Im freiesten Staat auf deutschem Boden
Es war einmal ein Land – vor unendlich langer Zeit an einem fernen Ort – da vernahm ich in Festschriften und Sonntagsreden viel von „mündigen Bürgern“. Als „Staatsbürger in Uniform“ sollten sie sogar bei der Bundeswehr ein freies Wort pflegen. Bundespräsidenten predigten vom freiesten Staat auf deutschem Boden. Es war einmal, irgendwann im vorigen Jahrtausend.
Aus Angst, in die Nähe der AfD gerückt zu werden, akzeptieren viele Liberale und Konservative den woken Schwachsinn.
Norbert Bolz, Medienwissenschaftler.
Nun ja, möchte man mit den Achseln zucken, darum sind ja es halt bloß Liberale. Das Schwankende und Zweideutige haftet dem Liberalen seit jeher an. Mein Griechischlehrer erklärte uns Schülern die Wortverbindung μεν – δε (zwar, … aber..) mit der Haltung des damaligen FDP-Vorsitzenden (Erich) Mende. Er schwankte auch zwischen einem Zwar und einem Aber stetig hin und her. Der Liberale möchte eigentlich keinen Staat, benötigt aber gerade so viel, sein Vermögen vor dem Zugriff der Linken zu schützen.
Die Angst vor staatlicher „Regulierung“ und einer die Freiheit des Kapitals begrenzenden gesetzlichen Ordnung treibt den Liberalen, nach einem Bilde Carl Schmitts, erst vom Staate weg, während ihn die Angst vor dem Sozialismus schnell wieder ein Stück weit zum Staate hintreibt. „So schwankt er zwischen seinen beiden Feinden und möchte beide betrügen.“[1]
Carl Schmitt, Politische Theologie, S.77
Er schwankt in seiner Angst wie ein Pendel hin und her zwischen der Furcht vor dem Finanzamt und der Angst, Einbrecher könnten ihm seinen wohlerworbenen Schatz stehlen. Echte Liberale waren in ihrer Mehrheit die gutbürgerlichen Rechtsprofessoren der Berliner Akademie in jenen Jahren der politischen Gährung vor der demokratischen Revolution von 1848. Die edelsten Köpfe jener Zeit schufen die Paulskirchenverfassung, ein Vorbild der Weimarer Reichsverfassung und des Grundgesetzes. 1847 leckte die Berliner Crème de la Crème des Gelehrtenstandes noch den Speichel ihres etwas dümmlichen Monarchen, wie uns der Demokrat Johannes Scherr 20 Jahre später so schilderte:
Höchst betrübend, ob auch altherkömmlich, ist sodann mitanzusehen, mit welcher Behaglichkeit sich die Windfahne des offiziellen deutschen Gelehrtentums nach der in den allerhöchsten Regionen herrschenden Luftströmung zu richten weiß. Als im Jahre 1847 der Professor Raumer, welcher doch selbst vor dem entferntesten Verdacht revolutionärer Gesinnung hätte sicher sein sollen, in einer akademischen Rede das klassische Diktum des alten Fritz von der Tolerierung aller Religionen zitierte, richtete die Mehrheit der Berliner Akademie alsbald ein de- und wehmütiges Entschuldigungsschreiben an den König, welches selbst konservative Zeitungen als ein »kriechendes« bezeichneten und das in Wahrheit auf das lebhafteste an die Zornworte Mosers und Schlözers von der »deutschen Hundedemut« und »Staatslakaiengesinnung« erinnerte.
Es schien jedoch unseren Tagen vorbehalten, diese Eigenschaften ins Ungeheuerliche zu steigern, bis zur schamlos lauten Lobpreisung der moskowitischen Knute. Als im Mai 1852 Friedrich Wilhelm IV. bei einem Bankett auf den Zaren den Toast ausbrachte: »Gott erhalte ihn (den Zaren) noch lange dem Weltteile, den er ihm zum Erbteil bestimmt hat!« veröffentlichte eine Hofzeitung sofort im Volksdialekt ein Preislied auf die Knute, in welchem die rührende Strophe vorkommt: »Tanglied een Hoch de russ’sche Knut; de Knut regiert doch wirklich gut: denn sie möckt glücklich allesamt uns‘ Nawerslüd im Russenland!« Das hätte sich doch wohl unsere edle Sprache nie träumen lassen, daß sie sich im Jahre 1851 zu einem Hymnus auf die Knute würde hergeben müssen.
