Warum der Krieg schonungslos geworden ist
Nein, das war er nicht immer. 1806 konnte die Berliner Obrigkeit noch verlautbaren: „Der König hat eine Bataille verloren – Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ Vor willkürlichen Übergriffen der französischen Besatzer blieb Berlin verschont. Der König floh, aber der Bürger durfte ruhig weiterschlafen.
Heute ist es damit vorbei. Die begrenzten Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts hatten mit einer Kriegserklärung begonnen, den Sieger schossen die Uniformträger unter sich aus, und mit einem Friedensschluß endete der Krieg. In der Ukraine erleben wir so etwas ebenso wenig wie in Palästina. Haßerfüllt und ohne Schonung des Alters oder Geschlechts metzelt man sich gegenseitig nieder.
Der eingehegte Krieg
Von den Abscheulichkeiten des 30jährigen Krieges angeekelt hatte Europa den Krieg immer weiter eingegrenzt und auf einen geregelten Wettkampf zweier Armeen nach quasi ritterlichen Regeln reduziert. Das Rote Kreuz wurde erfunden und dem Feind seine Ehre gelassen. Gegenüber diesen zivilisatorischen Errungenschaften stellen heutige „militärische Spezialoperationen“ häufig Akte reiner Barbarei dar. Man scheint den Feind mit Stumpf und Stiel ausrotten zu wollen.
Der klassische, im 18./19. Jahrhundert fixierte Begriff des Politischen war auf den Staat des europäischen Völkerrechts gegründet und hatte den Krieg des klassischen Völkerrechts zum völkerrechtlich gehegten, reinen Staaten-Krieg gemacht. Seit dem 20. Jahrhundert wird dieser Staaten-Krieg mit seinen Hegungen beseitigt und durch den revolutionären Parteien-Krieg ersetzt.
Carl Schmitt, Theorie des Partisanen, 1966, S.53.
Israel bombardiert im Gaza-Streifen keinen Staat. Den Palästinensern wird seit Jahrzehnten die staatliche Selbstbestimmung verweigert. Die fatalen Auswirkungen waren unausweichlich: Mit einem feindlichen Staat kann man Frieden schließen, und wenn es Krieg gibt, kann man ihn auf Kombattanten begrenzen. Gibt es hingegen keinen gegnerischen Staat, keine reguläre Armee, keine Uniformen und keine Regeln, durchbricht der früher eingehegte Krieg alle zivilisatorischen Hegungen und Schranken. Der Feind wird zum Verbrecher. Pardon wird nicht gegeben.
Kein Pardon für Partisanen
Die eingrenzenden Regeln hatten aber nur für Kombattanten gegolten, denen man „Pardon“ gab, wenn sie sich ergaben, und auf Zivilisten schoß man nicht. Doch wehe, wenn diese sich in den Kampf einmischten und als Partisanen aus dem Hinterhalt schossen! Nachdem Frankreich uns 1870 den Krieg erklärt hatte, eroberten bayerische Truppen am 1. September 1870 das Dorf Bazeilles bei Sedan und wurden plötzlich von Zivilisten von hinten aus Häusern beschossen:
An Schonung war nicht zu denken. Die wütenden Bayern waren jetzt nicht minder erregt als ihre Gegner, welche unausgesetzt aus den Häusern schossen. Es blieb nichts übrig, als die Feinde, deren man unmöglich einzeln habhaft werden konnte, durch Vernichtung ihrer Schlupfwinkel unschädlich zu machen, und dazu war das Feuer ein geeignetes, schnellwirkendes Mittel. Mit dem Rufe: „Steckt das Nest in Brand!“ begannen die Soldaten das Feuer zu nähren, aus dessen Flammen ohne Unterlaß Schüsse fielen. In einer halben Stunde glich Bazeilles einem lodernden Scheiterhaufen, aus dem Geheul, Kreischen, Schüsse und Gepolter schallten. Wer mit Waffen in der Hand gefunden ward, fiel den wütenden Bayern als Opfer.
Georg Hiltl, Der Französische Krieg von 1870 und 1871, 1892, S.382.
Georg Hiltl (S.506) schrieb schon über die damals so genannten Franctireurs als „Partisanen“, die in französischen Provinzen einen eigenen „Guerillakrieg“ führten.
Von Bazeille 1870 nach Gaza 2023
Was Bazeilles 1870 im Kleinen war, wurde Gaza 2023 im Großen. Ohne Trennung von Kombattanten und Zivilisten kommt es regelmäßig zu regellosen Überfällen und Gemetzeln, wie wir sie auch aus sogenannten Kolonialkriegen des 19. Jahrhunderts kennen. Wer in Übersee landete, seine Fahne hißte und erklärte, das Land gehöre jetzt seiner Königin, sah sich damals keinen einheimischen Staaten gegenüber, sondern nur bunt bemalten Eingeborenen und ihren Stammeshäuptlingen. Hier galt nie Völkerrecht. Man metzelte sich – bei höchst ungleicher Bewaffnung – gegenseitig nieder, oft bis auf den letzten Mann.
