„Aber wenn ich an die Alternative denke …“

Mentalität im Wandel

Ein 85jähriger und ein 95jähriger sitzen auf einer Parkbank und klagen über ihre Beschwerden: das Zipperlein, Inkontinenz, Demenz; nur das Zahnweh-Alter haben sie hinter sich. „Alt sein ist nichts für Feiglinge“, seufzt der eine. Darauf der andere: „Ja, aber, wenn ich an die Alternative denke ….“

Je nach Sichtweise kann man unser Land heute als aufblühende Landschaft des modernen Multikulturalismus oder auch ganz anders sehen, als vergreisendes Altersheim, dessen junge Generationen nicht mehr fähig oder nicht mehr willens sind, das Gemeinwesen aufrechtzuerhalten. Während Vertreter der einen Sicht nicht begreifen, daß ihre Moral nicht von allen Bürgern als oberste Richtschnur akzeptiert wird, verstehen die anderen nicht, wie man die Freiheitsrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Nationalstaatlichkeit wieder einer machtgefräßigen Ideologie unterordnen kann: 75 Jahre nach 1945 und 31 Jahre nach 1989.

Die mentalen Lager sind sich spinnefeind und rekrutieren sich aus heterogenen Milieus: bodenständige Landbevölkerung gegenüber städtischer Massengesellschaft, Handwerker und Arbeiter gegenüber Absolventen sozialwissenschaftlicher Studien, Menschen, die für ihren Bedarf selbst aufkommen, gegenüber Empfängern staatlicher Hilfen, Deutsche gegenüber Ausländern, Atheisten gegenüber Religiösen. Unterschiedliche Interessen ziehen oft unterschiedliche Mentalitäten nach sich.

Tiefe Klüfte trennen auch unsere Eigenwahrnehmung: Während sich die einen 1945 befreit fühlen, sehen sich andere als Besiegte oder Opfer von Mord und Vertreibung nach der Kapitulation, während viele sich gar nicht mehr als Deutsche verstehen, sondern Kosmopoliten sein möchten, halte andere an ihrer Identität zäh fest. Noch arbeiten Millionen von früh bis spät mit sprichtwörtlicher deutscher Tüchtigkeit, Fleiß und Gewissenhaftigkeit, während andere sich nur noch in der Spaßgesellschaft amüsieren wollen.

Warten auf den Zusammenbruch

Aus Rechtsaußensicht ist der materielle Überfluß eine Ursache und ist die Spaßgesellschaft ein Symptom dafür, daß alles zusammenbricht, was Deutschland früher groß und stark gemacht hat. Deutschland könne erst wieder groß und stark werden, heißt es von dort, wenn die Volkswirtschaft in einer Krise zusammenbricht. Dann würden die Deutschen reagieren wie nach der Weltwirtschaftskrise vor knapp 100 Jahren, die alten Tugenden wieder annehmen und sich auf ihre nationalen Werte besinnen.

Diese Hypothese kenne ich seit 40 Jahren. Solange warten systemoppositionelle  Rechte bereits auf die große Krise, die bisher nicht kam, ganz ähnlich wie ein anderes Volk seit langem auf einen Messias wartet, der sich auch bisher nicht einstellte. Wer dem politischen System kritisch gegenübersteht, wünscht ihm gewissermaßen die Pest an den Hals. Covid19 hilft vielleicht auch. Was destabilisiert, ist willkommen. Claus Cremer, der Landesvorsitzende der NPD in NRW, schrieb am 1.11.2020 auf Facebook: „Seit Jahrzehnten wollen, fördern, sagen und arbeiten wir genau an dem, was gerade passiert. Wir waren uns einig darin, daß dieses System überwunden werden muß, es wahrscheinlich nicht über Wahlen funktioniert, es noch viel härter für die Schlafschafe kommen muß, der Kapitalismus ein Feind freier Völker ist, die Blase €U zusammenbrechen wird, etc. […] Im Grunde bin ich pro-Endzeitstimmung.“

Von dieser Endzeit erhofft er sich für „Nationalisten, Freiheitskämpfer, Patrioten, Regionalisten, etc. doch nur eine Option: Rechtzeitig da sein, mit den Gegebenheiten arbeiten und sich auf das „Neue“ mit unseren Zielen/Forderungen einstellen,“ und er kritisiert: „Ich bin wirklich überrascht, wie viele meiner „Freunde“ hier und Kameraden im realen Leben in den letzten Monaten zu Systemrettern mutiert sind.“

Wer sein Haus gern einstürzen sähe, sollte darüber nachdenken, wo er die nächste Nacht verbringen wird und was draußen lauert (Foto: JVA Ebrach, ehemaliges Kloster).

„Tja, aber“, würde ihm vielleicht der 95jährige Greis auf der Parkbank erwidern, „wenn ich an die Alternative denke?“ Endzeiten haben ihre besonderen Risiken und Nebenwirkungen. Sie sind Umbruchs- und immer auch Anfangszeiten. Was umbricht und was dann sein Haupt erhebt, wäre eine Machtfrage. Diese wäre allerdings keine offene. Wer sein Haus gern einstürzen sähe, sollte darüber nachdenken, wo er die nächste Nacht verbringen wird und was draußen lauert

Weder die bürgerlichen „Schlafschafe“ noch die Hedonisten der Spaßgesellschaft werden plötzlich zu irgendwelchen Fahnen strömen und den Geist von 1813 aufstehen lassen. Das Volk wird nicht aufstehen und jenes alte Lied ungesungen bleiben. Es gibt dieses Volk nämlich so nicht mehr, auf das man ganz rechts hofft, nicht das von 1813, nicht das von 1933 und auch nicht mehr das von 1989. Machiavelli schrieb, jeder werde scheitern, der seine Ambitionen nicht den Zeitverhältnissen anpasse. Mit Armeen, die nur in der eigenen Wunschvorstellung existieren, kann man nicht siegen. Das wußte jeder erfolgreiche Feldherr, und einer, der es vergaß, endete bekanntlich nicht als erfolgreicher Feldherr.