Johannes Scherr, Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, Band 3, 1925 nach der 2.Aufl. von 1866, S.387.
„Staatslakaiengesinnung“! Fällt Ihnen, meinen kundigen Lesern, dazu nicht viel Aktuelles ein? Ich zitiere ja solche scheinbar ollen Kamellen nicht, bloß weil der Tag so lang ist. Tatsächlich hat sich seitdem nichts geändert. Es gibt vieles Menschliche, das immer gilt. Mannesmut vor Herrscherthronen? Die gab es bei Friedrich Schiller, unserem großen idealistischen Schwärmer. Als typisch deutsche Eigenschaft würde ich sie nicht bezeichnen.
Wer kennt sie nicht, jene allzeit bereiten Professoren, Gutachter und „Experten“, die immer gerade das mit ihrer Expertise bestätigen, was ihre amtlicher Auftraggeber gern hatte hören wollen? Wer kennt sie nicht, jene medialen Preßbengel, die auch gerne mal Regierungssprecher werden möchten und das linientreue Nachbeten vom Studium an einüben?
Die gescheiterte Revolution
Die Demokratie hat in Deutschland nie wirklich Fuß im Herzen der Menschen fassen können, weil die staatstragenden Reformer in der Mitte des 19. Jahrhunderts Liberale waren und mehrheitlich keine Demokraten. Sie wollten nur an der Staatsgewalt partizipieren, forderten Pressefreiheit und Haushaltsrecht, scheuten aber vor umfassender demokratischer Selbstbestimmung zurück. Dieses unselige Erbe hinterließen sie uns in Form eines totalen Parteienstaates. Dieser tötet jede unmittelbare demokratische Regung ab und läßt sie unter der Dunsthaube des staatlich alimentierten Parteienwesens ersticken.
Die liberalen Paulskirchenabgeordneten fanden
als das Nonplusultra der Staatsweisheit, die Formen der englischen Verfassung auf das zu gründende Deutsche Reich zu übertragen. Vom Volke wollte er schlechterdings nur als Substrat der parlamentarischen Macht wissen, welche so zwischen der Aristokratie und der Bourgeoisie geteilt werden sollte, daß jene zu einer Oberhaus-Nobility, diese zu einer Unterhaus-Gentry zu organisieren wäre. Diese Idee war dem Liberalismus förmlich zur fixen geworden. Der Absolutismus ließ ihn damit spielen und nebenbei als Polizeidiener gegen die auftauchende Demokratie amtieren, bis seine Rüstungen vollendet waren. Dann schloß man das parlamentarische Puppentheater, warf die Marionetten der Reichstagsprofessoren und Märzminister beiseite und schlug ein vollständig gerechtfertigtes Hohngelächter auf, als die einander gegenseitig als die »besten und edelsten Männer Deutschlands« lobhudelnden Vertrauensduselinge diese Behandlung »unmenschlich« fanden.
Johannes Scherr, Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, 3.Band, S.304 der Ausgabe von 1925.
So halten denn unsere habilitierten Staatslakaien von Berufsschullehrern bis hin zu Hochschullehrern den Parlamentarismus geflissentlich für Demokratie, was bei dem redlichen Demokraten Johannes Scherr nur Hohngelächter erzeugt hätte. Er mußte 1849 als „Demagoge“ – heute heißt es Delegitimierer – in die demokratische Schweiz entfliehen, wo er hoch geachteter Professor der Geschichte und Bestsellerautor wurde und 1886 in diesem demokratischen Staat starb.
Bürger in Stallhaltung
„Wes Brot ich eß, des‘ Lied ich sing.“ Nach dem alten deutschen Sprichwort verhält sich die Masse seit alten Zeiten. Heimlich verehrt zwar so mancher Männer wir Ulrich von Hutten („Ich hab’s gewagt!“) und Martin Luther („Hier stehe ich und kann nicht anders!“). Wichtig an der heimlichen Verehrung ist aber, daß die hohe Obrigkeit nichts von ihr bemerkt.
