von Ernst Jünger, frei nach einer alten Melodie mit dem Refrain „… Rosemarie“. Der innere Anarch ist die immerwährende Versuchung der desillusionierten Idealisten. Er bildet die letzte Bastion der verratenen Treuen. Er schreitet Seit an Seit wie die letzten Goten, die ihren König zu seinem verborgenen Grab im Busento geleiten.

Auch den geistigen Klausner in seiner Waldhütte geht die Welt nichts mehr an. Als Waldgänger hat er Reste alten Kampfesmutes bewahrt und harrt der rechten Stunde. Die gibt es für den Anarchen nicht mehr.

Der Unterschied liegt darin, daß der Waldgänger aus der Gesellschaft herausgedrängt wurde; der Anarch dagegen hat die Gesellschaft aus sich verdrängt. Er ist und bleibt Freiherr unter allen Umständen.

Ernst Jünger, Eumeswil, 1977, S.165.

Er hat sich nämlich innerlich abgemeldet

innerhalb eines Ganzen, das ich in seiner Dürftigkeit ablehne. Wichtig ist, daß diese Verneinung eben das Ganze angeht und nicht etwa in ihm eine konservative, reaktionäre, liberale, ironische oder irgendwie sozial zu definierende Stellung bezieht. Vom Schichtwechsel im Bürgerkrieg mit seiner stets verschärften Fron sollte man sich frei halten.

Ernst Jünger, Eumeswil, 1977, S.165.

Warum Göttern dienen? Warum sich für Ideologien aufopfern? Überhaupt: für andere Menschen arbeiten, leiden, sterben? Wer dazu noch bereit ist, nimmt noch Partei. Er identifiziert sich bis zur Selbstaufgabe mit anderen Menschen oder ihren kollektiven Ideen. Ein außenstehender Dritter läßt das bleiben. Als bloßer Beobachter hat er keinen Anteil an den Händeln und Zwisten der Menschen, an ihren Kriegen und Bürgerkriegen.

Hand-Signatur Ernst Jüngers in meinem Exemplar “Subtile Jagden”

Zum bloßen Beobachter muß man geboren sein. Ernst Jünger sammelte von Jugend auf Käfer und ging auf manche subtile Jagd nach ihnen. Insekten zu jagen ist keine kollektive Treibjagd. Sie erfordert ein solitäres Gemüt. Der Jäger muß in der Natur lange mit sich selbst und seinen Gedanken allein sein können – eine Propädeutik für den werdenden Anarchen.

Ich konnte durch  Begehung der Blütenbänder Zoll von der Fülle erheben, doch auch die Leere wurde dienstbar, da sich auf ihr die Beute abzeichnete. Hier waren Ort und Stunde günstig, wie es selten zusammentrifft. Auf den Rabatten schwelgten Blütengäste; sie schwärmten über den bunten Polstern, und schärfer noch hob sich von den kahlen Flächen ihr Gewimmel ab. Ein festlicher Jahrmarkt in Gullivers Reich.

Ernst Jünger, Subtile Jagden, 1967, Ausgabe 1995, 36.

Gewimmel – von außen betrachtet

Wer Insekten beobachtet, sieht ihre kleine Welt von außen. Um ihn herum summt und brummt und flattert es. Er nimmt aber nicht Teil an ihrer Geschäftigkeit. Ihre Käfer- und Faltersorgen berühren ihn nicht. Er sieht, manchmal fängt er, er katalogisiert und rubriziert, zeichnet seltene Beobachtungen auf. Aber er greift nicht ein, wenn ein Kerf dem anderen zum Opfer fällt.

Wenn die Baumwanze eine Raupe des Kleinen Fuches ansticht und auslutscht, greift ein Entomologe nicht ein. Er hat keinen Anteil am Schicksal der Beobachteten.

Wie ein Anarch unter Menschen läßt er sich faszinieren, manchmal auch langweilen, aber er ergreift nie Partei, ist nie “engagiert”. Ich verstehe das gut, schrieb ich doch selbst mit elf Jahren als junger Schmetterlingsbeobachter:

Die große Königslibelle schwirrt Mücken jagend durch die Luft. Ihre Larve lebte, von Fröschen, Molchen, Krankheiten, Hechten und Menschen verfolgt, in dem kleinen Weiher hinter dem Wald. Dort blüht auf einer Lichtung das Johanniskraut. Dicke Hummeln saugen aus den Beinwellblüten in tiefen Zügen Honig. Scharen von Bläulingen und Dukatenfaltern, auch ab und zu ein Kaisermantel, tummeln sich dort.

Während ich so der Muse Polyhymnia 1965 meine ersten, bescheidenen Opfer darbrachte, erwarb ich in Feld und Flur zwei Grundfähigkeiten der Waldgänger und Anarchen zugleich: nur beobachten und nicht dazugehören. Das fällt leicht, wenn ein Mensch niemals Insekt war. Doch kann man auch aus der menschlichen Gesellschaft heraustreten und sie von außen betrachten? Durchdränge nicht der Scharfblick alle politischen und philosophischen Zweifelsfragen, wenn wir zuvor unser Herz abmelden?

Ich erfaßte die Umwelt schärfer im Maß, in dem meine Teilnahme sich verringerte.

Ernst Jünger, Eumeswil, S.59.