Wir sind darum gut beraten, zu bewahren, was wir unbedingt benötigen. Es gibt nicht (nur) das von Claus Cremer kritisierte „System“. Es gibt mehrere, teils ineinander verschachtelte Systeme auf verschiedenen Betrachtungsebenen. Das Parteiensystem stellt sich soziologisch als selbstreferentiell dar: Es sichert seine Stabilität, indem es nur nach oben läßt, wer schon so funktioniert, wie die anderen Oberen. Ökonomisch ist „der Kapitalismus“ etwas viel Weitergehendes als die bloße Marktwirtschaft. Verfassungsrechtlich besteht unser System in der freiheitlichen demokratische Grundordnung, die uns davor schützen soll, zum bloßen Objekt staatlicher Willkür zu werden.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Das deutsche Volk, auf dessen Erwachen die äußerste Rechte hofft, besteht nicht mehrheitlich aus zum Letzten entschlossenen Freiheitskämpfern, sondern aus ruhigen Bürgern. Sie lauschten ganz früher dem Prediger auf der Kanzel, was sie denn glauben sollten, später kamen die Töne aus dem Volksempfänger und heute aus dem Fernsehen. Sie möchten ihre Ruhe haben und ihrer Arbeit nachgehen. Darum fühlen sie sich wohl in einer Rechtsordnung, die ihnen genau das verspricht.

Einen „Zusammenbruch des Systems“, das uns schützen sollte vor durch die Straßen marodierenden Horden, wird keine Mehrheit in Deutschland wollen. Nicht dieses System, also nicht der Kern unserer freiheitlichen Verfassung ist unser Problem. Ein Problem entsteht aber, sobald sich wesentliche Teile der Bevölkerung nicht mehr an sie halten. Wer Mehrheitsentscheidungen nicht akzeptieren kann, weil er in dem Wahn lebt, sein Gott habe ihm eingegeben, alle Leute umzubringen, die nicht vor diesem Gott auf den Knien herumrutschen, gehört dazu.

Dazu gehört auch, wer nachts durch Gassen schleicht und den Bürgerkrieg probt. Schließlich gehört dazu, wer als legaler Arm solche Straßenkrieger öffentlich bezuschußt oder in öffentlich-rechtlichen Medien das Volk indoktriniert. Die Problembären sind überall. Sie propagieren offene Grenzen für alle, weil sie sich davon eine Zerstörung unseres ihnen verhaßten ethnischen Volkstums erhoffen. Damit öffnen sie die Schleusen für Menschengruppen, die von gutem Zusammenleben wesentlich andere Vorstellungen haben, als es unserem freiheitlichen Verständnis entspricht.

Unsere Verfassung böte hinreichend Instrumente, alle Problembären abzuwehren. Sie funktioniert aber nur solange, wie diese nicht selbst die Instrumente in die Hand bekommen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung funktioniert nicht von allein. Die äußerste Linke hat schon viele ihrer Hebel und Instrumente besetzt. Sie wird ihre herkömmliche Interpretation auf „null“ stellen, die Kernbegriffe der Verfassung in ihrem Sinne neu auslegen und dadurch das Freiheitliche und das Demokratische an unserem System beseitigen. Dieser Prozeß hat bereits begonnen. Er wird unser System zusammenbrechen lassen, ohne es formell zu beseitigen.

Das ist die Alternative, an die ich denke, wenn ich vom Zusammenbruch des Systems lese.

Zurück

Tote Fische schwimmen mit dem Strom

Nächster Beitrag

Abenddämmerung der Demokratie

  1. Ivo Edersleben

    Man lasse einmal das wohlklingende Ideal „freiheitlich demokratische Grundordnung“ beiseite; Das konkret ausgestaltete System jedenfalls hat es seit 1949 geschafft, kampflos ein gut tausendjähriges Volk, das zweitgrößte in Europa, an den Rand der dauerhaften Beseitigung zu bringen. (Gar nicht einmal unbedingt absichtlich, sondern aus seiner systembedingten Dysfuntionalität in lebenswichtigen Fragen heraus. )

    Damit hat es sich ohne Wenn und Aber disqualifiziert.

    Wenn dieses also schon unter allen Umständen ungenügend ist, stellen sich denkbare weitere Verschlechterungen daran als nicht entscheidend dar. Es ist, als würde jemand an einer konstruktiv nicht funktionieren könnenden Uhr noch den Zeiger abbrechen.

    Man sollte sich davon nicht ablenken lassen, sondern sich stattdessen um eine grundsätzlich funktionierende Uhr kümmern.

    Da auch Schlafschafe irgendwann aufhören, zu schlafen, und stattdessen sterben, wie in dem Beitrag angedeutet, hat man dafür nicht ewig Zeit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén