Konkurrenzkampf der Kapitalismen

Der Liberalismus angelsächsischer Prägung hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft einen scheinbar konkurrenzlosen Siegeszug angetreten. Die Planwirtschaft funktionierte nicht, der Markt wirtschaftete effektiver. Aber immer, wenn eine Ideologie scheitert und eine andere sich durchgesetzt hat, brechen sich die immer widerstreitenden Interessen verschiedener Menschengruppen auf dem Boden der siegreichen neuen Ideologie Bahn.

Sie artikulieren sich aufs neue in unterschiedlichen geistigen Entwürfen mit verschiedenartigen Organisationsstrukturen. Diese Fraktionen des bisherigen Systemsiegers bekämpfen sich jetzt ebenso erbittert, wie der gescheiterte frühere Feind gehaßt wurde.

Staatsmacht oder Geldmacht? Zwei Schiffe im Preisvergleich.
Links der Kreuzer Moskwa. Es war das erste Mal, daß Moskau einen Kreuzer verliert, seit deutsche Flugzeuge 1941 in Sewastopol die Chervona Ukraina (Rote Ukraine) versenkten.
(Twitter-Tweed 15.4.2022)

Auf marktwirtschaftlicher Grundlage rivalisiert heute das westlich-liberale Lager mit autoritären Modellen wie in Rußland oder China. Allesamt haben sie ihre Finanz-Oligarchen, mögen diese nun Elon Musk oder Bill Gates heißen, Abramowitsch, Usmanov oder Kolomojskij.

Der

offensichtliche krisenhafte Wandel der weltweiten politischen Ökonomie [hat eine] eine neue, weltweit geeinte Herrschaftsstruktur in oligarchischer Form hervor[gebracht]. Dabei werden im Inneren der Gesellschaften demokratische durch autoritäre Praktiken ersetzt, nach außen wird zunehmend Gewalt angewendet.

Kees van der Pijl, Kommt die globale autoritäre Oligarchie? Annäherungen und Konflikte zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, PERIPHERIE Nr. 137, 35. Jg. 2015, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 47.

Im Ukraine-Krieg prallen zwei Kontrahenten dieses Ringens aufeinander. Hinter jedem stehen konkrete Machtoligarchien. Sie verkörpern zugleich unterschiedliche Herrschaftsmodelle auf derselben kapitalistischen Grundlage.

Die Gegenspieler des liberalen Kernlandes, die ich „Herausfordererstaaten“ nenne, operierten historisch ausgehend von qualitativ anderen Prinzipien. Der in der Staatsmacht verschanzte Machtblock, die Staatsklasse, vereinnahmte ihre soziale Basis, um sie in der Auseinandersetzung mit dem stärkeren Westen mobilisieren zu können. In solchen Staaten fallen die Rollen der herrschenden und der regierenden Klasse, ökonomische und politische Kontrolle, in eins. Dies gilt in praktisch allen politischen Formationen außerhalb des reichen liberalen Westens. Hier besaß der Gesellschaftsvertrag immer autoritäre Züge. Neuerdings wurden diese Verträge so revidiert, daß sich auch eine Oligarchie kapitalistischen Stils formieren kann. Dies gilt am offenkundigsten für Russland und China, aber auch für den Iran, die arabischen Staaten und andere.

Kees van der Pijl, Kommt die globale autoritäre Oligarchie? Annäherungen und Konflikte zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, PERIPHERIE Nr. 137, 35. Jg. 2015, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 47.

Darum sympathisieren deutsche Anhänger autoritärer Herrschaftsformen mit Putin. Er scheint ihnen den Typus des Imperators zu verkörpern, eines Retters oder Erlösers, nach dem sie sich so sehnen. Der Kriegsverlauf zeigt aber die erschreckende Ineffizienz des autoritären Modells auf. Führer, die einsam in ihen Bunkern sitzen und nur Speichellecker vorlassen, verlieren allzu schnell den Kontakt zur traurigen Realität ihrer Truppen. Soweit sich im Ukrainekrieg auch ein Wettkampf verschiedener kapitalistischer Modelle verbirgt, hat das russisch-autokratische ihn bereits verloren.

Die wesentlichen Entscheidungen Putins bewirkten das Gegenteil des Bezweckten: Die zuvor „hirntote“ NATO feiert ihre Auferstehung, in Pussy-Staaten wie Deutschland fordern frühere Pazifisten, sich und die Ukraine bis unter die Zähne zu bewaffnen, das ukrainische Volk formiert sich als patriotische Nation, während die russische Armee sich als lustloser Haufen konzeptloser Krieger oder gar Räuber und Mörder entpuppt.

