Ideologie oder Realität?

Mit der Realität haben es Ideologen nicht so. Wenn sie sich nicht nach ihren fixen Ideen richtet: umso schlimmer für sie! In einer berühmten Szene der Komiker Monty Python, besteht ein Mann darauf, auch Babys zu bekommen. Das Filmpublikum bog sich vor Lachen. Heute ist ihm das Lachen vergangen. Eine verquere linksextremistische Ideologie hat sich dutzende Geschlechter ausgedacht.

Monty Python, Das Leben des Brian, Loretta-Szene: „Als Mann möchte ich das Recht haben, Kinder zu gebären.“

Männer sollen nicht männlich sein und Frauen nicht weiblich. Queere Genderisten kultivieren in ihren Köpfen eine ganz spezielle Art höchstpersönlicher „Realität“, die vielleicht geschultem Fachpersonal noch zugänglich ist. Männer, die sich für eine Katze halten, entwickeln gelegentlich manche Charakterzüge der fauchenden kleinen Biester, halten sie sich für Frauen, bevorzugen sie rosa Spitzenunterwäsche, und die sich für Napoleon halten, reagieren gereizt, wenn man sie nicht mit Empereur anspricht.

Seit Jahrhunderten gibt es Leute, die sich ausschließlich mit staubigen alten Schriften abgeben und am Ende nicht wissen, an welchem Ende bei einer Kuh vorne ist. Sie können höchst belesen sein. In ihrer Vorstellung nehmen Romane und Traktate Wirklichkeit an. Wie manche Jungs nach nächtelangem Computerspielen nicht mehr den Weg zurück in die Wirklichkeit finden, verirrten sie sich in früheren Zeiten in Phantasiewelten wie denen von Karl May oder des Science-Fiction-Helden Perry Rhodan. Es kommt immer darauf an, den Ausgang aus seiner Phantasiewelt noch finden zu können.

Erzvater der Queeren

Wer ihn nicht mehr gefunden hat, war der Italiener Pico della Mirandola, geboren 1463. Er ist der Erzvater der queeren Bewegung. Freilich wissen beide nichts voneinander: Er wurde 1494 mit Arsen vergiftet, und seine modernen Epigonen sind nicht belesen genug, von ihm zu wissen. Pico lernte schon als Kind Latein und andere Sprachen und kannte mit 20 alle Klassiker der Antike. Er war in der Bibel zuhause wie im Homer und im Platon. Er gehörte zu jenen Gebildeten „im Dämmer der Studierstube, die im Bücher­staub der Scho­lastik aufgewachsen sind und einsam ihren Spekulatio­nen nachhän­gen.”[1] Dort fand er, daß wir Menschen eigentlich Götter sind. Oder es jedenfalls sein können.

Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), Wikipedia, gemeinfrei

So weltfremd war der junge Mirandola nicht, daß er nicht gewußt hätte, daß man auch, „gelockt von den Verführungen der Wollust, als Sklave seiner Sinne lebt.“ Wer so lebt, „ist nur ein Tier kein Mensch.“[2] Doch wir können auch anders:

Wir sind geboren worden unter der Bedingung, daß wir das sein sollen, was wir sein wollen. Darum muß unsere Sorge vornehmlich darauf gerichtet sein, daß man uns jedenfalls nicht nachsagen kann, wir hätten, als wir im Ansehen standen, keinen Verstand gezeigt, dem Vieh und vernunftlosen Tieren ähnlich. Vielmehr soll jener Ausspruch des Propheten Asaph für uns gelten: ‚Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle‘[3], damit wir nicht den freien Willen, den er uns verliehen hat, mißbrauchen und ihn gebrauchen statt zu unserem Heil, zu unserem Schaden.[4]

Pico della Mirandola, De dignitate hominis, 1496, S.13.

“Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle“? Welch revolutionärer Satz! Diese Attribute waren bislang Jesus vorbehalten, Gottes Sohn.

„Wir sind geboren worden unter der Bedingung, daß wir das sein sollen, was wir sein wollen?“ Diese Behauptung beendete schlagartig das Mittelalter. In Demut hatte man sich ehedem geübt. Das Diesseits hatte als Jammertal gegolten, in dem wir in miseria leben, im Elend. Wir sollten sein, was wir wollen, war eine epochale geistige Zäsur, die Europa nachhaltig vom Rest der Welt schied. Sie wies uns den Weg aus engstirnigem Dogmatismus, ebnete aber zugleich eine breite Straße zur modernen Hybris der Queerköpfe.

Hören wir uns einmal die Kernsätze Mirandolas mit den Ohren einer Lesbe an, die viel lieber ein Mann wäre. Sie wird frohlocken, wenn Mirandola Gott in den Mund legt:

Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung, und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich  überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.[5]

Pico della Mirandola, S.9.

Was sich nach einem Freibrief anhört, war allerdings nur moralisch so gemeint. Mirandola sieht den Menschen in der Mitte der Welt: Der Anthropozentrismus trat seinen Siegeszug an. Man bedankte sich artig bei seinem Schöpfer, den man aber künftig hienieden nicht mehr funktional benötigte. Da oben durfte er noch walten, was uns nichts weiter angeht.

Auch wenn Mirandola die nach oben und unten offene moralische Natur des Menschen meinte und nicht etwa glaubte, er könne sich frei nach Laune mal eben zur Katze machen, führen seine Gedanken unweigerlich zur Schlußfolgerung: Wir dürfen alles. Wir dürfen uns nicht nur moralisch, sondern auch körperlich selbst definieren und gegebenenfalls umformen. Es ist dann kein prinzipieller Unterschied mehr, ob einer sich kastriert und künftig rosa Spitzen trägt oder ob wir uns nach Kolonisierung eines fernen Wasserplaneten durch Genmanipulation Kiemen und Flossen wachsen lassen. Wir dürfen alles. Lesen sie das „Adam“-Zitat ruhig noch einmal. Es sind atemberaubende Sätze.

Die Geburt der Menschenwürde

Das fanden auch der Papst und die Inquisition und waren nicht erbaut von Mirandolas Ansichten. Über die Menschenwürde? So hieß die 1496 erschienene Schrift. Man stutzte. Menschenwürde? Kam nicht Gott in der Höhe allein das Attrubut der Würde zu? Den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Di Fabio wundert das nicht:

„Der moderne Ursprung dieser radikalen Idee liegt auf der Hand. Der Humanismus, repräsentativ verewigt durch die kleine Schrift Pico della Mirandolas über die Würde des Menschen, beginnt die Konstruktion seines Ideengebäudes mit einer im Grunde nur notdürftig kaschierten Gotteslästerung. Die biblische Offenbarung, wonach jeder einzelne Mensch ein Ebenbild Gottes sei, wird von seinen transzendenten theologischen Wurzeln und den praktischen Demutsermahnungen getrennt. Die jeweils einzelne Gottesebenbildlichkeit wird zur Identität des Menschseins schlechthin gemacht, wenn jeder Mensch auf Erden in den Rang eines gottgleichen Schöpfers erhoben wird: ungebunden, souverän und und jeder als Schöpfer seines Schicksals, im Range gleich.“[6]

Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.98.
Der Verfassungsrechtler Udo Di Fabio, 2018 auf der Frankfurter Buchmesse (Foto: Heike Huslage-Koch, Wikipedia, gemeinfrei)

Der Mann kennt sich aus, schrieb doch das Bundesverfassungsgericht schon 1977:

„Der Staatsgewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu achten und sie zu schützen. Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten.“[7]

BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 – 1 BvL 14/76 -, BVerfGE 45, 187-271, Rn. 144 – 145

Von Rechts wegen, also nach unserer Verfassungsdogmatik, kann kein Mensch seine Menschenwürde durch würdeloses Verhalten einbüßen.