Eine unheilvolle Traditionslinie zieht sich durch die letzten zweihundert Jahre unserer Nationalgeschichte: unsere Untertanenseligkeit und Kriecherei vor der jeweiligen Obrigkeit. Zu Beginn der französischen Revoluton hatten viele Aufgeklärte, vor allem im Rheinland, mit ihr sympathisiert. Der Lockruf „Freiheit“ entpuppte sich aber bald als ein Traumbild und wich den Greueltaten der Jakobiner, bis sie an ihrem eigenen Blutrausch erstickten und ihre Revolution ihre Kinder fraß. Umso unverbrüchlicher handelten jetzt viele Deutsche nach dem Bibelwort: Seid Untertan der Obrigkeit! Man hatte ja gesehen, wohin Aufruhr führte. Bleischwer senkten sich durch die Karlsbader Beschlüsse der Monarchien Zensur, Polizeistaat und Kerker über das Land.
Nach Beseitigung der patriotischen Romantik war in den (18)20er Jahren das öffentliche Leben Deutschlands in die Formen des mechanischen Polizeistaates eingesargt, welcher „keine Staatsbürger kennt, sondern nur träge Massen zu Spießbürgern, verwaltet nach den Grundsätzen der Stallfütterung, wo Licht und Luft, Futter und Getränk, Lager und Stand, Bewegung und Ruhe den Tieren zugemessen wird; des Polizeistaates, wo der Bürger ein Verbrechen begeht, wenn er sich tätig um die allgemeine Wohlfahrt bekümmert; des Polizeistaates, wo die allgemeine Feigkeit als Kette um die krankhafte Selbstsucht, Selbstverachtung und Zerrissenheit der Gemüter sich schlingt, welche durch die gewaltsame Verdrängung vom idealen Staatsleben hervorgerufen wird.“
Johannes Scherr, Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, Band 3, 1925 nach der 2.Aufl. von 1866, S.271; dieser seinerseits zitierend: Julius Mosen, Der Kongreß von Verona.
Janusköpfig trägt der liberale Staat der wirtschaftlichen Freiheit vorne ein wohlfahrtstaatliches Gesicht, um die im Wettbewerb gescheiterten Massen ruhigzustellen, hinten aber ein polizeistaatliches Gesicht, wenn die „trägen Massen der Spießbürger“ sich in aufgeregt tumultuierende „Querdenker, Schwurbler und Delegitimierer“ verwandeln. Was der Burschenschafter (Germania Jena) Julius Mosen (1803-1867) über die Stallfütterung im Sozialstaat und die Polizeistaatlichkeit schrieb,[2] ist bis heute unverändert aktuell. Wer nicht maskenfromm und impfwillig war oder sich irgend kritisch in die Öffentlichkeit wagt, bekommt das schnell zu spüren: Von der medialen Stigmatisierung und dem Arbeitsplatzverlust über Waffenscheinentzug und Hausdurchsuchungen ist der Instrumentenkasten der Herrschenden wohlgefüllt.
Wer nur bei ARD und ZdF in der ersten Reihe sitzt, weiß das natürlich nicht. Es würde mich vom Thema abführen, hier reihenweise von rechtswidrigem Staatshandeln gegen mutmaßliche Abweichler zu schreiben, mit dem ich mich an vorderster Front juristischer Gefechte ständig auseinanderzusetzen habe.
Wo schwand die Freiheit hin?
Die geistige Freiheit meiner Gymnasialzeit hatte aus der Erfahrung der Vätergeneration resultiert, wie schnell Staaten sich die Herzen hatten untertan machen und die Köpfe indoktrinieren können. Die Generation der Nachkriegszeit war skeptisch. Doch schon gegen Ende meiner Schulzeit ab etwa 1968 krochen Fanatismus und Weltverbesserertum wieder aus ihren Löchern, Vorlesungen wurden gesprengt und linientreu rote Gesinnung wurde endlich zur Eintrittskarte in staatliche Karrieren.
Die staatlichen Rückzugsgefechte wie „Berufsverbote“ endeten im Fiasko, und ihre damaligen Opfer rächen sich heute mit gleicher Münze an der verhaßten bürgerlichen Gesellschaft. Wer ihnen die Gefolgschaft verweigert, gilt als Delegitimierung, und die Opfer von damals haben die Waffen der Berufsverbote und Diskriminierungen perfekt zu schwingen gelernt.
Und wieder bewegt der deutsche Michel sich im Kriechgang. Er ist es nicht anders gewöhnt. Demokratie? Versunken und vergessen, das ist der liberale Fluch.
[1] Carl Schmitt, Politische Theologie, S.77.
[2] Julius Mosen, Sämmtliche Werke, Oldenburg 1863, 5. Band, S.229.
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