Der Staat Israel hält den Gaza-Streifen seit Jahrzehnten völkerrechtswidrig besetzt, wie sich aus UN-Resolutionen ergibt. Die palästinensischen Eingeborenen dürfen keinen anerkannten Staat und damit kein Völkerrechtssubjekt bilden. Da sie keinen regulären Staat bilden dürfen und können, formieren sie sich als „Hamas“.
»In unserm Kriege lassen sich die bewaffnete Bevölkerung und der Kleinkrieg der Partisanen auf der einen Seite, und die Rote Armee auf der andern Seite mit den beiden Armen eines Mannes vergleichen; oder, um es praktischer auszudrücken: Die Moral der Bevölkerung ist die Moral der Nation in Waffen.“
Mao Tse Tung, Strategie des Partisanenkrieges gegen die japanische Invasion, 1938, in: Ausgewählte Schriften in vier Bänden, Berlin, Dietz Verlag, 1957.
Terroristische Hamas und andere Palästinenser unterscheiden muß man nur, wenn man Treueschwüre nach Tel Aviv schickt und gleichzeitig Millionenhilfen an die Palästinenser überweist.
Ein Kolonialkrieg
Der palästinensische Überfall auf israelisches Gebiet und ihr barbarisches Massaker an Zivilisten ist so abscheulich, wie Eingeborenenüberfälle auf koloniale Siedlungen es früher schon waren. Warum machen Eingeborene so scheußliche Sachen? Warum nur erfreuen sie sich nicht friedlich des Friedens ihrer Eroberer?
Auch Israels Gegenschlag trägt alle Merkmale früherer Kolonialkriege. Wer seinem Feind aber die Anerkennung, die Ehre und den Kampf auf Augenhöhe verweigert, macht ihn zum Verbrecher. Die Wendung vom europäischen Völkerrecht des eingehegten Krieges zum diskriminierenden Kriegsbegriff seit dem 20. Jahrhunderts machte aus Feinden Verbrecher. Kein Wunder, wenn sie sich dann auch wie Verbrecher benehmen. Umso leichter kann man den nicht anerkannten Feind als Terroristen bezeichnen. Mit Terroristen kann man keinen Frieden schließen.
Wer seinen Feind zum Verbrecher erklärt, ihn dazu macht und so behandelt, macht jeden Friedensschluß unmöglich. Er wird seinen Feind im Kampf zu besiegen suchen, ihm gegebenenfalls als Verbrecher den Prozeß machen und seine Führer aufhängen. Solange sich der siegreiche Feind über den Unterlegenen zum Richter aufschwingen kann, ist dies das unausweichliche Ende und die Konsequenz solcher Kriege.
Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung.
Carl Schmitt, Theorie des Partisanen, 1963, S.56.
Absolut ist eine Feindschaft, wenn schon die bloße, selbstdefinierte Existenz der einen Seite diejenige der anderen ausschließt. Wenn ein Volk meint, einen gottgegebenen alleinigen Anspruch auf ein bestimmtes gelobtes Land zu haben, während die dort Wohnenden ihr Heimatrecht verteidigen und die Religion der anderen als abscheuliches Blasphemie verurteilen, ist die Feindschaft absolut.
Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt
Unsere Sprache und Begriffswelt des gehegten Krieges im zivilisierten Europa ist dem „Einbruch der absoluten Feindschaft nicht gewachsen“ (Carl Schmitt a.a.O. S.58). Wir setzen heute voraus, dem Gegner gleiches Recht wie uns selbst zuzubilligen. Barbarisch waren manche unserer eigenen Kriege wie Kreuzzüge und andere Religionskriege, solange man in Europa noch in den geistigen Traditionen des orientalischen Monotheismus verfangen war, der nichts anderes außer sich duldete. Im Orient selbst lebt man immer noch in seiner geistigen Tradition.
Um diese zu überwinden, müßten beide Seiten ihre selbstgewählte Identität aufgeben. Dazu ist aber niemand bereit. Den geistigen Selbstbehauptungswillen gegen einen Feind aufzugeben, stellt die eigene Existenz infrage. Völker, die man dazu bringen konnte, vergehen vor der Geschichte wie Spreu im Wind.
Sich selbst infrage zu stellen, malt schon ex negativo den Feind an die Wand:
Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.
Carl Schmitt, Theorie des Partisanen, 1963, S.87.
Er trägt unsere Züge, die wir nicht haben wollen und lebt aus dem Gegenteil unserer gewünschten Seinsweise. Hier liegt die tiefste Ursache wechselseitigen Hasses.
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