Mythen sind weder sinnlos noch irrelevant

Lassen Sie sich gern in die fernste Vergangenheit entführen? Die Versuchung ist groß angesichts unserer immer ekligeren Gegenwart.

Aber nicht Weltflucht oder gar esoterische Neigungen legen nahe, sich mit einem Urmythos unserer europäischen Kultur vertraut zu machen. Das Wissen um die eigene Vergangenheit ist nämlich notwendig, sich selbst im Innersten zu erkennen und sich seiner Identität zu versichern.

Diese Identität, hoffen gewisse Kreise, muß uns unbedingt genommen werden. Sie immunisiert gegen beliebige Manipulierbarkeit. Eine Identitäts- oder Ich-Störung ist ein Krankheitsbild. Es hat in Deutschland Züge einer Massenneurose angenommen: „Dein Opa war ein Mörder, und Du bist schuld daran!“ war für unzählige Kinder und Jugendliche die Quintessenz ihres „Geschichtsunterrichts“ und erzeugte eine neurotisierte Gesellschaft ohne positives Gefühl für die eigene Identität, aber mit krankhaftem Selbsthaß.

Darum ist in unserer Lage alles segensreich, was uns auf unsere eigenen Wurzeln zu besinnen hilft. Viele Deutsche machen sich gar nicht klar:

Wir sind Indigene!

In unseren Adern fließt sozusagen das Blut einer ununterbrochenen Kette von Vorfahren, deren Anfänge bis in die Zeit der paläolithischen Jägerkulturen zurückgehen.

Harald Haarmann, Auf den Spuren der Indogermanen, 2016, S.31.

Seit Jahrzehntausenden bewohnen unsere Vorfahren diesen Erdteil und waren hier, aller Forschung zufolge, die ersten Menschen.[1] Viel linker Politzirkus dreht sich heute um „Indigene“. Sie bilden heute die Projektionsfläche für die alte Vorstellung vom „edlen Wilden“, dem Ur-Gutmenschen im Sinne Rousseaus, gänzlich unbefleckt von „moralischer Verworfenheit“ aller Zivilisation und des kapitalistischen Sündenfalls.

Indigen? Das sind wir schon lange. Vor 35000 bis 41000 Jahren siedelten die ersten Europäer sich in Mitteleuropa an.[2] Sie schufen beeindruckende Figuren wie den Löwenmenschen aus Elfenbein und phantastische Höhlenmalereien. Die nächste Zwischenvereisung vor 18000 bis 21000 Jahren drängte die Menschen weit in den Süden zurück. Nur in Spanien hinterließ sie Bevölkerungsreste.[3] Die Toten wurden in Höhlen abgelagert (Villalba-Mouco e.a. 2023).

Als Europa seit etwa 12000 v.Cgr. wieder eisfreier wurde, siedelten Überlebende u.a. aus Norditalien (Villabruna) auch wieder nördlich (Y-Chromosom-Haplogruppe I und U5 der mtDNA, z.B. Oberkassel), während andere Eiszeit-Überlebende von Osten einströmten (z.B. um 9000 v.Chr. das Sidelkino-Individuum aus Samara, Y-Chr. Haplogruppe R1b, U2 und U4 mtDNA. Diese bestatteten mit Grabbeigaben und persönlichem Schmuck im Freien oder in Höhlen und bedeckten die Toten mit Ocker. Die Jäger und Sammler der kommenden Jahrtausende setzten sich aus diesen beiden Komponenten zusammen, die sich lange kaum und erst ab 6000 v.Chr. in Nordosteuropa vermischten (Villalba-Mouco e.a. 2023).

Abbildung aus der besprochenen Publikation (grüne Flächenfarbe bäuerliche Siedler aus Kleinasien vor 7500 Jahre vor heute, blaue Kreise westliche, rot östliche Jäger und Sammler)

Zwischen ihnen siedelten sich etwa um 6000-5000 v.Chr. Bauern an, die von entfernt verwandten Stämmen aus Kleinasien abstammten. Sie vermehrten sich zunächst rasch, weil sie bei ihrer bäuerlichen Lebensweise viele Kinder durchbrachten. Ihre Kultur nannten Archäologen Linienbandkeramik. Wie alle Bauern waren sie friedlich, wenn sie sich nicht gerade massakrierten und aufaßen wie in am Ende ihrer Epoche in Herxheim um 5000 v.Chr.[4] und anderswo.

Als die Bandkeramiker in einem Bevölkerungszusammenbruch endeten, hinterließen sie in großen Teilen Europas eine kleinbäuerliche Mischbevölkerung auch aus Jäger-Sammler-Nachkommen. Typisch für Bauernkulturen waren Fruchtbarkeitsriten und später auch die Verehrung von Fruchtbarkeitsgöttinnen.

Noch Tacitus berichtet von einer solchen Göttin Nerthus, deren Abbild auf einem heiligen Wagen von Priestern im Frühling durchs Land gefahren wurde. Njörd nannten sie in historischer Zeit die Nordmänner, und als Freija galt sie unseren Vorfahren als Inbegriff der Weiblichkeit.

Freja (Freija, Freyja etc.) war eine Wanengöttin und stand für Weiblichkeit und Fruchtbarkeit. Künstlerische Darstellung: E. Doepler, W. Ranisch, Walhall, Die Götterwelt der Germanen, 1900, S.38.

Die göttlichen Jünglinge

Doch es blieb nicht friedlich. Ab etwa 3000 v.Chr. wurde das kontinentale Klima trockener. Im Raum jenseits des Flusses Don lebten verwandte europäische Stämme, die von den Paläogenetikern und Archäologen „Jamnaja“ genannt werden: frühe Indoeuropäer. Reinhard Schmoeckel hat sich treffend als Cowboys bezeichnet: Sie trieben große Herden halbnomadisch durch den Steppengürtel Südosteuropas.

Sie opferten einem Gott-Vater, Dieus-peter, den sie mit der Sonne gleichsetzten. Nachdem sie sich 3000-2500 v.Chr. erobernd ausgebreitet hatten, wurde aus ihrem Dieus-petér der römische Ju-piter, in Griechenland Zeus, bei den Germanen Ziu oder Tyr.[5] Als „Indoeuropäer“ nahmen sie Besitz von Europa bis Spanien und Irland, von Italien bis Skandinavien, und im Osten bis Persien und Indien. Überall[6] hinterließen sie eine gemeinsame Ursprache, die sich langsam in Einzelsprachen ausdifferenzierte.

Ihren Toten legten sie Streitäxte bei. Ihre Kultur und Religion waren männlich und kriegerisch. Die Bauernkulturen[7] hatten ihnen wenig entgegenzusetzen. Die Jamnaja-Eroberer kamen nämlich zu Pferde, ihrem späteren Kulttier.

Neueste Forschung hat nachgewiesen:

Die Nutzung von Pferden als Reittier und für den Transport war ein wichtiger Fortschritt für die menschliche Mobilität. Doch wann der Mensch Pferde erstmals zum Reiten nutzte, war bisher unklar. Jetzt liefern Analysen von 4500 bis 5000 Jahren alten Skeletten aus der südosteuropäischen Steppe eine mögliche Antwort. Bei fünf zur Jamnaja-Kultur gehörenden Toten identifizierten die Forscher anatomische Veränderungen, die typischerweise durch regelmäßiges Reiten entstehen. Dies belegt, daß Pferde schon relativ kurz nach ihrer Domestikation vor rund 5500 Jahren nicht nur als Lieferanten für Milch und Fleisch gehalten wurden, sondern auch als Reittiere dienten.

Nadja Podbregar, wissenschaft.de 3.3.2022, nach der Studie von Trautmann e.a., 3.3.2023, First bioanthropological evidence for Yamnaya horsemanship

Als berittene Krieger waren sie allen anderen Völkern überlegen. Der Mythos der Ausbreitung dieser Reiter und ihres Gotteshielt sich bis in historische Zeit, wo Vorbevölkerungen indogermanisiert wurden.

In indogermanischen Zeiten wurden zwei göttliche Jünglinge verehrt, die besonders dadurch gekennzeichnet sind, daß sie Brüder sind, als Reiter auftreten und atmospärischen Charakter haben. […] Bereits in indogermanischer Urzeit sind sie Träger eines Mythus: die beiden Reiter werden um die Sonne.

Richard Moritz Meyer,Altgermanische Religionsgeschichte, 1910, S.217.

Daß sie zwei und Brüder sind, bewahrt die Erinnerung daran, daß die indogermanischen Wanderungen auf eine Periode der Überbevölkerung folgte. Die Zwillinge stehen für Fruchtbarkeit. In der griechischen Mythologie heißen sie Kastor und Polydeikes, die Dioskuren (διoσκουρoι – Söhne des Zeus, von dios = göttlich, glänzend, himmlisch, und kouros/koros = junger, kräftiger, rüstiger Mann[8]). Sie sind bei den meisten indogermanischen Völkern belegt.[9] Die Römer kannten sie als Castor und Pollux, die Inder als die Açvins und die Letten als Gottessöhne, die jährlich kommen, um die Sonne zu freien.[10]

Vor allem für das germnanische Altrtum gibt es verschiedene Hinweise eines solchen göttlichen Zwillingsbrüderpaars. Die älteste findet sich beim griechischen Historiker Timaios aus dem 3. Jahrhundert v.Chr., der berichtet, daß die „Kelten“ (das heißt die Germanen) an der Nordseeküste besonders die Dioskuren verehrt hätten.

