Die Diskurstheorie ist außer Kurs geraten

Um die Diskurstheorie und ihren Urheber Jürgen Habermas ist es still geworden. Die Realität hat den „herrschaftsfreien Diskurs“ außer Kurs gesetzt. Vor Jahrzehnten galt Habermas als inoffizieller Chefideologe des linksliberalen Establishments.

Wer Hirngespinsten nachhängt, muß irgendwann grausam an der Wirklichkeit scheitern. Habermas hatte sich eine Gesellschaft erträumt, in der alle Entscheidungen und Rechtssetzungen aus einem freien Diskussionsprozeß hervorgehen sollten. Damit trieb er die Theorien liberaler Theoretiker des 19. Jahrhunderts auf die Spitze. Diese hatten von alten Konzepten „ewiger Wahrheiten“ Abschied genommen, die man nur hatte verkünden müssen. Dem liberalen Ideal zufolge müßte man nur die klügsten und edelsten Männer eines Volkes wählen und in einem Parlament so lange diskutieren lassen, bis eine für alle akzeptable Problemlösung herauskäme. Dabei müsse jede Meinung repräsentiert sein. Wie von unsichtbarer Hand stelle sich dann ein Resultat ein, das für das Gemeinwohl das beste sei.

Habermas wärmte diesen alten Hut auf und schmückte ihn noch mit ein paar Anmerkungen auf: Ein Ersatz für eine allseits akzeptable „Wahrheit“ könne sich nur bei völlig freier Debatte einstellen, der von ihm kreierten „idealen Gesprächssituation“. Diese setze vollständige „Repressionsfreiheit“ voraus.

Die demokratisch verfaßte Meinungs- und Willensbildung ist auf die Zufuhr von informellen öffentlichen Meinungen angewiesen, die sich idealerweise in Strukturen einer nicht-vermachteten politischen Öffentlichkeit bilden.

Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S.374.

Leider dachten alte und junge linksradikale Kader nicht im Traum an eine nicht vermachtete politische Öffentlichkeit, als sie – nach langem Marsch durch die Institutionen – die Macht ergriffen, um sie keinesfalls wieder abzugeben. Ihre Machtergreifung sollte eine totale und eine endgültige sein, und so wurde sie protototalitär.

Wer die Probe aufs Exempel machen möchte, darf gern einmal auf Twitter oder Facebook seinem tiefsten Herzen Luft machen und schreiben, was er von den Masseneinwandernden und der Koalition so hält, die Deutschland mit ihnen besiedelt, Oder er schaut – mit den Worten Martin Luthers – dem Volk aufs Maul, was es von einer Obrigkeit abgebrochener Studenten und Sozialfunktionären hält, die  einen Wirtschaftskrieg mit Rußland angezettelt haben, uns in Schulden, Inflation und Vermögensentwertung stürzen, die „unsrer Oma ihr klein Häuschen“  für sechsstellige Summen „klimagerecht“ umzubauen befehlen.

Als Strafverteidiger weiß ich nur zu gut, wie schnell ein Twittereintrag oder ein treffender Spruch in einer Chatgruppe zu einer Hausdurchsuchung und einer Anklage zum Strafrichter führen kann. Der Wunsch, einem gewissen „dummen Jungen“ im Bundestag mal so richtig „auf die Fresse zu hauen“, soll einen Herrn ein paar tausend Euro kosten: nur der jüngste von vielen aktuellen Fällen, die ich auf dem Schreibtisch habe.

Nun führt der ohnmächtige Wunsch, jemanden körperlich zur Verantwortung zu ziehen, zweifellos nicht zu einer idealen gesprächssituation im Sinne ihres Erfinders Habermas. Seit das Internet freilich den Stammtisch mit seinen Sprüchen ersetzt hat, wachen tausende Polizistenaugen und aufmerksame Sonderstaatsanwaltschaften über die Reinheit des Internets. Verfolgt wird nicht, wer als Politiker Haß auf sich zieht, sondern, wer ihn als Untertan artikuliert.

Die gegängelte Untertanenschaft

Die „nicht vermachtete politische Öffentlichkeit“ im Sinne der Diskurstheorie hat sich in eine staatlich kontrollierte und gegängelte Untertanenschaft verwandelt. In der „falschen“ Chatgruppe mitzureden, kann Beamtenkarrieren beenden, für mißliebig erklärte Worte wie Neger zu benutzen kann medialem Selbstmord gleichkommen, aber wer brav alles Neusprech und Gendergegacker nachäfft, kann damit seine linientreue Gesinnung vorweisen.