Die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht hiernach darin, daß er stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.[8]

BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 –, BVerfGE 153, 182-310, Rn. 206.

Die Idee, jeder Mensch habe eine „unverlierbare“ Würde, geht zwar auf Mirandola zurück. Dieser freilich hatte sie keineswegs für unverlierbar gehalten und betont, zwischen gottgleicher Würde und tierischen Schweineigeleien hätten wir jederzeit die freie Wahl. Wir müßten uns die Würde erst erwerben.

Die verfassungsrechtliche Wundertüte

Um von Mirandolas Ideen zur Ansicht unserer Verfassungsrichter zu kommen, aus der Menschenwürde folge das Recht, jederzeit sein Geschlecht zu ändern („Aber du hast doch gar keine Mumu, Loretta!“ – „Aber ich will das Recht haben, Kinder zu kriegen!“), lag ein weiter Weg. Unsere Verfassungsrichter haben die an sich banale Einsicht, daß wir uns frei entscheiden können, zu einer Fundamentalnorm unserer Verfassung aufgeblasen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, befiehlt das Grundgesetz. Wer auf einen Staat Wert legt, der ihn nicht foltern darf, kann dem nur zustimmen. Das Gesetz ist gut so.

Mit so raffinierten Spitzfindigkeiten, daß selbst Jesuiten vor Neid erblassen würden, haben unsere Verfassungsrichter aber, Jahrzehnt für Jahrzehnt, eine umfangreiche Kasuistik (Fallrechtsprechung) daraus gemacht und diese bis in die Höhen der Theologie hinaufkonstruiert. Darf man abtreiben? Darf man klonen? Darf ein von Terroristen gekapertes Flugzeit aus dem Anflug auf ein Fußballstadion abgeschossen werden? Wie viele Geschlechter gibt es? Ist ein Feind der Menschenwürde, wer für den Erhalt des ethnischen deutschen Volkes eintritt?

Unser höchstes Gericht weiß immer Rat. Es steckt moralische „Werte“, in den Zylinder der Menschenwürde hinein und holt sie wie ein Kaninchen als Gebot der Menschenwürde wieder aus ihm hervor. Oft sind es die gerade gesellschaftspolitisch und nicht zuletzt parteipolitisch erwünschten Kaninchen, die hier hervorgezaubert werden. Das fällt umso leichter, wenn der Verfassungstext als Richtschnur vergessen und durch „naturrechtliche“ Erwägungen ersetzt wird. Das sind Rechtsprinzipien, die nicht in unseren Gesetzen stehen und angeblich unmittelbar „aus der Natur des Menschen“ folgen. Historisch betrachtet waren sie immer säkularisierte theologische Postulate. Die Verfassungsväter hatten das nicht gewollt:

Die im Parlamentarischen Rat verbreitete Ansicht, das Grundgesetz übernehme mit der Menschenwürdeklausel  ‘deklaratorisch’ einen Staat und Verfassung vorgeordneten Anspruch ins positive Recht, hat aber immer noch beachtliche Suggestivkraft und wirkt auch in metaphysischen Interpretationsansätzen fort. Das zähe Festhalten am überpositiven Charakter der Menschenwürdegarantie und deren Deutung als verfassungsrechtliche Einbruchstelle für naturrechtliche Vorstellungen in Teilen der deutschen Staatsrechtslehre muß überraschen. Denn schon im Parlamentarischen Rat vermochte sich der ausdrückliche Bezug zu den naturrechtlichen Grundlagen der Menschenwürde nicht durchzusetzen. Bestimmend dafür war die Skepsis gegenüber einem von subjektiven Wertvorstellungen geleiteten Naturrechtsverständnis.

Matthias Herdegen, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Lieferung 44, 2005, Kommentar zu Art. 1 I GG, Rdn.17.[9]

Heute sind viele Behauptungen des Bundesverfassungsgerichts, warum dies oder das gegen die Menschenwürde verstoßen sollen, nur noch theologisch nachvollziebar. Im positiven, also dem geschriebenen Gesetzesrecht finden wir keine Hinweise darauf, die Menschenwürde gebiete, daß Männer als Frauen gelten dürfen, daß man ein Terroristenflugzeug im Anflug auf ein volles Stadion nicht abschießen darf oder daß man nicht für den ethnischen Erhalt seines eigenen Volkes eintreten dürfe. Es gibt keine „vorstaatlichen“ Normen, die uns das so vorschreiben.

Seither haben die Streiter für überpositive Deutungsmuster kein neues Argument für eine objektive Normativität im vor- oder überpositiven Raum formuliert. Das gilt erst recht für die ins Religiöse gehende Aufforderung, die Menschenwürde dürfe auch im Rahmen verfassungsrechtlicher Betrachtung nicht allein staatlicher Exegese überantwortet werden. Zu Forderungen dieser Qualität hat schon Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat das Nötige gesagt. Sie befrachten das Verfassungsrecht mit Aufgaben der Theologie. Für die staatsrechtliche Betrachtung sind demnach allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich. Wer dies bestreitet, kann nur das Hohepriestertum seiner persönlichen Ethik und deren Überzeugungskraft in der Gemeinschaft der Würdeinterpreten setzen.

Matthias Herdegen, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Lieferung 44, 2005, Kommentar zu Art. 1 I GG, Rdn.17.

Die Hypertrophie der Menschenwürde in der Rechtsprechung unseres Verfassungsgerichts läßt die Grenzen zwischen einem säkularen Rechtsstaat und einem Religionsstaat zuweilen verschwimmen. Die neue Religion verehrt den Menschen an sich, so wie die frühere Gott verehrt hatte. Sie bildet zugleich ein Machtinstrument in den Händen derer, die sich als Orakel der Menschenwürde, als Hohepriester des Gutmenschentums und zugleich als Herrscher und Vollstrecker seiner Konsequenzen aufführen.

Es gibt einen allzeit gültigen, notwendigen Zusammenhang von Schutz und Gehorsam. Wir sind gesetzestreu, weil das Gesetz und schützt. Wir sind staatstreu, weil unser Staat uns beschützt. Wer dieses Wir jeweils ist, entscheidet sich in einem demokratischen Land durch Mehrheit. Für die Akzeptanz unseres politischen Systems könnte es sich verheerend auswirken, wenn eine Mehrheit nicht mehr den Eindruck hat, es sei „unser“ System und schütze das deutsche Volk. Indem unser Verfassungsgericht treue Demokraten und Verfassungsfreunde ausgrenzt und zu Verfassungsfeinden erklärt, weil sie den ethnischen Bestand unseres Volkes wünschen, und wenn sie eben dieses Urteil mit der Menschenwürde aller derer begründen, die auch hier herkommen wollen, gefährdet es unsere freiheitliche demokratische Grundordnung und unterminiert unseren Staat.

Wir benötigen, was wir seit Gründung der Bundesrepublik hatten: einen Staat unseres Volkes und keinen Gesinnungsstaat.


[1] Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, 1667, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Hrg.Horst Denzer, Frankfurt/M.1994, S.249.

[2] Mirandola, De hominis dignitate, S.11.

[3] Bibel, Psalm 86, Vers 6 (Anm. d. Verf.)

[4] Mirandola, S.13.

[5] Mirandola, S.9.

[6] Di Fabio a.a.O., S.98.

[7] BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 – 1 BvL 14/76 –, BVerfGE 45, 187-271, Rn. 144 – 145.

[8] BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 –, BVerfGE 153, 182-310, Rn. 206.

[9] Matthias Herdegen, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Lieferung 44, 2005, Kommentar zu Art. 1 I GG, Rdn.17

[10] Matthias Herdegen, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Lieferung 44, 2005, Kommentar zu Art. 1 I GG, Rdn.17