Der liberale Westen hingegen läßt seine Muskeln spielen. Seine Ideologie zielt globalistisch auf eine Alleinherschaft des liberalen Finanzkapitalismus ab. Er fordert, daß alle Konflikte ausschließlich mit Geldmacht entschieden werden. Feinde werden möglichst nicht mehr bekriegt; sie werden gekauft. Ist das nicht möglich, werden sie ruiniert.

Dieser Extremismus des Liberalismus stößt an die Grenzen seiner Macht, wo er noch auf Staatsgrenzen stößt. Gegen sie steht das One-World-Modell. Ihm folgen die USA, weil es gut für Amerika ist, wie Präsident Trump gern beteuerte. In dieser ersehnten One World haben die USA schon durch die Macht ihrer Armeen freien Zugang zu allen Märkten. Ihr Turbo-Kapitalismus sucht alle Grenzen tendenziell zu beseitigen zugunsten des ungehinderten Flusses von Kapital, Waren und Menschen: Die Menschenströme ergießen sich zu den jeweiligen Produktionsstandorten, und das erwirtschaftete Kapital flutet zurück in die USA. Die für dieses Modell benötigte Geisteshaltung ist der Kosmopolitismus mit allen seinen ihm zuliefernden Werthaltungen.

Die Legende vom friedlichen Handel

Die in Deutschland tonangebende politische Klasse ist historisch völlig unbedarft, hatte sich jahrzehntelang in einem moralisierenden Elfenbeinturm versteckt und schwafelt heute von einer Zeitenwende. Diese hat es aber weder in Rußland gegeben, das seit Jahren Angriffskriege wie in Tschetschenien führte, noch gar im Westen. Die USA nutzte die Ukraine wie einen Bauern auf dem Schachbrett.

Es schmälert nicht die Tapferkeit der Ukrainer und ihr Ringen um Selbstbestimmung, sich dessen bewußt zu bleiben, und es relativiert auch nicht katastrophale Fehlentscheidung Putins, aus allen Rohren ballernd sein Nachbarland zu überfallen. Er ist den USA auf den Leim gegangen, die schon immer vermieden, als die Bösen dazustehen und den ersten Schuß abzugeben. Gleichwohl verstanden sie es ebensogut wie zuvor die Engländer, Konkurrenten solange wirtschaftlich und strategisch in die Enge zu treiben, bis diese schossen.

Angelsachsen haben selbst immer und nur zur Waffe gegriffen, wenn es galt, ihr Geld zu verteidigen oder ihren Handel zu sichern. Der Amerikaner F. William Engdahl hat auf den engen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und hegemonialer Machtpolitik hingewiesen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hätte die britische Finanzwirtschaft sich der Freihandelsdoktrin bedient. Ihr Kern bestand darin, den „absoluten Freihandel im Sinne Adam Smiths als Waffe gegen die souveräne nationale Wirtschaftspolitik rivalisierender Mächte einzusetzen.“ Zeitweilig war ein Fünftel der Landfläche der Erde britisch. Als sich seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Kolonien und abhängige Gebiete befreiten, kam man auf die Idee einer „informellen Herrschaft“: So „floß plötzlich Kapital in erstaunlichem Umfang nach Argentinien, Brasilien und andere spanische Kolonien in Amerika. Sie legten um diese Länder Bande finanzieller Abhängigkeit, die sich in vielfacher Hinsicht bald als wirksamer erweisen sollten als der direkte Kolonialismus.“[1]

Die Abschnitte ab „Die Legende vom friedlichen Handel“ ist der Neuerscheinung „Staatsfeind Liberalismus“ entnommen.

Briten erzählten in überseeischen Ländern, wie dringend die Eingeborenen und Bewohner doch eine Infrastruktur benötigten. Das war listig, denn diese war vor allem eine unbedingte Voraussetzung für den Warentransport. „Britisches Kapital baute die Eisenbahnen, die Hafenanlagen und entwickelte die Schiffahrt. London diktierte aber die Kreditbedingungen so, daß sie die Kleinstaaten finanziell strangulierten und zu wirtschaftspolitischen Gefangenen britischer Handelshäuser und Banken machten. Indem sich die Nationen auf diese Handels- und Finanzbedingungen einließen, traten sie die Kontrolle über ihre Volkswirtschaft an die Handelshäuser und Banken ab. Die Länder wurden damit viel wirksamer und nachhaltiger unterworfen, als wenn britische Soldaten die Hauptstadt erobert und für das Britische Empire Tribute und Steuern eingetrieben hätten.“[2]