Auf jede kritische Stimme reagiert man mit heftigen Abwehrreflexen, wenn diese Stimme eine pragmatische Politik zugunsten unserer nationalen Interessen fordert. Der Reflex besteht in rigider Ausgrenzung aller Personen, deren Argumente nicht ideologisch sind, sondern pragmatisch, nicht moralisch, sondern von unseren Eigeninteressen geleitet, nicht multikultisch, sondern national. Alles, was rechts von ganz links steht, gilt jetzt als rechts. Man lädt „Rechte“ nicht in Talkshows ein, verbreitet ihre Positionen nicht in den Staatsmedien, zitiert ihre Schriften nicht und verdächtigt sie permanent des „Extremismus“, wenn nicht gar finsterer Mordabsichten. Sie stehen unter Generalverdacht, und um die Menschen nicht mit ihren Ideen zu „kontaminieren“, etabliert man eine umfassende Weltanschauungskontrolle.

Wenn Argumente nicht mehr zählen, sondern Dogmen an ihre Stelle treten, ist höchste Gefahr in Verzug. Worauf wir uns zubewegen, ist ein neuer totalitärer oder zumindest linksautoritärer Staat, in dem es keine Debatte mehr geben darf. Verfassung und Demokratie wurden von denen ausgehöhlt und verbogen, die sie zu schützen vorgeben; Haldenwang läßt grüßen!

Cantaloop, Ansage 7.5.2023

Die groteske Diskrepanz zwischen der staatsoffiziösen Diskurstheorie und ihrem ordensgeschmückten Erfinder und der rauhen Wirklichkeit unserer Tage erkennt, wer es über sich bringt, auch nur einen Satz der rhetorisch und stilistisch mißlungenen Hypothesen noch einmal nachzulesen. Habermas schrieb:

Im rationalen Denken unterstellen wir Kommunikationsbedingungen, die erstens einem rational unmotivierten Abbruch der Argumentation vorbeugen, die zweitens über den universellen und gleichberechtigten Zugang zur sowie über die  chancengleiche und symmetrische Teilnahme an der Argumentation sowohl der Freiheit und der Themenwahl wie auch die Inklusion der besten Informationen und Gründe sichern, und die drittens jeden auf den Verständigungsprozeß von außen einwirkenden oder aus ihm selbst hervorgehenden Zwangs, außer dem des besseren Arguments, ausschließen und damit alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche neutralisieren.

Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S.282.

Ein schönes Hirngespinst, und grau wie alle Theorie.

Sie können es einfach nicht

Ein neostalinistisch gesinntes linkes Establishment hält die Machthebel des Staates und seiner Propagandamedien fest im Griff. Auf Diskurs können sie nicht nur gern verzichten. Diskurstheorien standen bei ihnen nur vor ihrer Machtergreifung hoch im Kurs. Jetzt brechen Sie hohnlachend die Brücken zu ihren eroberten Bastionen ab.

Das ist auch ihre einzige Chance, denn wollten sie auch diskutieren: Sie vermögen es gar nicht mehr. Außer ein paar halb verstandene Phrasen zu dreschen, Katastropgenängste zu schüren und sich in pseudoreligiöse Endzeitphantasien zu flüchten, steht ihnen argumentativ nicht mehr zu verfügung. Der Verfall der höheren Bildungsinstitutionen und der klassischen Bildung hat eine geistige Einöde entstehen lassen. Die alten 68er waren zwar verblndet, aber sie waren wenigstens zuweilen noch gebildet, geistreich und witzig. Ihre Epigonen sind diskursunfähig, weil sie weder die nötigen Fakten gelernt haben, noch jemals die großen philosophischen und politischen Denker der Vergangenheit gelesen haben.

Noch gehen ihre Phrasen ihnen mühelos über die Lippen wie etwa diejenige der „Gerechtigkeit“, die sie mit andächtiger Miene – Blick ins Unendliche gerichtet – gebetsmühlenhaft wiederholen und beliebig allem und jedem anhängen: klimagerecht, tiergerecht, geschlechtergerecht. Seit der Antike wurden ganze Bibliotheken über Gerechtigkeitskonzepte geschrieben, und was von ihnen blieb ist die Torheit, sie jedem beliebigen Wort hinten anzuhängen, als sei damit irgend etwas begründet.

1995 hatte ich noch gehofft, solche Gedankengespenster argumentativ verscheuchen zu können:

Mit Absicht wirft man, wie Nietz­sche formulierte, kalte, graue Begriffs­netze über uns, mit denen man uns ein­zu­wickeln ver­standen hat und schon unsere Kinder in den Schulen von lebens­frohen Geschöpfen zu bußfertig Zerknirschten her­ab­wür­digt. Wir müssen uns den absichtlich verbreiteten Staub aus den Augen wi­schen und wie der kleine Junge im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern erkennen und ausrufen, daß der Gegner nackend da­steht, daß da überhaupt nichts ist außer uns eingeimpften Wahn­vor­stel­lun­gen. Um diese Geister gründlich und endgültig auszu­treiben, müs­sen wir uns zunächst im Arsenal der Philosophie umsehen und uns mit den Ideen bewaff­nen, die von Partisanen der Geistesfreiheit in Jahr­hunderten dort angesammelt worden sind. Wenn wir diese Waf­fen erst einmal hand­ha­ben, verwan­delt sich die zunächst Kon­zen­tra­tion abfordernde Mühe zu ei­nem spielerischen Ver­gnügen.

Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1995, Vorwort.

Man kann aber niemanden argumentativ bekämpfen, der seinerseits keine Argumente hat, der Gegenargumente gar nicht begreift und auch keinerlei Lust auf eine „ideale Gesprächssituation“ hat. Sie verweigern den Diskurs:

Ein erheblicher Teil der beklagenswerten gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland resultiert sicher aus einem Phänomen, das man “konditionierte Diskursverweigerung” nennen könnte: Der Weigerung, sich mit anderen Meinungen gar nicht erst auseinanderzusetzen, weil man sie als Zumutung, persönliche Beleidigung und Affront betrachtet.

Cantaloop, Ansage 7.5.2023

Während die intellektuelle Rechte Monat für Monat brilliert und publiziert, herrscht auf etablierten und linksradikaler Seite Stillschweigen. Man kämpft dort rituell gegen „Nazis“ und ist stolz, verstaubte Konzepte vom Anfang  des 20. Jahrhunderts moralisch zu erledigen. Der Linksintellektualismus abgestorben. Die alten linken Gegner sind in Rente gegangen. Ihre Epigonen sind nicht satisfaktionsfähig. Sie können nicht mehr mitreden. Ich kenne keine geistreiche linke Auseinandersetzung mit der aktuellen politischen Rechten.

Die Zöglinge der Alt68er haben ihre antiautoritären Kindergärten verlassen, ohne jemals etwas von Anstand, Stil und Selbstkritik gehört zu haben.

Dazu paßt die totale Diskursunfähigkeit, die vor allem in den sozialen Medien zu sehen ist, vornehmlich bei Facebook und Twitter: Hier giften sich die User oft schon nach wenigen Kommentaren derart an, daß man meinen könnte, es hätte hierzulande nach 1945 nie so etwas wie Streitkultur, gegenseitige Wertschätzung, Grundtoleranz oder gar Bereitschaft zur Selbstkritik und -reflexion gegeben.

Cantaloop, Ansage 7.5.2023

Sie leben mental in einer perfekten Blase:

Nie im Leben etwa würde ein grünprogressiver Mensch einen Artikel aus einem konservativ-liberalen Blog lesen, geschweige denn teilen. Selbst dann nicht, wenn dessen Thesen auf wissenschaftlich begründbarer und der Logik folgenden Empirie basieren. Mit dem, was da steht, würde er sich allenfalls dann beschäftigen, wenn auch die von ihm für vertrauenswürdig betrachteten, “seriösen” Journalisten und Experten seines Vertrauens (beziehungsweise der Regierung) plötzlich das einräumen, was in Wahrheit seit langem bekannt war.

Cantaloop, Ansage 7.5.2023

Es gilt nur, was aus „der richtigen Richtung“ kommt und den eigenen Glauben bestätigt. Diese Glaubenssätze müssen anscheinend nicht mehr begründet werden, sondern nur noch nachgebetet.

…muß sich die Gewalt stets gegen die Diskussion auf­lehnen, wenn die Gewalt groß und die Rede klein ist.“ (Bild: Lucidarius, Rosengarten zu Worms, Straßburg 1420, Uni.-Bibl.Heidelberg, Cod.Pal.germ 359)

Unsere Demokratie beruht auf Argumentation und freier Überzeugungsbildung. Wenn sich ein Establishment bildet, die Macht ergreift und nicht mehr willens und in der Lage ist, seinen Standpunkt in „großer Rede“ zu verteidigen, ist die Demokratie in höchster Gefahr. Die Untertanen könnten nämlich zu unfriedlichen Mitteln greifen, wenn sie den Eindruck gewinnen, argumentativ nicht mehr gehört zu werden:

So lange, bis der Mensch seine Natur verän­dert, muß sich die Gewalt stets gegen die Diskussion auf­lehnen, wenn die Gewalt groß und die Rede klein ist. Noch notwendiger muß dies gesche­hen, wenn die Diskussion das Chaos gebiert, wie dies jederzeit ihr letztes Attribut ist.

Auguste Romieu, Der Caesarismus, 1850, Hrg.Günter Maschke, Wien 1993, S.30.

Wer einen nennenswerten Teil des Wahlvolkes von der demokratischen Diskussion ausschließt und ihn mundtot macht, zerstört die Akteptanz des ganzen Systems.