Ein Doppelleben in Kiew?

Schauspielern als Qualifikationsvoraussetzung

Schauspielern zu können, ist in vielen Berufen eine Qualifikationsvoraussetzung. Wenn Politiker vor Mikrofone treten und „volles Vertrauen“ in jemanden heucheln, ob sie Siegeszuversicht auszustrahlen haben oder Lösungskompetenz, sie dürfen nicht straflos aus der Rolle fallen. Armin Laschet lachte bei der Trauerfeier für die Opfer der Ahrweiler Flutkatastrophe im falschen Moment. Das war sein politisches Verhängnis.

Geschauspielert wird überall, wo Überzeugungsarbeit geleistet werden muß. Mit der persönlichen Überzeugung muß das nichts zu tun haben. Wer wüßte das besser als ein plädierender Strafverteidiger?

Also warum nicht gleich einen Schauspieler engagieren, um eine Rolle bestmöglich zu besetzen? Bei einer Strafverteidigung käme ein nicht juristischer Schauspieler freilich nicht weit. In der Politik ist das allerdings einfacher. Niemand erwartet ernsthaft Sachkompetenz von einem Politiker. Wann hatten wir zuletzt einen Verteidigungsminister mit auch nur einer Spur von Ahnung von Tuten und Blasen? Er darf nur niemals aus der Rolle fallen, muß ernsthaftes Verständnis für die Sorgen und Anliegen der Wähler vorgaukeln, und im Chor der über den Gegner Empörten muß man ihn immer als ersten Tenor heraushören.

Gelernte Schauspieler verstehen sich darauf ausgezeichnet. Arnold Schwarzenegger sah ich als Junge in Science-Fiction-Heftchen für Muskelpräparate werben. Im Fantasy-Film Conan spielte er den meistens schweigenden Schwerthelden. Irgendwann hatte er anscheinend hinreichend sprechen gelernt und wurde Gouverneur von Kalifornien. Sein Kollege Ronald Reagan übertraf ihn noch und avancierte zum US-Präsidenten. Jeder nahm den begnadeten Darstellern ab, es mit ihren politischen Forderungen völlig ernst zu meinen. Und jetzt herrscht da in der Ukraine Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj.

Für viele bestätigt sich ihre Meinung, die Welt werde in „Wahrheit“ von geheimen Mächten gelenkt. War nicht die letzte Wahlentscheidung der Ukrainer durch ihre Massenmedien wesentlich beeinflußt? Und wem gehören die? „Aha“, folgert man dann und zieht vielsagend die genetischen Verbindungslinien zu Soros, Zuckerberg, Murdoch und Co. Ich halte das Ergebnis solcher Gedankengebäude für Scheinevidenzen nach dem Vorbild des Filmes „Der ewige Jude“ von Fritz Hippler, demzufolge jedem eine bestimmte „Rolle zugedacht“ war: Vom kommunistischen Kommissar in Stalins Geheimpolizei bis hin zu den Rothschilds – angeblich alles ein und dieselbe Mischpoke.

Gefährlich sind solche Verschwörungstheorien, weil sich solche Scheinevidenzen leicht finden lassen, aber als monokausale Erklärungsmuster den Blick auf die darunter liegende, tiefgreifende Komplexität der Verhältnisse verstellen. Wer sich alle möglichen Menschen, vor seine üblichen Verdächtigen, als „immer irgendwie gesteuert“ vorstellt, hat von realen Menschen und ihren Beweggründen nicht viel verstanden. Diese handeln nämlich immer individuell im Rahmen ihrer vermeintlichen persönlichen Interessen. Diese werden nicht durch Zugehörigkeit zu einem fiktiven Kollektiv vorgegeben.

Solchem Glauben aber verfallen mit Vorliebe Metaphysiker, die sich in ihren kreativen Hirnen gern solche Kollektive zurechtbasteln und sogleich für reale „Wesenheiten“ halten. Solcher Wahn forderte ungezählte Opfer, zum Beispiel nach der Oktoberrevolution zu „der Kapitalistenklasse“ gezählt wurden, unter Stalin „den Kulaken“ oder unter Hitler „den Juden“. Wilhelm von Ockham hatte einst gewarnt: Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem[1]. Kollektive Eigenschaftszuschreibungen begründen für sich genommen niemals die reale, wesenhafte Existenz solcher Kollektive. Diese befinden sich zwar in den Köpfen ihrer Konstrukteure, steuern aber nicht das Verhalten ihrer angeblichen Angehörigen.

Nur eine Marionette?

Auch wenn mächtige Hintermänner sich etwas davon erhoffen, einen Schauspieler zu protegieren und in ein Amt zu bringen, heißt das noch lange nicht, daß der gute Schauspieler sich dann auch nach Wunsch der Hintermänner verhalten wird. Schwarzenegger und Reagan hatten am Ende ihre ganz eigenen Köpfe und machten „ihre“ Politik, und das macht Selenski ebenso.

Wenn man die Rolle seines Lebens spielt, kann man in ihr aufgehen. Es gibt dafür auch ein literarisches Beispiel. 1956 erschien der Roman „Double Star“ des Science-Fiction Autors Robert Heinlein (1907-1988).[2] Er erzählt die Geschichte des genialen Schauspielers Lorenzo Smythe, der für einen geheimen Staatsauftrag engagiert wird: Der Staatspräsident wurde entführt, um eine wichtige Entwicklung zu vereiteln. Smythe schlüpft in seine Rolle, spiegelt der Öffentlichkeit im Wahlkampf perfekt den Präsidenten vor und gewinnt für ihn die Wahl. Kurz darauf stirbt der gewählte echte Präsident. Dessen Freunde lassen den Schauspieler weiterspielen und das Lebenswerk des Politikers vollenden.

Robert Heinlein: Double Star (1956, Inhaltsangabe)

Lorenzo Symythe lernt die politischen Standpunkte des Originals schätzen. Er verinnerlicht sie und identifiziert sich so sehr mit seiner Rolle, daß er als das angebliche Original in die Geschichtsbücher eingeht.

Die Rolle seines Lebens scheint auch Selenski gefunden zu haben. Er hatte so etwas ja bereits in einer Filmserie geschauspielert. Führt er uns hier nur ein Bühnenstück auf, oder glaubt er, was er spricht?

Vielfache Erfahrung lehrt: Menschen spielen nicht nur Rollen. Die Rolle prägt auch den Mann. Das vermag sie umso leichter, je weniger ausgeprägt und meinungsstark er zuvor war. Gegen seine Natur kann man nicht gut schauspielern. Kommt die Rolle aber latenten Überzeugungen entgegen, kann man mit seiner Rolle verschmelzen. Wir erinnern uns, wie sehr das Armin Laschet mißlang. Als Mitglied der Kölner Ehrengarde (die Karnevalsuniformen „Spinat / Spiegelei“) lachte er bei einer Trauerfeier in Ahrweiler. Als Selenski am 4. April die Leichen auf der Straße in Bucha betrachtete, sah er dagegen so aus:

Ich nehme ihm das ab. Die Trauerfalten hat ihm kein Maskenbildner ins Gesicht gemalt. Vor allem aber bestätigen seine Taten die schönen Worte. Seit Wochen ist er die Seele und das Gewissen seiner Nation. Diese scheint sich geradezu um ihn wie um einen emotionalen Nukleus herauszukristallisieren. Er ist wie ein Katalysator, der dieser werdenden Nation Gesicht, Stimme und Selbstbewußtsein gibt.

Jeder seiner Sätze beschwört Heroismus, nationale Solidarität und Durchhaltewillen. Jedes Wort schmiedet die Ukrainer zusammen, ganz gleich ob sie muttersprachliche Ukrainer oder Russen sind. Jede Silbe spricht zugleich allen linksgrünen Phrasen Hohn, an die seit Jahrzehnten gewöhnt worden sind: Krieg ist nicht „sinnlos“, wenn er als gerechter Abwehrkrieg geführt wird und Frauen, Kinder und alte Leute schützen soll, massakriert zu werden. Er ist auch nicht „keine Lösung“, wenn der Feind sich nun einmal nicht durch Verhandlungen von seinen Verbrechen abbringen läßt. Niemand ist für „alle Menschen gleich“ verantwortlich, sondern für sich und die Seinen zuerst.

Der Gedanke der Nation ist nicht historisch überholt, sondern der einzige Weg, sich zu einem Ganzen zusammenzuschließen, mächtig genug, das Leben seiner Angehörigen zu schützen. Das nimmt ihr niemand ab, keine UN, keine EU, keine westliche Wertegemeinschaft, keine NGOs, kein Finanzmulti, keine Lichterkette und keine gutmenschliche Phrase. Alles das spricht Selenski in unzähligen Wiederholungen und Wendungen täglich aus, darin besteht sein reales Handeln. Als die Russen einmarschierten und man ihm nahelegte, doch Kiew zu verlassen, gab er zur Antwort, hier werde er schließlich gebraucht. Damals deutete noch alles auf eine schnelle Einkreisung und Eroberung Kiews hin, die seine Liquidierung hätte bedeuten können.

Der Mann hat persönlichen Mut gezeigt und nicht nur schöne Worte geschauspielert. Er tritt mit seiner gesamten Existenz für das ein, was er sagt. Aus solchem Holz sind Führerfiguren geschnitzt und werden Legenden, wenn ihnen der Sieg gelingt.

Georg Sluyterman von Langeweyde (1903-1978) setzte als Grafiker zeitlos gültige Sprichtworte ins Bild: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“

Es ist nicht die globale Finanzherschaft und keine One World, für die Selenski sein Volk in den Überlebenskampf führt. „Hilf Dir selbst, dann hilft der Gott!“ – welcher auch immer. Das war früher auch in Deutschland ein geflügeltes Wort. Der Künster Georg Sluytermann (1903-1978) hat es in einer Grafik sinnfällig verewigt. Die Geltung des Sprichworts wurde verdrängt von einer allüberall sich breit machenden Unselbständigkeit. Viele scheinen gar nicht mehre existenzfähig zu sein ohne Sozialamt, Sozialarbeiter, Therapeut und Pfarrer. Man hilft sich nicht selbst, sondern bildet vielleicht einen Stuhlkreis oder eine Therapiegruppe.

Raus aus der bequemen, pazifistischen Suhle

Wie weit die Ukraine mit gutmenschlichem Wohlwollen ihrer westlichen Nachbarn gekommen ist, hat sich in den Tagen nach dem 24. Februar gezeigt. Sie stand allein. Erst nach Abwehrerfolgen änderte sich die Stimmung im „Westen“. Selenskis Reden bilden ideologische Antitoxine gegen unsere eigene Knochenerweichung. Mehrere Generationen in Folge wurde unseren Kindern die bleibende Lehre vorenthalten: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“

Und ganz plötzlich tauchen sie alle aus ihren pazifistischen Suhlen auf, die Märzgefallenen der Linken. Grüne Politiker überbieten sich mit „mutigen“ Aufrüstungs-Forderungen. Der ideologische Umschwenk ist perfekt. Aber so sind die Menschen: Gute Schauspieler wußten, was sie predigen mußten, um in grüne oder rote Spitzenämter zu gelangen. Da haben sie ihre Sprüchlein hübsch aufgesagt. Jetzt hat die Wirklichkeit sie eingeholt. Ihre bunten Seifenblasen und Echokammern zerplatzten unter dem Schalldruck der Explosionen russischer Raketen. Ihr pazifistischer Moralismus fand keine Antwort auf die Leichenbilder von Bucha.

Anscheinend muß jede Generation aufs Neue ihre Lektion lernen, anstatt rechtzeitig den alten, weisen Männern mit gespitzten Ohren zuzuhören.


Lawrence Freedman, einer der führenden Strategieexperten der Gegenwart, setzt sich in einem aktuellen Aufsatz mit den Ursachen des bisherigen ukrainischen Erfolgs im Kampf gegen die russischen Invasionskräfte auseinander. Dieser Erfolg liege wesentlich in der Resilienz der Kultur der Verteidiger begründet, die sich auf ein Narrativ von “Zusammenhalt, Heldentum und Opferbereitschaft” stütze und die mit dem Kampf gegen die Invasoren verbundenen Härten zu tragen bereit sei.

Renovatio 5.4.2022

Die Ukrainer besitzen noch, was vielen unserer jüngeren Generation heute fehlt. Sie sollten es sich schleunigst aneignen.

[1] Das später so genannte Ockham’sche Rasiermesser.

[2] Mir liegt die 2.Auflage von 1970 vor, erschienen auf Deutsch bei Heyne unter dem Titel „Ein Doppelleben im Kosmos“.

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  1. Gustav

    Ich empfehle die wissenschaftliche Untersuchung „Kultur der Kritik“ von Professor Kevin B. MacDonald. Dann klärt sich das auch mit den Scheinevidenzen. Aber man muß es schon mit allen Quellen lesen, nicht nur bei Wikipedia vorbeischauen, da ist Kritik immer Antisemitismus, was immer das auch bedeuten soll.

    Es hat den Anschein, daß das übergeordnete Ziel der US-Politik in der Ukraine darin besteht, das weitere wirtschaftliche Zusammengehen von Asien und Europa zu unterbinden. Die Vereinigten Staaten wollen den Energiefluß von Ost nach West kontrollieren, sie wollen eine faktische Mautstelle zwischen den Kontinenten errichten, sie wollen sicherstellen, daß diese Geschäfte in US-Dollar abgewickelt und in US-Staatsanleihen umgewandelt werden, und sie wollen sich zwischen die beiden wohlhabendsten Märkte des 21. Jahrhunderts stellen. Die Ukraine ist eine wichtige Landbrücke, welche die EU mit Zentralasien verbindet. Washington will diese Brücke kontrollieren, damit es seine Macht weiter nach Osten ausdehnen kann.
    https://blog.manuscriptum.de/allgemein/was-will-putin-und-was-nicht/

    Am 26. Februar 2022 endete das internationale Währungssystem, das sich nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973 herausgebildet hatte. Beendigt wurde es vom Westen, im Wesentlichen den USA und der EU, indem an diesem Tag der Russischen Zentralbank der Zugriff auf ihre Fremdwährungsreserven in Höhe von 630 Milliarden US-Dollar gesperrt und viele Russischen Banken von der Nutzung des SWIFT Systems ausgeschlossen wurden. Damit endet ein wesentliches Element der US-Welthegemonie, unter der alle heute lebenden Menschen den größten Teil oder ihr ganzes Leben verbracht haben. Der Westen hat sich übernommen und verzockt, die Finanzwelt und damit ein zentraler Aspekt der Machtausübung über das Wohl und Wehe der Menschen werden nun multipolar. Damit wird im Finanzsystem nachvollzogen, was kulturell, wirtschaftlich und militärisch schon lange offensichtlich geworden ist: Der Niedergang des Westens.
    https://globkult.de/politik/welt/2183-verzockt-das-ende-der-us-waehrungsdominanz

    Der ukrainische Präsident hat sich zusammen mit dem „Wertewesten“ verzockt. Er hatte sicher keinen Angriff erwartet. Jeder Mensch in seiner Position würde jetzt so aussehen wie er. Ich möchte nicht mit ihm tauschen. Dafür taucht er in den Padora-Papers auf.

    Ein umstrittener Geschäftsmann soll fünf Milliarden Dollar aus einer ukrainischen Bank abgezweigt haben. Die Pandora Papers legen nun nahe, dass ausgerechnet Staatschef Wolodimir Selenskij davon profitiert haben könnte.
    https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/pandora-papers-ukraine-selenskij-oligarch-kolomoiskij-briefkastenfirmen-1.5429056?reduced=true

  2. Ich teile Ihre Lagebeurteilung, was die Strategie der USA angeht.

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