Hilfreich ist immer der

unbefangene Blick auf die Geschichte, wie er nur gelingt, wenn wir am Für und Wider nicht mehr beteiligt sind. Das ist die Lust des Historikers.

Ernst Jünger, Eumeswil, S.70.

Einen solchen Blickwinkel einzunehmen vermag nur jemand, der alle angeblich objektiven Wertvorstellungen in die belanglose Subjektivität verbannt hat. Solange ihm noch irgend jemand oder etwas wertvoll ist, gelingt es nicht völlig. Darum

ist zu einer solchen Enthaltung keiner berechtigt (und auch fähig), der glaubt, es gebe doch etwas zu verteidigen, etwas, das mit dem (wenigstens faktisch angenommenen) Sinn des Lebens zusammenhänge.

Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, 1984, S.120.

Als letzter lebender Träger des Ordens Pour le Mérite hatte Ernst Jünger Staatsformen und Menschen werden, entstehen und vergehen sehen. Ihre Ideen, die Ideale mancher Jugend, die Fahnen Hymnen wechselten sich ab. Sie wurden im Mühlrad der Geschichte wie Korn zermahlen. Wie oft kann ein Herz sich an etwas Geliebtes klammern, wenn alles Geliebte immer wieder zerbricht? Wenn der Sohn fällt? Wenn alles, auf das wir stolz und über das wir glücklich waren, bis auf den Grund zerstört wurde? Wenn der Feind die Fluren verheert und Salz in die Furchen gestreut hat? Wenn Kinder in der Schule lernen, ihre Eltern seien Verbrecher gewesen und ihre Ideale ein Greuel?

Der alte Ernst Jünger spaltete einen idealtypischen Anarchen als Romanfigur von sich ab. Dem Anarchen geht es gut. Er leidet unter nichts mehr, er hat Bedauern, Schmerz und Zorn hinter sich gelassen. Viele Deutsche haben heute einen Anarchen in sich. Er bildet die ständige Versuchung, in die Unbelangbarkeit zu entkommen. »Wofür ich lebte – fast zerstört? Was geht mich das noch an? Ich kann es ja doch nicht ändern!«

Den Untergang des Abendlandes hat Günter Maschke scharfsinnig auf August 1914 datiert. Seitdem ist nacheinander fast alles eingeebnet worden, was uns erhoben hatte. Ernst Jünger beklagte schon 1977 eine „fellachoide Versumpfung“ (Eumeswil S.34):

Die Werte haben sich also weiterhin verflacht. Erst waren sie gegenwärtig, dann noch geachtet, schließlich ein Ärgernis. […] Vor uns gab es immerhin noch ein Nachleuchten. Doch der Ofen ist kalt; er wärmt selbst die Hände nicht mehr. Von exhumierten Göttern kommt kein Heil.

Ernst Jünger, Eumeswil, S.35.

Doch haben wir zugleich immer auch einen stillen Mahner in uns, der uns vor dem Abgleiten in den Anarchen bewahren kann. »Gibt es da wirklich nichts, gibt es niemanden mehr, dem du verantwortlich bist?«

Nicht daß wir sterben müssen, sondern wie wir leben ist wichtig

So mag sich der eine seinen Kindern und Nachkommen, der Kinderlose wenigstens seinen Anverwandten verantwortlich fühlen. Es ist ganz gleichgültig, ob oder welche Erfolgsaussichten und Chancen man der eigenen Selbsterhaltung beimessen mag. Nicht daß alles vergeht und daß wir sterben werden, ist wichtig, sondern wie wir leben. Martin Luther hatte das noch gewußt und angekündigt: Und wenn morgen die Welt untergeht, werde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.

Menschen wie wir erliegen nicht der Versuchung des inneren Anarchen, der auch immer ein kleiner innerer Schweinehund ist. Als kühler Analytiker und intellektueller Einflüsterer mag er jeden rechenhaft darüber belehren, daß wir immer weniger und die anderen immer zahlreicher werden. Davon läßt sich ein Charakter ausgeprägten Pflichtgefühls aber nicht beirren. Es ruht im Fundament seiner Persönlichkeit und bildet seine Identitität: »Hier stehe ich und kann nicht anders!«

Der Anarch floh vor Weltschmerz und verließ das sinkende Schiff. Er besiegelt die emotionale Fahnenflucht, lange nachdem die Fahne zerrissen, besudelt und in den Schmutz getreten wurde. Er schließt mit ihr ab, weil der Schmerz ihn sonst zerreißen würde.

Doch gibt es aus dem emotionalen Unglück einen anderen Weg, den der Dichter Konrad Windisch in einem Gedicht (Mein Sohn, du fragst…) formuliert

Mein Sohn, mein Leben
Zieht eine klare, festumriss’ne Bahn,
Die ein Gesetz in mir so vorgeschrieben.
Den Weg will ich zu Ende gehen.
Was ich getan? Ich bin mir treu geblieben,
Und diese Zeit will keine Treue sehen. […]

und erkannt hat:

Unglücklich bist du, wenn du nicht im Herzen
Bestehst vor deinem eigenen Gericht.

Konrad Windisch

Lesen Sie gern hier weiter:

Mit Ernst Jünger den Schmerz hinter sich lassen

Und lesen Sie mehr über das Unbehagen am Konformismus: die Auflösung aller Dinge, Deserteure und Waldgänger

Die Freiheit unter der Maske