Wenn der Finanzkolonialismus notfalls schießt

Eine Bedingung für die Ausbeutung anderer Länder bildete stets der „freie“ Fluß von Kapital, das natürlich geschützt werden mußte. Das probate Mittel gegen ein Aufmucken der Einheimischen bildete das eine oder andere Kanonenboot, bis der erste Weltkrieg und die Bevölkerungsvermehrung in Übersee subtilere Mittel nahelegten. Wer sich der finanziellen Machtübernahme seines Landes widersetzte, wurde immer als „Schurkenstaat“ bekämpft. So nannten die US-Amerikaner als gute Schüler des britischen Beispiels immer just die Staaten, die sich dem internationalen Kapitalfluß entzogen. Nach zwei Weltkriegen könnten auch die Deutschen begriffen haben, warum diese Kriege gegen uns geführt wurden. Jeder Staat mag seine eigenen Kriegsgründe haben, auch Deutschland. Die angelsächsischen aber werden erst bei Analyse der ökonomischen Verhältnisse Großbritanniens und der USA transparent.

Diese weisen eine Strukturgleichheit mit Großbritannien auf, weil in beiden Ländern Finanzoligarchien auf der Grundlage des gleichen doktrinären Liberalismus herrschen. Die USA betreiben traditionell die Politik der indirekten Beherrschung:

„Als Beispiele für indirekte US-Herrschaft wird man v.a. an Schah Reza Pahlewi im Iran denken, den der damalige US-Außenminister Henry Kissinger als „Säule der Stabilität in dieser unruhigen und wichtigen Region“ lobte, oder Chiles ehemaligen Präsidenten Augusto Pinochet, der mit Hilfe Amerikas am 11. September 1973 einen Putsch gegen die demokratische Regierung durchführte, um Amerikas Vorstellungen von Ökonomie umzusetzen.“

Michael Lobe, USA und ROM. Über Macht und Ohnmacht zweier Großmächte, Pegasus-Onlinezeitschrift IX/1 (2009), nach Naomi Klein, Die Schockstrategie, Frankfurt 2007, 95 ff..

Das britische Empire ging im 19. Jahrhundert von der Kontrolle großer Teile der weltweiten Güterproduktion über zur bloßen Kapitalisierung und Finanzierung durch die Londoner City bei gleichzeitigem Rückgang der industriellen Position gegenüber Kontinentaleuropa.[3] Hier wurden Spekulationsgewinne nicht gern gesehen, und „arbeitsloses Einkommen“ galt als fragwürdig. Der Staat kontrollierte die Zulässigkeitsbedingungen.

In Großbritannien führten, anders als in Deutschland, „nicht die parlamentarischen Gremien und Ministerien die öffentliche Finanzdebatte, sondern zu einem viel höheren Grad die Marktgremien der City und die Bank of England selbst. Damit läßt es sich auch in Verbindung bringen, daß die Kritiken und Legitimitätsangriffe in Krisenzeiten zumeist durch interne Regulierungen der Börsenbesitzer, also des Händlerkollektive, beantwortet wurden. So gab es bis in die 1970er Jahre keine staatliche Bankenaufsicht in Großbritannien. In Deutschland waren dagegen die wiederkehrenden parlamentarischen und staatlich-administrativen Versuche prägend, Spekulationsgeschäfte zu verhindern oder zumindest einzuschränken.“[4]

Nur vor dem Hintergrund wird verständlich, wie es zum Ukraine-Konflikt und schließlich -krieg überhaupt kommen konnte. Er ist der Machtkonflikt zwischen dem Möchtegern-Imperium eines kapitalistischen Autokraten unter orthodox-patriotischen Fahnen mit den globalen Ambitionen westlicher Finanzoligarchen. Ihre liberale Ideologie trägt paninterventionistische Züge, denn überall auf dem Globus wird sich immer noch irgendein unterdrückter Hirtenstamm finden, dessen Menschenrechte durchgesetzt werden müssen, bis alles unter Kontrolle ist.


[1] F. William Engdahl, Mit der Ölwaffe zur Welt­macht, Wiesbaden 1992, S.16 f.

[2] F. William Engdahl (1992), S.18 f.

[3] Sascha Münnich Schlußbericht zum Forschungsprojekt 01UF1507 „Die gesellschaftliche Legitimität von Finanzprofiten“ 1.10.2015-31.10.2019, Universität Göttingen, S.13.

[4] Sascha Münnich (2019), S.11.