Rudolf Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, 3.Aufl. 2006, S.71.

Von einer Schlacht der Römer im 5. Jahrhundert v.Chr. gegen die Volsker berichtet der Geschichtsschreiber Plutarch (lebte um 45 bis 125 n.Chr.):

Man erzählt auch, es seien während der Schlacht die Dioskuren erschienen und hätten nachher auf ihren schweißtriefenden Rossen den Sieg verkündet, wo heute neben der Quelle der ihnen zu Ehren errichtete Tempel steht.

Plutarch, Coriolan, Kap.3.

Tacitus berichtet uns in seiner Germania von dem (in Schlesien siedelnden Stamm der vandalischen) Naharnavaler:

Bei den Naharnavalern zeigt man einen Hain, eine uralte Kultstätte. Vorsteher ist ein Priester in Frauentracht (muliebri ornatu). Die Gottheiten, so wird berichtet, könnte mann nach römischer Auffassung (interpretatione romana) Kastor und Pollux nennen. Ihnen entspechen sie in ihrem Wesen. Sie heißen Alken. Es gibt keine Bildnisse. Keine Spur weist auf einen fremden Ursprung des Kultes. Gleichwohl verehrt man sie als Brüder, als Jünglinge.

Tacitus, Germania, Kapitel 43.

2020 fand man bei Vindelev in Jütland einen atemberaubenden Goldschatz.

Auf einem großen Brakteaten sind die göttlichen Jünglinge abgebildet. Die Webseite des dänischen Museums erläutert:

Das Motiv in der Mitte ist jedoch sehr schwer zu erkennen, aber es scheint ein Bild von zwei Zwillingsfiguren zu sein. […] Das Hauptmotiv sind zwei identische Gesichter im Profil, die in die gleiche Richtung zeigen. In ihrem Haar haben sie jeweils ein Diadem mit einem Stirnschmuck. Zwischen den Köpfen schwebt ein Symbol mit drei Beinen, eine sogenannte Triskele. Die Figuren sind verhüllt. […] Zwillingsgötter sind in der nordischen Mythologie der Wikingerzeit und des Mittelalters unbekannt. Aber wenn wir in der Zeit weiter zurückgehen, gibt es tatsächlich Spuren von Vorstellungen von Zwillingsgöttern sowohl in Süd- als auch in Nordeuropa. Die Griechen und Römer verehrten zwei Zwillingsgötter, die zusammen die Dioskuren genannt wurden, die besonders mit Pferden in Verbindung gebracht wurden. Die römischen Namen der beiden Brüder waren Castor und Pollux, die noch heute die Namen der beiden hellsten Sterne im Sternbild Zwillinge sind. […] (Unten sind) eine Reihe leicht unterschiedlicher menschlicher Gesichter zu sehen, dann eine Reihe kleiner Pferdeköpfe und am anderen Ende eine Schlange, die an jedem Ende einen Kopf zu haben scheint und an dem großen dekorativen Dreieck klafft.

Verdens største brak­teat: Hvem var tvillinge­-kongerne? Vejlemuseerne 7.1.2022
Der Brakteat wurde beim Pflügen entdeckt und beschädigt. Foto: Vejlemuseerne
Im Zentrum des dänischen Goldbrakteaten aus dem 4. Jahrhundert das Zwillngspaar, links am Rand Pferdeköpfe als ihr Attribut.

Die reitenden Brüder entsprechen den sich in alle Himmelsrichtungen ausbreitenden Teilen der Indogermanen. Sie haben die Erinnerung an ihren Kultus gut bewahrt: Ihr Gottvater Dieus petér, ein linguistisch erschlossenes Urwort für den Göttervater, begleitete sie. Bei den späteren Germanen wurde das Wort zu Ziu oder Tyr, einem Asen. Die Liederedda bestätigt uns:

Im Osten unseres Heimes da strömt ein Fluß gar hehr,
Tanais[11] geheißen, der fließt ins schwarze Meer.
Er scheidet all Europa, das westliche Wanenland,
Vom Land und Heim der Asen, das Asien ist genannt.

Heimskringla, um 1230, vmtl. von Snorri Sturlusson,[12] Übersetzung: Felix Dahn, Germanische Göttersagen, 1892.

Tanais ist der Fluß Don. Östlich liegt die heute nachgewiesene Heimat der indoeuropäischen Steppenhirten, westlich die eher bäuerlichen Länder. Als die indogermanischen Reiterkrieger nach Westen zogen und auf die bäuerliche Vorbevölkerung trafen, wurden sie nach vielen Kämpfen deren Herr.[13] Die späteren germanischen Göttermythen bewahrten die Erinnerung daran. In ihnen standen die germanischen Asengötter für das spirituelle Erbe der Eroberer und die westlich-bäuerlichen Wanengötter für die alten Stämme.

Das war der Anfang dessen, daß Krieg erhoben ward,
zwischen den Asen und Wanen. Es zog mit Heeresfahrt
Wodan den edlen Wann feindlich an die Hand,
Die Wanen aber standen und wehrten wohl ihr Land.
Den Speer schleuderte Wodan und schoß ihn über das Feld;
Da war der größte Heerkrieg, der stattfand in der Welt.

Übersetzung: Felix Dahn, Germanische Göttersagen, 1892.

Zuletzt schlossen die Götter Frieden und tauschten Geiseln aus.

Sie einigten sich auf eine Friedensversammlung und setzten den Frieden auf die Art fest, daß beide Gruppen zu einem Gefäß gehen und hineinspucken sollten. Und beim Aufbruch nahmen die Götter dieses Versöhnungszeichen und wollten es nicht umkommen lassen, sondern schufen daraus einen Menschen, der Kvasir hieß.

Snorri Sturluson, Skáldskaparmál, ztiert von Richard Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S.487 Stichwort Wanenkrieg.

Natürlich darf man Mythen nicht mit Geschchtsbüchern verwechseln. Sie bewahren in sich aber oft, auch hier, einen realen Erinnerungskern: vom Verschmelzen der indogermanischen Eroberer mit der bäuerlichen Vorbevölkerung.

So schließt sich für uns der Kreis. Daß der indogermanische Teil unserer Vorfahren vor 4000 bis 5000 Jahren in Mitteleuropa auf den bäuerlichen getroffen ist und sich diese Erinnerung bis heute in einem uralten Mythos erhalten hat, ist atemberaubend und erweckt Ehrfurcht vor allen geistigen Bewahrern unserer indigenen Tradition.


[1] Die ersten Homo-sapiens-Menschen.

[2] Ihre Vorfahren wiederum stammten aus den noch nicht in asiatisch-europäisch geteilten Stämmen aus der Region östlich des kaspischen Meeres.

[3] Männliche Haplogruppe C1, weibliche Haplogruppe U. Ich schreibe hier keinen genetischen oder historischen Fachartikel. In der Paläogenetik, der Vorgeschichtforschung und erst recht der Religionsgeschichte sind viele Interpretationen strittig. Was ich hier schreibe, ist verkürzt, aber auf dem neuesten Stand.

[4] Zu starke Vermehrung, nicht ausreichende Landressourcen oder Seuchen werden als Grund diskutiert.

[5] Vgl. im einzelnen: Reinhard Schmoeckel, Die Hirten, die die Welt veränderten, Die Geschichte der frühen Indo-Europäer, 1982

[6] Bis auf Basken und geringe sonstige Sprachreste.

[7] Überwiegend agrarisch wirtschaftende Stämme, die unter anderem die Großsteingräber, die Steinkreise und zum Beispiel die Himmelsscheibe von Nebra schufen.

[8] Hermann Menge, Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch, 20.Aufl.1967, S.185, 401.

[9] Rudolf Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, 3.Aufl. 2006, S.71 zum Stichwort Dioskuren.

[10] Richard Moritz Meyer,Altgermanische Religionsgeschichte, 1910, S.217

[11] Der Fluß Don.

[12] Snorri wußte um 1230 natürlich um die geografischen Begriffes des Schwarzen Meeres und des Flusses Don / Tanais. Er mag manches dichterisch ausgeschmückt, aber den Kern der alten Mythen nicht erfunden haben. Er hat, was er aus dem alten Mythos wußte, mit den geographischen Begriffen seiner Zeit versehen.

[13] Paläogenetische Studien haben erwiesen, daß sie zumeist die männlichen Stammlinien (Y-DNA) mehr oder weniger ausglöscht, haben, während weibliche Linien (X-chromosomale) erhalten blieben. Mit anderen Worten: Sie erschlugen die Männer und nahmen sich die Frauen.